Seinen Tagebüchern stellt der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij eine Reihe idyllisch anmutender Schwarz-Weiß Fotographien aus seiner Kindheit voran. Viele von ihnen glaubt man als Filmbilder nachgestellt aus seinem Film „Der Spiegel“ zu kennen. Und man versteht, dass die Schönheit der erinnerten Bilder nicht deckungsgleich sein muss mit dem in ihnen erfahrenen Leben, deren Abbilder sie dennoch sind.
Die Differenz, die durch dieses Denken der Bilder geht, beschreibt Tarkowskij als Martyrolog, so der Titel seiner zweibändigen Tagbücher1. Sie beginnen in den 1970er Jahren und schildern die konkreten Lebensumstände seines künstlerischen Schaffens als dissidenter Film-Bild-Künstler in der Sowjetunion und darüber hinaus. Die Tagebücher kleiden einen Riss in Worte, der sich in den Filmbildern, wie in „Der Spiegel“, verbirgt. Hatte doch Tarkowskij den Gedanken erwogen, diesen Film selbst Martyrolog zu nennen.
Man mag in Tarkowskijs Zuneigung zu diesem Titel eine Überhöhung seines eigenen, russisch geprägten Künstler-Daseins erblicken. Doch seine Entscheidung, diesen Titel für die ungeschönte bruchstückhafte Aufzeichnung seines Lebens zu verwenden, spricht eine andere Sprache. Sie sucht eben den Martyr eines Lebens2, was in Tarkowskijs Fall ein künstlerisches Leben der Bilder war.
Damit erinnert Tarkowskij an eine bis heute lebendige orthodoxe Tradition, die einen überraschenden Gegenwartsbezug enthält. Er besteht darin, Martyres auch im heutigen Leben zu bezeichnen und sie Bild werden zu lassen3. Dies ist jüngst in der sogenannten Heiligsprechung von Alexander Schmorell geschehen, dem Mitbegründer der deutschen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl. Schmorell wird seit Februar 2012 Alexander von München genannt.
Doch es gibt einen direkten biographischen Schnittpunkt Tarkowskijs mit dieser Tradition, der zugleich einen Blick in den Abgrund der orthodoxen Kirchen heute gewährt.
Ende der 40er Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ging Andrei Tarkowskij in Moskau auf die Schule für Jungen Nr. 554. Einer seiner Mitschüler hieß Alexander Wladimirowitsch Men. Über ihn würde später folgendes geschrieben werden:
„Wie jeden Sonntag so war Vater Alexander Men auch an diesem 9. September 1990 sehr früh am Morgen aufgestanden, um in der ca. 30 Kilometer entfernten, kleinen Dorfkirche, an der er seit 20 Jahren Dienst tat, die Messe zu lesen. Seine ihn ständig begleitende Aktentasche in der Hand, stieß er die Gartentüre auf und machte sich schnell auf den Weg zum Bahnhof, um den Regionalzug in Richtung Moskau zu erreichen. Im morgendlichen Nebel nahm der den schmalen Weg zwischen den Bäumen, die bereits begannen, ihr Blätter zu verlieren. Ein langer Tag lag vor ihm: Beichtgespräche, die Messe, Taufen, Begräbnisse. Er wäre sicherlich bis zum Beginn des Nachmittags beschäftigt gewesen. Dann hätte er sich eilends auf den Weg nach Moskau gemacht, um dort im Kulturhaus der Wolchonka-Straße den zweiten Teil eines Vortrages über das Christentum zu halten.
Seit die sowjetischen Behörden im Jahr 1988 ihre Religionspolitik geändert hatten, widmete sich Vater Alexander in aller Öffentlichkeit jener Beschäftigung, der er bis zu diesem Zeitpunkt quasi im Untergrund nachgegangen war: der Verkündigung des Evangeliums an seine Mitbürger. Am 1. September hatte er den dreißigsten Jahrestag seiner Priesterweihe gefeiert. Aber jetzt hatte er keinen Augenblick mehr Ruhe. Es war eine einzigartige Situation in der Sowjetunion: nachdem die Gläubigen siebzig Jahre lag zum Schweigen verurteilt waren, wurde er, der von einem ganzen Team von KGB-Agenten überwacht worden war, in Schulen, Institute, Klubs und Kulturhäuser eingeladen. An Ostern hatte er 60 Erwachsene getauft. Er verausgabte sich rückhaltlos, sodass seine Angehörigen sich Sorgen machten; er aber blieb gegenüber ihren Ratschlägen taub. In letzter Zeit schien er manchmal verängstigt zu sein, etwas was bei ihm völlig ungewöhnlich war. Er liebte die Natur sehr, und diese paar Minuten Fußweg am Wald entlang, während die herbstlichen Farben unter den Sonnenstrahlen spielten, würden ihm ohne Zweifel Kraft geben. Die Landschaft schien nichts Besonderes an sich zu haben, und doch war es ein besonderer Ort.
Nur wenige Kilometer von hier erhob sich das Dreifaltigkeitskloster des hl. Sergij, ein wichtiges Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte der hl. Sergij dort, mitten im Wald eine Einsiedelei gegründet, von der ein sehr großer geistlicher Impuls auf Russland ausging. Russland hatte damals schwer unter der Invasion der mongolischen Krieger des Dschingis Kahn gelitten. Andrej Rubljow war dort Mönch und hatte für dieses Kloster die berühmte Ikone der hl. Dreifaltigkeit gemalt.4 Der hl. Sergij war in einem benachbarten Dorf geboren worden und hatte oft den Weg benutzt, auf dem Vater Alexander nun ging…
Als seine Frau, die zu Hause geblieben war, wenig später das Fenster öffnete, vernahm sie ein Stöhnen. Sie stürzte in den Garten und erkannte hinter dem Tor einen Mann ausgestreckt auf der Erde in einer riesigen Blutlache. Sie kehrte ins Hausinnere zurück, rief den Notdienst, dann die Polizei. Als sie wieder herauskam, war die Ambulanz eingetroffen. ‚Warum tun sie nichts?‘, fragte sie die Ärzte. ‚Zu spät.‘ Schließlich näherte sie sich; alles war voller Blut. Sie wagte nicht, hinzuschauen. Dann kam ihr die Frage: ‚Ist mein Mann gut angekommen?‘ Irgendeiner fragte zurück: ‚Hatte er einen grauen Hut getragen?‘ Man hatte den Hut gefunden, mit einem großen Loch.
Wenig später meldeten sich Zeugen, die Vater Alexander begegnet waren: er hatte auf seinem Weg kehrtgemacht. War in Richtung seines Hauses gegangen, blutüberströmt. Aber er hatte ihre Hilfe nicht angenommen. Er müsste vor dem Tor zusammengebrochen sein, fast völlig verblutet, eine breite Wunde am Hinterkopf, ganz offensichtlich verursacht durch einen Axthieb. Die Umstände des Verbrechens, die Genauigkeit, mit der der Schlag durchgeführt worden war, lassen daran denken, dass der Mord sorgfältig durch professionelle Killer geplant und ausgeführt worden war.“5
Mit Sorge hatte Alexander Men Fremdenfeindlichkeit und einen reaktionären Nationalismus in seinem Lande wachsen sehen, an denen Vertreter der Kirchen nicht unbeteiligt waren. So nimmt es nicht Wunder, dass die Untersuchungen zu den Umständen seines Todes nach zwei Jahren erfolglos eingestellt wurden.
Alexander Men‘s Suche nach einem schöpferischen Christentum orthodoxer Tradition hatte andere Wege eingeschlagen. Kleine Schwester Claire Latour berichtet; sie lebte seit 1974 verborgen in Moskau:
„Ich bin 1974 in Moskau angekommen und in Anbetracht der politischen Situation konnte ich während eines ganzen Jahres mit niemandem in Kontakt treten, mit keinem Russen, keiner Russin. Denn es wäre für sie viel zu gefährlich gewesen. Die Person, für die ich arbeitete, hatte mir aufgetragen, dass ich mich während mindestens einem Jahr absolut stille verhalten und niemanden treffen sollte, um sicher zu sein, dass ich nicht beschattet würde und man auf diese Weise keine Menschen ins Gefängnis beförderte. Das war leider die Praxis.
Und plötzlich, Ende 1975, zwischen den beiden Weihnachten, also dem katholischen und dem orthodoxen Weihnachten, fragte mich meine Chefin, ob ich nicht zu einer jungen Mutter gehen und ihr Milch vorbeibringen könnte, denn sie hätte nichts, um ihr Neugeborenes zu ernähren. Ich machte mich auf den Weg. Es war für mich ein außergewöhnliches Ereignis, nach einem Jahr zum ersten Mal russische Menschen und nun gleich eine russische Familie zu treffen. Während ich dort war, kam Vater Alexander, um ihr Haus zu segnen. Also, ich glaubte, dass das nur ein Wunder sein konnte.
Als ich ihn sah – ich kann nicht genau erklären warum – hatte ich den Eindruck, dass ich ihm sagen könnte, wer ich wirklich war. Bis dahin hatte ich es niemals irgendjemandem gesagt, das war ganz geheim. Ich folgte also meinem Gefühl, sagte ihm, dass ich Kleine Schwester Jesu sei. Zu meiner Überraschung fragte er: ‚Von Charles de Foucauld? Den kenne ich.‘ Und ich fragte mich, wie es 1975 möglich war, dass er, weit von allem, ohne Informationen, ohne ausländisches Radio, mit den Schwierigkeiten, Bücher zu bekommen, trotzdem von unserer geheimen Fraternität gehört haben konnte.
Er lud mich auf der Stelle ein, am selben Abend zu ihm zu einem ökumenischen Treffen zu kommen. Ich war etwas beschämt, denn die Leute, bei denen ich arbeitete, würden sich Sorgen machen wegen eines solchen Ausfluges. Ich betete. Was sollte ich tun? Dann sagte ich mir, dass es unmöglich sei, eine derartige Gelegenheit verstreichen zu lassen.
Und am Abend kamen einige junge Leute zusammen, wenigstens ein Katholik, zwei Protestanten und einige Orthodoxe. Und Vater Alexander erklärte, wie er die Einheit der Christen sah. Das war für mich eine Offenbarung. Es war als ob er sich selbst als Teil einer universellen Gemeinschaft der Christen sah…“6
Die ökumenische Weite des Denkens von Alexander Men gefiel längst nicht allen. Und er war sich dessen bewusst, dass er „bei starkem Gegenwind“7 arbeitete. Schließlich sei es „nicht leicht, jemanden zu verstehen, der über Jahre eng am Gängelband geführt worden ist“8. Hinzu kommt, dass Men immer bekannter wurde, im Fernsehen sprach und schließlich Ostern 1990 in einfachem weißen Priestergewand vor tausenden jungen Menschen im Moskauer Olympiastadion.
Die ersten Schriften von Alexander Men erschienen im Untergrund, dem sogenannten Samisdat. Später gelangten Manuskripte nach Belgien und erschienen im Westen. Zuerst ging es Alexander Men darum, der hanebüchenen sowjetischen Propaganda in Sachen Christentum zu widersprechen. Seit Juri Gagarins Statement nach seinem Weltraumflug, es gäbe Gott nicht, sonst hätte er ihn ja gesehen, waren in der Sowjetunion antireligiösem Spott und Hohn Tür und Tor geöffnet.
Sein Buch „Der Menschensohn“, pseudonym 1969 in Belgien erschienen, ist vor diesem Hintergrund zu lesen, wenngleich es sich nicht auf diese Auseinandersetzung beschränkt. Men schreibt auch als Seelsorger. Darauf verweist der Herausgeber der ersten deutschen Ausgabe dieses Textes von 2006, der Jesuitenpater Klaus Mertes. Außerdem will Men aber auch „die erzwungene Isolierung der Gläubigen und der Suchenden in der Sowjetunion von den Entwicklungen der Theologie ihrer Zeit“9 aufbrechen. Dies bedeutet zum einen die durch die Oktoberrevolution abgebrochene Rezeption der russischen Religionsphilosophie in der Sowjetunion und zum anderen die Verbindung zur historischen-kritischen Exegese des Westens.
Alexander Men: „Erfolgreicher (als die Liberale Theologie des Westens) erscheint in dieser Beziehung die Erfahrung der russischen Religionsphilosophen zu sein. Vertreter dieser Strömungen fanden für die christliche Verkündigung eine neue Sprache, die dem Denken der Neuzeit weit mehr entsprach.“10
Men‘s Denken ist „die Frucht dieser neuen religiösen Sprache Russlands. Er verarbeitet Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese, ohne dabei eine mystische Einheitsschau auf Christus aufzugeben“11.
Dabei ist das Denken von Alexander Men immer getragen von einer spirituellen Praxis. Als unsichtbare- oder Katakomben-Kirche verstanden sich zahlreiche Gebetsgruppen, die er in der Weise eines Starez betreute. Diese waren ständig von Repressalien der Polizei und anderer stattlicher Überwachungsapparate bedroht. Das Besondere dieser informellen Gruppen bestand jedoch in ihrer ökumenischen Ausrichtung und in ihrer internationalen Offenheit.
Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reisten Kleine Schwestern Jesu oder auch Brüder der Communauté de Taizé12 diskret (also als Touristinnen oder Privatbesucher, je nachdem) in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang und so auch in die Sowjetunion.
Die Gründerin der Kleinen Schwestern Jesu, Sr. Magdeleine, fuhr mit ihrem Etoile filante (Sternschnuppe) genannten Kleinbus bereits im Juli 1964 zum ersten Mal in die UdSSR. Nach ihrer Rückkehr berichtete sie ihren Schwestern:
„Ausgenommen die 54 Kirchen von Moskau und 10 von Leningrad fanden wir keine offenen Kirchen. Die katholische Ostkirche hat besonders unter der Verfolgung gelitten, es gibt sie nicht mehr. (…) Aber wir wollen doch das Gute sehen, das es auch gibt. In den geöffneten Kirchen drängen sich die Gläubigen, und die Kreuze glänzen von den Kuppeln.
Wir hatten auch Kontakt mit Parteimitgliedern, nämlich den Reiseführern. Sie sind gehalten, bei den Touristen Propaganda zu betreiben, aber wenn sie in unseren Wagen kommen und sich zwischen zwei Ordensfrauen hinsetzen, die ein gut sichtbares Kreuz auf dem Kleid tragen, rechter Hand die Ikone der Muttergottes von Wladimir und über meinem Bett ein Kreuz mit der Muttergottes von Korsun, verstehen sie recht gut, dass sie nicht viel Erfolg bei uns haben werden. Und sie werden sehr freundlich, wenn wir ihnen erklären: ‚Ja, wir sind katholische Ordensfrauen, aber ein wenig anders als die üblichen. Wir geben keinen Unterricht in unserer Religion, wir verdienen unseren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit in der Fabrik oder anderswo. Vor allem setzen wir uns für den Frieden und die Liebe zu allen Menschen ein, wir sehnen uns danach, dass alle Menschen der Erde sich verstehen und dass die Kriege aufhören.‘“13
Vierzehn Jahre später begegnet Kleine Schwester Magdeleine Alexander Men. Eine tiefe Freundschaft wird beide verbinden. „Er ermöglicht ihr den Kontakt zu Gebetsgruppen, die an verschiedenen Stellen Moskaus insgeheim von ihm geleitet werden. Es sind bewegende Momente. Obwohl es gefährlich ist, versammeln sich die jungen Neubekehrten in ihrem Hunger nach geistlichem Leben in großer Regelmäßigkeit.“14
Im Sommer 1989 begrüßt er sie bei einer erneuten Reise mit den Worten: „Sie sind oft gekommen, als wir noch im Unglück waren, und wir kennen Sie seit langem als unsere Freundin. Und jetzt ist Ihr Besuch noch wichtiger für uns, da wir dabei sind, das Haus unserer Kirche wiederherzustellen. Dazu brauchen wir Kräfte des Geistes. Gewiss: Gott ist es, der die Kraft dazu gibt. Aber unser Glaube ist Begegnung zwischen Gott und Mensch. Beide arbeiten zusammen. Deshalb sind Sie heute hier wie der Geist, der über Grenzen hinwegfliegt.“15
Im Herbst des Jahres 1989 stirbt Kleine Schwester Magdeleine. Zwischen ihrem Tod und Begräbnis fällt die Berliner Mauer. Alexander Men durfte inzwischen zum ersten Mal aus der UdSSR ausreisen und trifft, ohne es zu ahnen, zu ihren Trauerfeierlichkeiten in Rom ein.16
Ob Andrej Tarkowskij von den Aktivitäten und Verbindungen seines einstigen Schulkameraden etwas gewusst hat, ist fraglich. Es gibt dafür keine Hinweise, wenngleich gemeinsame Interessen und auch die Lektüre derselben Autoren, z.B. Pawel Florenskij, beide hätte verbunden haben können.
Nachweislich hatte Tarkowskij in seinem Pariser Exil Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche in Frankreich und wurde dort auf dem russischen Friedhof Sainte-Geneviève-des-Bois begraben. Der französische orthodoxe Theologe Olivier Clement erinnert sich an eine Begegnung mit dem großen Filmregisseur, bei der Tarkowskij vermächtnishaft sagte: „Es ist die Herausforderung unserer Zeit, den Menschen als eine offene Frage zu belassen, damit er nicht davon ausgeht, alles sei einfach, alles sei schon erklärt oder erklärbar.“17
Es ist eben der Riss, der sich in den Bildern der Erinnerung versteckt, der das Leben selbst für etwas Kommendes öffnet.
Olivier Clément, der selbst einem „durch und durch atheistischen Milieu“17 entstammte und erst als Erwachsener getauft wurde, sieht in Tarkowskijs offener Frage das Geheimnis des Lebens verborgen. Das Geheimnis des Lebens ist für ihn das Geheimnis der Auferstehung. Die Liturgie müsse den Menschen helfen, dies „allmählich zu entziffern, und es ist gut, wenn sie dies behutsam tut und dabei nicht zu viele Worte macht“19.