Gibt es etwas Gemeinsames zwischen der Begegnung einer Frau mit einem Engel und der Begegnung einer Frau mit einem Bären? Für die Frauen hatte die Begegnung jeweils umstürzende Folgen, die jedoch unterschiedlicher kaum sein können.
Einen Sinn macht die Eingangsfrage allerdings nur, wenn man die Begegnungen nicht vertikal hierarchisch, also in Seins-Kategorien von oben nach unten, sondern horizontal denkt. Dazu müssen wir „unsere Aufmerksamkeit auf das richten was entsteht (se crée) bei der Begegnung zwischen Welten, die a priori in unermesslichem Maß voneinander abweichen“1.
Die Anthropologin Nastassja Martin studiert Lebensweise und Kosmologie der indigenen Ewenen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Auf einer Bergtour begegnet sie einem Bären. Es kommt zum Kampf, doch es gelingt ihr, das Tier in die Flucht zu schlagen. Schwer verletzt überlebt sie und reflektiert das Ereignis:
„Ich versuche, das Wasser zu sehen, das unter dem Eis fließt, was wegen der dicken Eisdecke schwierig ist, und zerbreche mir weiter den Kopf. Ich sage mir: Ein Bär und eine Frau, das ist als Ereignis zu viel. Zu viel, um nicht sofort in das eine oder andere Denksystem eingegliedert zu werden; zu viel, um nicht von einem bestimmten Diskurs instrumentalisiert oder zumindest darin integriert zu werden. Das Ereignis muss transformiert werden, um akzeptabel zu sein, es muss seinerseits gegessen und dann verdaut werden, um Sinn zu ergeben. Warum? Weil es zu schrecklich ist, um es sich vorzustellen, weil es den Rahmen des Begreifbaren, ja allen Rahmen übersteigt, sogar die der ewenischen Jäger in Kamtschatka.
Da dem so ist, da ich zwangsläufig in den Rahmen der einen oder der anderen gezwängt werde wie ein Dreieck in einen Kreis oder ein Kreis in ein Quadrat, muss ich es schaffen, um nicht zu dem Quadrat oder Kreis zu werden, der ich nicht bin, mein Urteil auszusetzen. Denn der Bär ist für mich erschienen; und ich für ihn. Es ist schwer den Sinn so in der Schwebe zu lassen. Sich zu sagen: Ich weiß nicht alles über diese Begegnung; ich lasse die hypothetischen Desiderate der Welt der Bären beiseite; ich mache aus der Ungewissheit ein Geschenk. Ich muss also um die Orte, Wesen und Ereignisse herum nachdenken, die von einem Schatten geschützt und mit einer Leere umgeben sind, am Kreuzpunkt dieser Erfahrungsknoten, die sich durch Beziehungsschemata nicht erfassen, nicht strukturieren lassen. Das ist unsere gegenwärtige Situation, die des Bären und meine eigene. Zu einem Brennpunkt geworden zu sein, von dem alle Welt spricht, den aber niemand begreift. Genau deswegen stolpere ich auf Schritt und Tritt über vereinfachende, ja triviale Interpretationen, so liebevoll sie auch sein mögen: weil wir einer semantischen Leere gegenüberstehen, einem Außerhalb des Bildfelds, das für alle Kollektive gilt und ihnen Angst macht. Daher der Eifer, mit dem von allen Seiten Etikette verteilt werden, um zu definieren, einzugrenzen, dem Ereignis eine Form zu geben. Es nicht im Ungewissen zu belassen, bedeutet, es zu normalisieren, um es um jeden Preis in das menschliche Kollektiv hineinzupressen. Und doch. Der Bär und ich zeugen von Liminalität, und auch wenn das furchterregend ist, wird niemand daran etwas ändern. Hinter mir knacken Äste, es kommt jemand. Ich beschließe: Sollen sie sagen, was sie wollen. Ich werde in diesem Niemandsland verweilen.“2
Das Gemeinsame der Begegnung zwischen einer Frau und einem Bären und der Begegnung zwischen einer Frau und einem Engel besteht darin, dass beide Begegnungen „zwischenartliche Begegnungen“3 sind. Als solche sind sie Ereignisse, also „Dinge, die passieren“4, die größer sind als die „Summe ihrer Teile“5, aus denen sie zusammengesetzt sind. Sie bilden „kein sich im Innern selbstreproduzierendes System“ und „finden stets im Rahmen von Kontingenz und Zeit statt“.6 Um derartige Begegnungen zu verstehen, „muss das ganze Verhältnis für jede Größenordnung neu gedacht werden“7.
Hierzu muss das Denken selbst „zum Ort einer möglichen Begegnung“ werden. Es muss also seine „imaginativen Kapazitäten“ dazu nutzen, in eine „Realität einzudringen, die nicht seine eigene ist, deren vollständige Gültigkeit es aber anerkennt“.8 In einem solchen „heuristischen Prozedere“, setzte sich das Denken zeitweilig an den Platz des anderen, „um sich die Frage der Welt aus seiner Perspektive zu stellen“, immer dessen eingedenk, dass das Denken des anderen „uns in jedem Moment überwältigen könnte“.9
Auf der Basis dieser Art „geteilten und durch alle teilbaren“10 Denkens formt sich eine gemeinsame Welt im Sinne einer „Symbiopoiesis“11 (aus Begegnung entstanden) in Abgrenzung zu einer „Autopoiesis“12 (aus Durchsetzung eines Einzelnen und seines Systems entstanden).
Es bleibt das Risiko, dass es zum Kampf kommt.13
Noch im Krankenhaus erhält die Frau, die dem Bären begegnet ist, Besuch von einem mit ihr befreundeten ewenischen Bildhauer. „Wir sehen einander schweigend an, die Tür geht zu, wir sind allein. Er sagt: Nastja, hast du dem Bären vergeben? Wieder Schweigen. Du musst dem Bären vergeben. Ich antworte nicht gleich, ich weiss, dass ich keine Wahl habe, und doch möchte ich mich wenigstens einmal auflehnen, gegen das Schicksal, gegen das, was uns bindet, gegen alles, worauf man zugeht und was unausweichlich ist, ich möchte ihm entgegenschreien, dass ich ihn am liebsten getötet, aus meinem System hinauskatapultiert hätte, und wie sehr ich es ihm übelnehme, dass er mich derart entstellt hat. Aber ich tue es nicht, ich sage nichts. Ich atme tief durch. Ja, ich habe dem Bären vergeben. Andrej senkt den Kopf und schaut zu Boden, seine langen schwarzen Haare fallen auf die linke Seite seines Gesichts, er bleibt eine Weile so, zwei Tränen tropfen auf den Fliesenboden. Er blickt wieder auf, seine Augen sind schwarz, nass, glänzend, durchdringend. Er wollte dich nicht töten, er wollte dich zeichnen. Du bist jetzt miedka, die zwischen den Welten lebt.“14
In diesem Sinne ist Maria gratia plena, voll der Gnade, holdselige (Lk 1, 28), die zwischen den Welten lebt.
P.S. Nach diesem Entwurf zu einer Naturgeschichte der Verkündigung Mariens, kann jedoch zumindest ein Unterschied nicht unerwähnt bleiben. Im Unterschied zu der Begegnung zwischen einem Bären und einer Frau, von der die Frau selbst berichtet und reflektiert, ist die Begegnung zwischen einem Engel und einer Frau, um die es hier geht, von einem Erzähler geschildert. Bei dieser Schilderung handelt es sich also nicht direkt um ein Performativ des Denkens ausgelöst durch eine Begegnung, die die Beteiligten wechselseitig verwandelt. Von einer solchen Begegnung müsste Maria selbst berichten.15 Und schon sind wir bei einem Dilemma im Verhältnis von Theologie und Naturgeschichte, auf das sich stärker zu besinnen Bruno Latour vorschlägt (vgl. in diesem Blog den Eintrag vom 12. 12. 2022), ja worin er die Zukunft des Christentums vermutet (oder sollte man sagen: erhofft?). Das Dilemma besteht darin, dass die Theologie in ihrem Verhältnis zur Natur nicht nur die der westlichen Moderne geschuldete Trennung zwischen Natur und Kultur übernimmt, sondern diese noch verstärkt, indem sie Kultur auf Schrift und Sprache begrenzt.16 Das Dilemma beschreibt eine der größten Herausforderungen an die heutige Theologie, wenn sie sich nicht nur selbst verwalten will. Ob ihre Vertreter die Herausforderung annehmen? Die Nachbardisziplinen haben jedenfalls schon einiges vorbereitet, mit dem man sich auseinander- oder/und auch zusammensetzen könnte.