Martin Luther hat den deutschen Sprachimpuls entschlossen wieder aufgegriffen. – Erich Auerbach sah in der Praxis des sermo humilis ein pfingstliches Wirken1. – Und ganz in diesem pfingstlichen Sinne hat Luther dem deutschen sermo humilis mit seiner Bibelübersetzung zu einem überwältigenden Durchbruch verholfen. Luthers Bezugnahme auf Augustinus von Hippo kann auch dabei kaum überschätzt werden.
Seine Mitgliedschaft im Augustinerorden der strengen Observanz war nicht nur seiner legendären Angst vor Gewittern geschuldet, sondern hing direkt mit seiner zentralen theologischen Frage nach dem gnädigen Gott zusammen. „[Ich glaube], dass es heute besser ist, Mönch zu werden als es in den letzten zweihundert Jahren gewesen ist; bisher sind die Mönche dem Kreuz aus dem Weg gegangen, und das Mönchsein hat ihnen Ruhm eingetragen. Jetzt dagegen ist es allmählich soweit, dass sie den Menschen, selbst wenn sie gut sind, um ihres törichten Narrengewandes willen missfallen. Denn ein Mönch sein heißt eigentlich der Welt verhasst und ein Narr sein.“2 So klingt es wie ein Echo in seinen Vorlesungen zum Römerbrief von 1516/17.
Immer wieder bezieht sich Martin Luther direkt auf Schriften Augustins.3 In seinen Leseexemplaren hinterließ er zahlreiche Anmerkungen. Geradezu eifersüchtig drängt Luther eine stärkere Gewichtung des Hieronymus, wie sie von Erasmus von Rotterdam vorgebracht wurde, zurück.4 In seiner erbittert geführten Auseinandersetzung mit Erasmus um die Frage nach dem freien Willen – ein geradezu theatralischer Akt der Wiederaufführung – ist unschwer das Vorbild des Streites zwischen Augustinus und Pelagius wieder zu erkennen. In seinen Verurteilungen ähnlich verheerend wie Augustin, ritt Luther gänzlich unkritisch auch dessen Attacken erneut.5 Luthers Standpunkt war klar: „die Christenheit [hat]nach den Aposteln keinen besseren Lehrer denn Augustin gefunden“6.
So stark die Einflüsse von Augustin und ihre Übersteigerungen bei Luther auch sind – seine Impulse wurden auch bei den Augustiner-Eremiten durchaus begrüßt – schließlich kam es dennoch zum Bruch. „Um seines Eigensten willen musste er sich gegen sein Eigenstes wenden, woraus nur eine christliche Tragödie abgründigster Art hervorgehen konnte, die nicht mit einem Hinweis auf die geschichtliche Situation allein zu erklären ist. Man bewältigt das innere Verständnis dieses erschütternden Dramas nur durch analoge Überlegungen, wie sie Paulus im Römerbrief über die Zweige anstellt, die ausgebrochen sind, damit andere hineingepfropft wurden.“7
Der Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg bezeichnet Martin Luther denn auch als „de[n] verlorene[n] Sohn Augustins“8 und porträtiert Martin Luther in seinem „Buch der Ketzer“ unter der Überschrift „Der protestantische Protest“9. Was zunächst befremdlich klingt, eröffnet den schöpferischen Abgrund der Reformation. Walter Nigg stellt seinem Buch folgendes Diktum des Augustinus voran: „Glaubt doch nicht, dass Ketzereien durch ein paar hergelaufene kleine Seelen entstehen könnten. Nur große Menschen haben Ketzereien hervorgebracht.“10 Und er beschreibt Martin Luther (wie alle anderen) als Ketzer auf der biblischen Folie Jesu. Ihn erhebt er zum biblischen „Urbild aller Ketzer“ und er beschreibt „den Prozess vor dem Hohen Rat und Pilatus“ als „Prototypen aller Ketzerprozesse“.11 Wenn Walter Nigg Jesus zum Ketzer stilisiert, so tut er dies, um deutlich zu machen, dass im modernen Menschen ein Ketzer gesehen werden kann und weil er daraus folgerte, dass für den modernen Menschen von diesem „religiösen Typos“ eine besondere Anziehung ausgeht. „Auflehnung gegen die Autorität der Kirche und Forderungen nach Autonomie haben zur Freiheit geführt. Diese neuzeitliche Freiheit zeigt jedoch im 20. Jahrhundert ihre dunkle Seite. Zu ihrer Dialektik gehört der Nihilismus, den Nietzsche und Dostojewski am Horizont des 20. Jahrhunderts dämmern sahen.“12
Geschichtsschreibung als Ketzergeschichte ist bei Walter Nigg jedoch von der Hoffnung einer „Heimkehr des verlorenen Sohnes“13 grundiert. „Heimkehr ist aber keine Rückkehr. Das Kind verlässt sein Elternhaus, es macht seine eigenen Erfahrungen. Wenn es eines Tages heimkehrt, beginnt eine neue Geschichte. Der Gang in die Ferne und Fremde aber hat nicht nur das Kind gewandelt, sondern auch den Vater. Das Geheimnis des Ketzers verweist auf das Geheimnis der Inkarnation. Der Sohn ging vom Vater in die Fremde, wurde Mensch, litt und starb am Kreuz. Diese Erfahrung bringt er bei seiner Heimkehr mit. Seine Auferstehung ist keine Aufhebung des Leidensweges, sondern ihre Verwandlung in Gottes Herrlichkeit. Als sichtbares Zeichen dieser Verwandlung trägt der Auferstandene die Stigmata. Auch Niggs heimkehrender Ketzer bleibt von den Wundmalen des Nihilismus gezeichnet. […] Die Heimkehr des Ketzers ist nicht das Vergangene, sondern die Kirche der Zukunft“. Sie ist „kein Zurück zu den alten Bekenntnissen […]Die alte Welt ist vergangen. Die Apokalypse hat stattgefunden. […] Daher wird die Kirche der Zukunft eine Kirche des Herzens sein. Sie wird nicht mehr auf eine traditionelle Form der Vermittlung des Glaubens von Generation zu Generation bauen können, sondern allein auf die persönliche Erfahrung. Der moderne Mensch will Gottes Gegenwart in seinem eigenen Herzen erfahren.“14 Wenn Martin Luther als Ketzer aber auch der verlorene Sohn des Augustinus ist, so heißt das vor Allem, dass ihm „nach der Parabel Jesu der Vater mit doppelter Liebe begegnet“.15
Seine brennende Frage nach dem gnädigen Gott führte Martin Luther in den Augustinerorden hinein und schließlich wieder heraus. Seine zentrale, erleuchtende Erfahrung lässt bei allem Gedröhn einen „zarten, innigen Luther“16 erkennen. Beim Lesen des ersten Kapitels des Römerbriefes wurde ihm intuitiv klar, dass „Paulus mit diesen Worten eine schenkende und nicht eine strafende Gerechtigkeit meinte, eine Gerechtigkeit, welche den Menschen durch Christus verliehen wird, und die in keiner Weise von der Gestalt des Erlösers abgetrennt werden kann. Durch Christus fühlte sich der innerlich bebende Mönch befreit, wenn er auch stets mehr an den paulinischen Briefen als an den Evangelien orientiert blieb. Nach seiner Erleuchtung kam sich Luther als ein Mensch vor, dem sich die Pforten des Paradieses wieder aufgetan hatten. Mit dem gleichen Ingrimm, mit dem er vorher das Wort der ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, nahm er nun mit seiner mönchischen Herzensglut begierig das übersüße Wort in sich auf. Nicht der Mensch findet Gott, sondern umgekehrt, Gott findet den Menschen […]17.
Als Getriebener hatte Martin Luther gelesen, immer wieder qualvoll gelesen, ist gegen den Text angerannt wie gegen eine Wand, um schließlich zu der Erkenntnis dessen zu gelangen, was Lesen ist: „Es kann niemand Gott noch Gottes Wort recht verstehen, er hab‘s denn unmittelbar von dem Heiligen Geist. Niemand kann’s aber von dem Heiligen Geist haben, er erfahr‘ es, versuch’s und empfinde es denn; und in derselben Erfahrung lehret der Heilige Geist als in seiner eigenen Schule, außer welcher wird nichts gelernet denn nur bloße Worte und Geschwätz.“18 Lesen heißt hier zu aller erst experimentieren, Erfahrungen machen, sich Veränderung aussetzen, sich beschenken lassen, sich selbst unterwandern.
„Ein neues Gottesverständnis war ihm geschenkt worden, wodurch er als anderer Mensch nun auch alle Dinge anders ansah als vorher, und das ihn die Angst von dem Ewigen grundsätzlich überwinden ließ. Dieses christozentrische Erlebnis vom gerechtfertigten Sünder bildet den Mittelpunkt von Luthers Religiosität, von dem sowohl die Theologie des Kreuzes als die Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes nur Ausdeutungen sind.“19 In den Ausdeutungen seiner umstürzenden Erfahrung, dass nicht der Mensch Gott, sondern Gott den Menschen findet, blieb Martin Luther allerdings in seinem Weltbild befangen.
Als Martin, der damals noch Luder hieß, 1483/84 im kursächsischen Mansfeld geboren wurde, unterbreitete Christoph Kolumbus dem portugiesischen König Johann II. seine Schifffahrtspläne. Sie führten wenig später zur Entdeckung Amerikas (1492). Diese Weltentdeckung ließ Martin Luther Zeit seines Lebens „seltsam unberührt“20. Dabei hatte, bizarrer Weise, Kolumbus zur Vorbereitung seiner Weltentdeckungsfahrt die Schriften eines Autors studiert, dessen Sentenzen Luther, einer Äußerung Melanchthons folgend, fast auswendig kannte: Pierre d’Ailly.21 Aber wenn Luther von den „Grenzen der Zivilisation“ sprach, meinte er Wittenberg.
Auf der größten Reise seines Lebens, 1510/11, zeigte sich Bruder Martinus so gut wie unbeeindruckt von durchwanderten Landschaften wie den Alpen oder der Großstadt Rom, dem Ziel seiner Reise.22 Er nahm seine Umgebung kaum wahr. Als Luther in Rom war, waren in der Sixtinischen Kapelle die „Schöpfungs- und Prophetenfresken der Decke“ bereits vollendet, „die Bilder der Vorfahren Christi auf den Lünetten der Fensterbögen“ waren „in Arbeit“23. Wie hätte sich das theologische Denken Martin Luthers entwickelt, hätte er Michelangelo ein wenig beim Malen zugesehen?
Aber „[g]erade Luthers Provinzialität, seine im Vergleich zu Leonardo und Machiavelli unleugbare Befangenheit in einer durch die spätmittelalterliche Entwicklung selbst gesprengte ‚Mittelalterlichkeit‘ ermöglichten ihm seine breite Wirkung. Leonardo und Machiavelli hatten auf das Missverhältnis von Vernunft und Weltlauf, wie es sich gegen 1520 abzeichnete, radikaler und origineller geantwortet. Indem Luther den anthropologischen Pessimismus, der sich jetzt nahelegte, theologisierte, verfestigte er die Zerrissenheit, die ohnehin vorhanden war“24.
Seine Befangenheit zeigte Luther ganz als Sohn Augustins und dessen fatalem Hang zur Verdunklung. Theologische Stichworte wie Erbsündenlehre und doppelte Prädestination waren mit radikalen Folgen für einen negativen Blick auf den Menschen und die Welt verbunden. Luther übernahm diese Seite des Augustinus nicht nur, sondern spitzte sie zu. Luthers unbarmherziges Pathos wird deutlich, wenn man ihn „einmal nicht als den Entdecker einer zeitlosen christlichen Wahrheit, sondern als Rezipienten der spätmittelalterlichen Schulwissenschaft“ und im Vergleich mit seinen Zeitgenossen liest. „Luthers Texte sind Dokumente der Zeit um 1520. Sie erhalten ihr historisches Profil“, wenn wir sie lesen neben Schriften von Erasmus, Pomponazzi ‚ Machiavelli‚ Thomas Morus und anderen.25
Stellt man in diesem Sinne einmal Martin Luthers Schrift „Von weltlicher Überkeit“ (1523) der „Utopia“ (1516) von Thomas Morus gegenüber, so fällt von den ersten Zeilen an neben Fragen der Sprache, des Stils usw. sofort auf, dass der eine Autor vom Schreibtisch aus anzeigt, wie die Dinge zu verstehen sind26 und der andere Autor darüber berichtet, wie er reisend jemandem begegnet, der ihm faszinierend vom Leben auf einer fernen Insel berichtet, die er seinerseits bereist hat.27 Der eine schreibt im Geiste des Belehrens. Der andere aus dem Geist der Neugierde und handelt doch sehr differenziert auch „Von den Obrigkeiten“28 und den Religionen als friedlicher Grundierung einer Gesellschaft: „jeder dürfe der Religion anhängen, die ihm beliebe; jedoch noch andere Leute zu seiner Religion bekehren dürfe er nur in der Weise versuchen, dass er seine Meinung freundlich und ohne Anmaßung auf Vernunftgründe aufbaue, nicht indem er die anderen Anschauungen mit Heftigkeit herabsetze.“29
Legt man Nicolò Machiavellis Schrift „Discorsi“ (1531) neben Martin Luthers „Wider die mörderischen Rotten der Bauern“ (1525), so fällt vor allem auf, dass der eine Autor kühl und polemisch analysiert, auch darin seine Gegner nicht schont, und der andere aber Teufel und Schwefel auf seine Gegner herab ruft und schonungslos dazu aufruft, sie dahin zu morden und zu meucheln wie räudige Hunde30. Die genannten Autoren, der eine aus England, der andere Italiener, waren wohl Zeitgenossen Luthers, haben einander jedoch nicht wahrgenommen.
Martin Luther und Erasmus von Rotterdam haben einander nicht nur wahrgenommen, sie haben einander geschätzt. Luther konnte auf die philologische Arbeit des Erasmus aufbauen für seine bahnbrechende Übersetzung des Neuen Testamentes. Luthers Ausfälle in der Bauernschrift ließen Erasmus jedoch bei aller grundsätzlichen Sympathie für Luthers Anliegen entsetzt zurückweichen. Ein historischer Streit entbrannte zwischen beiden Autoren um den freien Willen (ganz im Schatten von Augustin). Sieht man von diesem Kampfplatz31 einmal ab und liest Luthers „Vorlesung über den Römerbrief“ (1515/16) neben Erasmus‘ „Lob der Torheit“ (1508) so sticht Luthers Begeisterung über seine zentrale Erkenntnis der Gerechtigkeit aus Gnade bei der Lektüre des paulinischen Römerbriefes heraus. Über die Torheit dieser Erkenntnis (Röm 1,22) verliert er kein kommentierendes Wort32. Erasmus hingegen bemerkt bei seiner Betrachtung der paulinischen Torheit, wie sehr Paulus in der Torheit dann doch immer wieder mehr sein wollte als die anderen Apostel.33 Der Witz an der Torheit wäre eine gerüttelte Portion Torheit auch gegen sich selbst. Das war auch Luthers Sache nicht34. Luther hatte Recht. Seine Lesart der Schrift war die richtige.35 Wer dem nicht folgte, dem rief er Hölle und Teufel auf den Pelz.
Luthers ihm wiederum nicht bekannter Zeitgenosse Pietro Pomponazzi schloss nun Hölle und Teufel philosophisch nach dem Ökonomieprinzip schlicht aus. Man brauche sie nicht. Sie erklärten nichts und wenn sie zurzeit noch etwas erklären sollten, so könne man getrost darauf hoffen, dass man später bessere Argumente ohne sie finden würde.36 Ein Vergleich zwischen Luthers philosophischer Argumentation im ersten Teil der „Heidelberger Thesen“ (1518)37 und Pomponazzis „Über die Unsterblichkeit der Seele“ (1516) lässt immer wieder Nähe und Ferne beider Autoren, oft unerwartet schnell aufeinander folgend erkennen.
Ein weiterer Zeitgenosse Martin Luthers war Leonardo da Vinci. Sein Mailänder Abendmahl, die Porträts Johannis des Täufers, Anna Selbdritt und der Felsgrottenmadonna zeugen von gewagten und dabei treu erfinderischen Schriftlektüren.38
Alle genannten Zeitgenossen Luthers hatten den Mut eigenständig zu denken. Sie sparten nicht an Kritik der Kirche gegenüber und waren überzeugt, dass Veränderungen dringend nötig waren. Machiavelli wies ausdrücklich auf die „Notwendigkeit ihrer Erneuerung“39 und nimmt dabei Bezug auf die franziskanische Reformation der Kirche. Diese entging Martin Luther ganz. Er hatte nur noch Spott für Minderbrüder übrig.40
Dabei könnte gerade eine mindere Lesart seiner Schriften einen Martin Luther vorstellen, der behutsam aber deutlich aus Augustinus Schatten hervortritt. Was bedeutet eine mindere Lesart, eine lecture mineure? Sie bedeutet zuerst eine Variabilität von Perspektivwechseln.
Ein weiterer Persepktivwechsel wird deutlich im Vergleich Martin Luthers mit einem weiteren seiner Zeitgenossen, mit Ignatius von Loyola. Beide sind Reformatoren; wie es nicht nur bereits vor Luther deutliche reformatorische Ansätze in der Kirche gegeben hat, gab es auch zu seiner Zeit weitere Reformationen. Dies zu denken setzt jedoch voraus, den geographischen Rahmen zu erweitern und vor allem nicht vorrangig (konfessionelle) Unterschiede herauszuarbeiten, sondern auf „strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten“41 zu konzentrieren.
Dann lässt sich folgendes feststellen: „ – Dem solus-Christus-Prinzip der Reformation entspricht die jesuitische Jesustheologie, wobei Luther eine Wort-Christus-, Loyola aber eine Gestalt-Jesus-Theologie entwarf. – Dem sola-scriptura, der Bibellektüre, die allein den Glauben eröffnet, entspricht bei Loyola die seine reformerische Wende herbeiführende Lektüre mittelalterlicher Erbauungsbücher, vor allem der „Vita Christi“ des Ludolf von Sachsen und der „Imitatio Christi“, des Thomas a Kempis. Allerdings ist auch der Unterschied unübersehbar: Für den Spanier gibt es neben der Bibel weitere Schriftoffenbarungen Christi und er setzt auf die Christusvision, die aus dem Hören des Wortes folgt; Luther und Calvin dagegen verharren beim bloßen Hören des Wortes. – Selbst für das sola-fide / Allein-durch-den Glauben-Prinzip, das stets als das Proprium des Protestantismus galt, gibt es bei Loyola eine Entsprechung. Ausgangspunkt ist jeweils die Bibelstelle Römer 10, Vers 17: „fides ex auditu“, der Glaube entsteht durch das Hören. Luther baute darauf seine reformatorische Glaubens- und Worttheologie auf, Ignatius die in den Gründungsformula des Jesuitenordens festgeschriebene Verpflichtung auf das „verbi ministerium“, auf den Dienst am Wort, durch den der Glaube gefestigt und verbreitet werden muss. Unterschiedlich ist wieder die Explikation dieses theologischen Axioms: Für Luther nicht anders als für Calvin ist der durch das Hören des Wortes ausgelöste Glaube berechtigt, ja verpflichtet, die konkrete Ordnung der Kirche auf ihre evangelische Rechtmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Ignatius dagegen bindet den evangelischen Glauben unlösbar an den Gehorsam gegenüber der Kirche, an die oboedientia ecclesiae.“42 Schließlich sind die skizzierten Unterschiede in der Perspektive der Ähnlichkeit schlicht unterschiedliche Strategien von Reformation, also Katechismus und Exerzitien, Lehre und Erfahrung.
Perspektivwechsel wie den in Richtung Ähnlichkeiten kann man allerdings nur realisieren, wenn man die in Texten angelegten Herrschaftsstrategien und -konstruktionen – und das heißt bei Luther auch, und vielleicht vor allem, sein Gepolter, sein rhetorisches Gebell43 – unterwandert. Hierzu müsste man einen Autor, „der als groß angesehen“ wird, wie in unserem Falle Martin Luther, „als kleinen Autoren behandeln“, um seine „Möglichkeiten des Werdens wieder zu entdecken“. Denn zu Größe wird man erhoben: „aus einem Denken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine Kultur, aus einem Ereignis eine Geschichte“. Auf diese Weise „täuscht man Anerkennung und Bewunderung vor“, in Wirklichkeit „normiert man“ jedoch den Autor, unterwirft ihn einer Norm. Es geht also darum, sich diesem Vorgang der Normierung durch „Geschichtsschreiberei“ zu widersetzen. „Operation für Operation“ in einem geradezu chirurgischen Sinne kann man sich den Vorgang des Großmachens auch umgekehrt vorstellen: „depotenzieren (französisch minorer), ein von Mathematikern angewandter Begriff“. Man müsste also dem jeweiligen Autor entsprechend eine Methode des Minorisierens entwickeln, um die „Prozesse des Werdens gegen die Geschichte freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ mit dem Ziel, „jene aktive minoritäre Kraft wieder zu finden.“44
Vor diesem Hintergrund hat Martin Luther ausdrücklich Anlass gegeben, ihn als kleinen Autor zu lesen. Und vieles spricht dafür, ihm als solchem sogar den Vorzug zu geben. Als Erfinder des sermo humilis in Deutscher Sprache mit seiner Übersetzung zunächst des Neuen Testamentes, dann der gesamten Bibel, stellt sich Luther als kleiner Autor vor: er übersetzte die Bibel, mit dem Ziel, dass alle, jede und jeder die Heilige Schrift lesen könne. Dann hat er selbst minoritäre, ausdrücklich kleine Texte verfasst. Hier liegt der Zugang zu einem Luther minor versteckt.
1522 verfasste er „Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle“. Darin ermutigte Luther die Leser und Leserinnen des Evangeliums, und darunter versteht er namentlich sowohl die vier Evangelien als auch die Briefe des Petrus und des Paulus und die Apostelgeschichte, die allesamt auf verschiedene Arten und Weisen das eine Evangelium enthalten. „‘Evangelium‘ ist und soll nichts anderes sein als eine Rede von Christus.“45 Dabei ist Luther folgendes als Voraussetzung jeglicher Lektüre, Lehre und Tun unabdingbar: „Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus zuvor, ehe du ihn dir zum Vorbild fassest, aufnehmest und erkennest als eine Gabe und Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei. So dass du, wenn du ihm zu siehest oder –hörest, dass er etwas tut oder leidet, nicht zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und Leiden dein, worauf du dich nicht weniger verlassen kannst, als hättest du es getan, ja als wärest du derselbe Christus.“46 Der Charakter einer Gabe oder eines Geschenks setzt sich fort in der Art und Weise, wie Christus lehrt: „Er treibt und zwingt niemand, ja, er lehret auch so sanft, dass er mehr aufmuntert als gebietet, er fängt an und sagt: ‚Selig sind die Armen‘, ‚Selig sind die Sanftmütigen‘ (Lukas 6,20; Matthäus 5,5) usw.“47 Wenn Christus auf diese Weise zu einem kommt und Glauben wirkt: „Danach ist‘s not, dass du dir ein Vorbild daraus machest und deinem Nächsten auch so helfest und tust, damit du auch ihm zur Gabe und zum Vorbild gegeben seiest.“48 In dieser Folge erweist sich nicht nur der mindere Autor, sondern auch der minderer Leser: „O wollte Gott, dass bei den Christen doch das lautere Evangelium bekannt wäre, und diese meine Arbeit nur möglichst bald nutzlos und überflüssig würde…“49
Unwesentlich später findet sich ein Zeugnis minoritären Handelns von Martin Luther, das zugleich auf eine weitere minoritäre Form dieses Autors aufmerksam macht, die Choraldichtungen und –nachdichtungen. In Ihnen kommen sowohl eine ökumenische Offenheit, als auch eine liturgische Verbundenheit mit den Traditionen der alten Kirche und der lateinischen Tradition zum Ausdruck. Die minorisierende Vorgehensweise Luthers wird an folgendem Beispiel exemplarisch deutlich:
„Im Jahre 1523 wurde in Wittenberg das Fronleichnamsfest abgeschafft als Inbegriff jener mittelalterlichen Fehlentwicklung der Eucharistie, die Luther mit seiner Gottesdienstreform auf die biblischen Ursprünge hin korrigieren wollte. Aus dem damit hinfällig gewordenen liturgischen Textkorpus sollte aber ein kleines Stück festgehalten werden, das nicht zum offiziellen lateinischen Bestand gehörte, sich ihm im Laufe des 15. Jh. aber angegliedert hatte, das Lied ‚Gott sei gelobet und gebenedeiet‘ [EG 214]. Luther wollte es festhalten als Abendmahlslied. Als Gesang zur oder nach der Austeilung kommt ihm in seinen gottesdienstlichen Schriften erstrangige Bedeutung zu. Luther greift hier ein volkssprachliches Kirchenlied des späten Mittelalters auf, redigiert es und dichtet es weiter, und aus der Art dieser poetischen Rezeption lässt sich das besondere Abendmahlsprofil, das er dem abgeschafften Fest entgegensetzen wollte, aufs beste ablesen. Das Lied, dessen älteste Quellen aus der 2. Hälfte des 14. Jh. stammen, ist ursprünglich – dafür spricht auch die musikalische Verwandtschaft – ein volkssprachlicher Leis (d.h. mit dem ‚Kyrieleis‘ schließender Gesang) zur Fronleichnamssequenz ‚Lauda Sion salvatorem‘. Während die Sequenz vom Chor gesungen wurde, sang das Volk zwischen den lateinischen Strophen den refrainartigen Leis. Handschriften des 14. und 15. Jh. belegen den Text des Liedes aber auch schon losgelöst von seiner Stammsequenz als volkssprachliches Kommunionslied. Die Fassung, von der Luther ausgeht, besteht aus zwei Leisen, d.h. mit dem Refrain ‚Kyrieleis‘ schließenden Strophen. […] Luther verbindet die beiden Leisen zu einer Strophe, der ersten eines neuen Abendmahlsliedes. Bei dieser Bearbeitung entfallen drei Verse der mittelalterlichen Vorlage, die dem Reformator aus formalen (‚numeri et musicae ratio‘) wie auch aus theologischen Gründen überflüssig zu sein schienen. […]50 Ohne diesen missliebigen Zusatz ist ihm das mittelalterliche Lied jedoch das reinste Zeugnis wahren Abendmahlsverständnisses. […] Was somit schon in dem alten – ein wenig gereinigten – Volksgesang steht, wird nun von Luther aus dem überkommenen Fronleichnamskontext herausgezogen und mit zwei eigenen Strophen für den Gebrauch im Abendmahlsgottesdienst weitergedichtet. 1524 erscheint es erstmals in J. Walthers Gesangbüchlein und erobert sich in der Folgezeit einen festen Platz in den Evangelischen Gesangbüchern.“ 51
Zu Luthers minoritären Schriften gehört natürlich, wie der Name schon sagt, „Der kleine Katechismus“ von 1529. Diese mit Illustrationen von Lucas Cranach52 herausgebrachte Bekenntnis- und Lehrschrift Martin Luthers ist lange Zeit ein regelrechtes Volksbuch gewesen. Als strategische Schrift der lutherischen Reformation ging sie als Lehrschrift stark in die Nähe von zuerst auf Erfahrung angelegten Schriften wie den Exerzitien der ignatianischen Reformation.
Namentlich Luthers Morgen- und Abendsegen waren ganz auf den alltäglichen Vollzug angelegt. In ihnen suchte Luther seine klösterlichen Erfahrungen in die Praxis des Alltags der einfachen Gemeindeglieder zu übertragen. In so manchem Kirchenlied finden sich direkte Spuren des Kleinen Katechismus und den dazugehörigen Morgen- und Abendsegen.53
1524 hatte Martin Luther „das Nunc dimittis, den Lobgesang des greisen Simeon (Lk 2,29-32) in ein jedem Christenmenschen zugedachtes Sterbelied umgedichtet“54. Hieß es im biblischen Text: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“, so ergänzt Luther im Liedtext „das ‚in Fried‘ durch ‚Freud‘“: In Fried und Freud fahr ich dahin. Das ist „typisch lutherische Glaubensfreudezutat“.55
In dieser Zutat – „zart und innig“ – könnte der Schlüssel zu Luthers Überwindung des Augustinismus liegen. Sie fiele zusammen mit einer lecture mineure des „großen“ Reformators.