Bei Ihrer Lektüre der Enzyklika „Laudato si‘“ ist die französische Philosophin Émilie Hache vor allem erstaunt darüber, wie wenig sich die Kirche darin auch selbst in Frage stellt. Der Text konstatiert den alarmierenden Zustand der Welt, der gekennzeichnet ist vom raubtierhaften und extrem egoistisch Verhalten des Menschen ihr gegenüber und beschreibt die „menschliche Wurzel der ökologischen Krise“.

Zugleich erweckt der Text aber den Anschein, dass, wenn wir nur den Heiligen Schriften folgten und insbesondere dem Heiligen Franziskus, würde doch alles gut funktionieren. Die Enzyklika gibt vor, sich für die kulturellen, ethischen und spirituellen Gründe der aktuellen ökologischen Krise zu interessieren, dennoch hinterfragt auf keiner Zeile dieses Textes die Kirche ihre eigenen Fundamente, Dogmen oder ihre weltliche Geschichte in Bezug auf die Verantwortung, die auch sie für diese Klimakrise trägt. Der Text spricht von einer spirituellen Herausforderung (défit spirituel) aber wo ist in diesem Text die Herausforderung für die Kirche (défit pour l’église)?[1]

Und Émilie Hache fragt direkt: „Ist die Kirche in der Lage, sich im Namen dieser lebendigen Welt, die sie geliebt nennt und erlösen will, radikal in Frage zu stellen?“

Die Richtung, in der eine solche Infragestellung sich bewegen müsste, schlägt Émilie Hache vor. Sie besteht darin, „die Geschichte in ihrem Verhältnis zur Gegenwart erneut zu lesen (relire) und zwar mit besonderem Augenmerk auf die das westliche Denken strukturierende Verbindung der lebendigen Welt mit der Welt der Frauen bzw. denen, die man beiseitegelassen hat: das Feminine, das Andere“[2].

Zum Ausgangspunkt ihrer Lektüre nimmt Émilie Hache die These des amerikanischen Historikers Lynn White über die historischen Wurzeln unserer ökologischen Krise: „Der Sieg des Christentums über das Heidentum war die große psychische Revolution unserer kulturellen Geschichte, d.h. auch eine der tiefen Gründe für unsere aktuelle ökologische Mutation“.[3]   

Diese breit diskutierte These liest Émilie Hache zusammen mit dem, was Jan Assmann die „mosaische Unterscheidung“[4] nennt. Diese Unterscheidung beschreibt den „totalen Bruch zwischen den Monotheismen einerseits und den Religionen, die ihnen vorangegangen sind, andererseits“, dabei die Unmöglichkeit einschließend, Verbindungen oder Vergleichen zwischen ihren herzustellen.

Stellt man diese Verbindungen jedoch her, wird der Bruch in seinen Auswirkungen noch deutlicher. In einem derartigen historischen Kontext erscheint Jesus als „die letzte Theophanie oder als der letzte Avatar der Figur des kleinen Gottes, der stirbt und aufersteht“. Als solcher steht er in einer langen Reihe von Namen und Orten über tausende Jahre: Dumuzi in Mesopotamien, Osiris im alten Ägypten oder, viel später, Dionysos in Griechenland. Die Figur des „kleinen Gottes, der stirbt und aufersteht“ ist weitverbreitet zurzeit Jesu, vor allem in den Mysterienkultuen, wie sie in der griechisch-römischen Welt verbreitet waren und die bis zu ihrem Verbot im Jahre 391 parallel zum Christentum bestanden.     

Diese Götter, die sterben und auferstehen, sind alle von einer Göttin geboren oder werden einer Göttin als Sohn, Geliebter oder beides zugeordnet, wie Isis Osiris, Dumuzi Innana und Dionysos Ariadne. Der neue Gott jedoch, diese letzte Figur oder der letzte Avatar ist charakterisiert durch seine Zugehörigkeit zu „einem anderen Gott, nicht aber eine Göttin, sondern einem anderen Gott, der sein Vater ist“. Die Art der Zugehörigkeit zu seinem Vater ist nicht das Geborensein – das wäre die Zugehörigkeit zur Mutter – sondern das Gezeugtsein (engendré).[5]

So bezeichnet die „mosaische Unterscheidung“ nicht nur den absoluten Bruch zwischen Polytheismus und Monotheismus und damit auch den Bruch zwischen einer Vielfalt von Kulten und dem „Kult eines Gottes, der behauptet, der einzige und der wahre Gott zu sein und der allen anderen den Krieg erklärt“. Die „mosaische Unterscheidung“ markiert auch das „Verschwinden dessen, was man die heilige Weiblichkeit nennen kann (féminin sacrée)“. Die neuen Götter des Monotheismus sind „Götter ohne Göttin“. Fortan ist in den Texten dieser neuen Religion immerfort die Rede vom falschen und vom wahren Gott. Vom Verschwinden oder Verwerfen (rejet) des weiblichen Teils des Göttlichen ist keine Rede mehr, außer viel später in boshaftem Sinne wie z.B. bei Tertullian. 

Bis heute klinge die Assoziation von göttlich und weiblich etwas befremdlich, um nicht zu sagen lächerlich. Es sei, als ob die Göttinnen „auf der anderen Seite der mosaischen Unterscheidung geblieben sind“. Göttin kann nicht das gleiche bedeuten wie Gott, sie ist kleiner, zweitrangig. „Die einzige Art und Weise ihr Gewicht zu verleihen bestünde darin sie zu „monotheisieren“ (monothéister), was allerdings historisch falsch wäre.

Eine Spur so eines weiblichen Monotheismus findet Émilie Hache auch bei Jan Assman. In seinem Buch „Moses der Ägypter“ findet sich folgende Stelle aus dem „Goldenen Esel“ von Apuleios von Madaura: „Himmelskönigin – ob du nun die allnährende Ceres bist, die Urmutter der Früchte …, oder die himmlische Venus, die … im meerumfluteten Heiligtum von Paphos verehrt wird, oder die Schwester des Phoebus, die … jetzt im herrlichen Tempel von Ephesos angebetet wird, oder die dreigestaltige Proserpina, die … in mannigfachem Kult besänftigt wird … unter welchem Namen, nach welchem Ritus , in welcher Gestalt man auch immer dich anrufen muss, hilf mir nur in meinem äußersten Elend…!“[6]   

Und damit kommen wir zur zentralen Hypothese von Émilie Haches Vortrag: „Mir scheint, dass das Verschwinden (disparition), oder genauer die Eliminierung des Weiblichen (fèminin) und damit der Verlust (l’abandon) der Erde verbunden sind mit dem Verschwinden der Generation (génération).“

Zur Erklärung kommt Hache nochmals auf die Figur des kleinen Gottes, der stirbt und aufersteht, dessen letzter Avatar Jesus ist, zurück und bemerkt, dass er auch das Ende dieser Tradition bedeutet. Jesus ist nicht nur der soundso viel-te kleine Gott der stirbt und aufersteht, sondern der, der die Welt nicht mehr mitnimmt (prendre en charge) in seinen Tod und Auferstehung.

„Das Opfer dieses neuen Gottes artikuliert sich nicht in oder nimmt nicht Teil an der Regeneration der Welt, sondern nur am Heil des Menschen. Darin besteht der Unterschied zum jährlichen Opfer der alten Götter, die starben und auferstanden, auf die Jesus folgt, und der Erinnerung (commémoration), der Erinnerung an ein Opfer, das ihm geschehen ist, ein für alle Mal; unsere Seelen sind ein für alle Mal gerettet durch das Opfer dieses Gottes durch seinen Tod am Kreuz. Und dieser Gott stirbt nicht jedes Jahr von neuem, um uns erneut zu retten, aber wir erinnern dieses Opfer, durch das wir gerettet worden sind.“

Die physische Erneuerung der Welt hingegen, die Wiederkehr der Vegetation – ihre Früchte, Blumen und Körner – in ihrer Verbindung zu Landwirtschaft und Tod, vollzieht sich in Tod und Auferstehung eines Gottes – im Mythos von Demeter und Persephone sogar einer Göttin – der halbjährlich in die Erde hinabsteigt; auf diese Weise stellt er eine Verbindung zwischen der unterirdischen Welt der Toten und der irdischen Welt mit dem Ziel ihrer Erneuerung her. Demgegenüber ist aber das Opfer des neuen Gottes eine Substitution: Gott – Jesus – stirbt nicht für die konkrete Erneuerung der Welt, sondern für unsere Sünden. Was in den agrarischen Kulten empirisch, geografisch verankert ist, wird hier abstrakt.[7]    

„Man versteht vielleicht vor diesem Hintergrund die Maßlosigkeit dieses Bruches besser, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich ein Gott als Gott der Lebenden und nicht als Gott der Toten ausruft; ein Gott, der proklamiert, die Toten ihre Toten begraben zu lassen; anders gesagt, ein Gott, der anstelle sich als Garanten einer Zirkulation zwischen den unterirdischen und den irdischen Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren Welten, zu zeigen, diese Verbindungen zerschlägt. Diese ökologische Veränderung konstituiert einen Bruch, der genauso entscheidend ist, wie der der mosaischen Unterscheidung. Sicher, die christliche Religion ist nicht die erste, die – man könnte sagen – die religiöse Frage in Richtung einer moralischen Frage erleichtert, aber die Religion dieses neuen Gottes amputiert definitiv dieser Welt eine ihrer Dimensionen und schließt die Tür von einem Teil der Welt, der bis dahin entscheidend bei ihrer Erneuerung (renouvellement) war.“   

Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen: „Der Tod und die Auferstehung des neuen Gottes haben keinerlei Verbindung mehr mit der Welt und ihrer Erneuerung (renouvellement); sie haben ebenso wenig eine Verbindung mit der Wiederkehr der Fruchtbarkeit (retour de la fécondité) der Erde, noch eine Verbindung mit der Welt der Toten, d.h. sie [Tod und Auferstehung] stellen keine Verbindung mehr her zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, zwischen den Lebenden und der Erde. Es ist nun nicht mehr in der paradoxalen und mysteriösen Verbindung zwischen Tod und Leben, in der man die Unsterblichkeit suchen muss, oder wenigstens die Erneuerung der Welt, sondern im ewigen Leben, in Jesus, d.h. im Glauben des auferstandenen Christus.“

Entsprechend ihrer Hypothese liest Émilie Hache hier nun aber „eine Verbindung zwischen dem Verschwinden des Weiblichen (féminin), der Generation und dem Verlust der Welt in der Christlichen Religion. Zum weiteren Verständnis erinnert sie daran, dass in einer landwirtschaftlichen Welt, die Erneuerung der Welt und die Generationenfolge, Fortpflanzung und Fruchtbarkeit eng miteinander verbunden waren. Das Bindeglied zwischen beiden ist die Sexualität.

„Die Sexualität hat hier nichts spezifisch Menschliches, sie ist überall in der Welt. Sie ist tiefgreifend Teil der Pflanzen- wie der Tierwelt. Sie ist auch Teil der unsichtbaren Welt der Göttinnen und Götter, denn auch sie sind fruchtbar. Anders gesagt, der heilige Wert (valeur sacré), der der Sexualität zuerkannt wurde, kommt aus ihrer kosmischen Kraft der Erneuerung der Erde.  Dieses Wissen scheint im Zentrum der Kulte gestanden zu haben […].“

Im Zuge der Bekämpfung dieser Mysterienkulte – insbesondere der Eleusinischen Mysterien – durch das Christentum wurden ihre Spuren getilgt. Wir wissen nur indirekt von ihnen, denn sie waren geheim und wenn jemand sie verriet, dann im Sinne ihrer Denunziation, wie wir es etwa bei Clemens von Alexandrien finden. „Allerdings tragen diese agraren Kulte zu der paradoxalen und mysteriösen Kontinuität des Lebens und des Todes bei und nehmen auch Teil an der Erneuerung der Welt, die sich in der Sexualität, der sexuellen Vereinigung realisiert und so die Fortpflanzungsaktivität der Erde in Gang hält; sie ist im Herzen dieser Mysterien also wie eine Kraft der Erneuerung des Lebens auf der Erde und ehrt die Mysterien der Generation.“

Schließlich besteht die anfangs gefragte Herausforderung für die Kirche (défit pour l’église) nach Émilie Hache also darin, eine theologische Antwort auf die Frage zu finden, wie es möglich ist, für das Weibliche und die Generation Platz zu schaffen (faire place). Eine derartige Veränderung scheint ihr durchaus möglich, denn die Geschichte der christlichen Theologie sei durchsetzt von der Erfindung neuer Dogmen und Rituale. 

Konkret macht Émilie Hache drei konkrete Vorschläge. Als erstes müsste man auf das Dogma von der Erbsünde verzichten. Dies Dogma beschränke das Heil auf den Menschen und substituiert die Erneuerung der Welt durch die Vergebung der Sünden. Es gäbe nur eine biblische Spur in der Genesis, die man auf akzeptable Weise neu interpretieren könne.

Der zweite Vorschlag ist „konfliktträchtig, weil er eine Teilung der Macht, und zwar der göttlichen Macht bedeutet“: Der Verzicht auf das trinitarische Dogma und damit der Verzicht auf die göttliche Einheit. Wenn man die Trinität als eine Form virtueller Dreigöttlichkeit (trithéisme virtuel) verstünde, könne man „ernsthaft Platz schaffen für die weibliche Dimension des Göttlichen“. Sei es in Form der Maria oder in Form des Heiligen Geistes oder in beiden, denn in einigen apokryphen Überlieferungen würde der Heilige Geist von Jesus als seine Mutter angesprochen. Hier liege bereits die verborgene weibliche Version des Christentums.

Der dritte Vorschlag betrifft das Sakrament der Eucharistie und fragt nach einer Öffnung des Elementes Blut zugunsten allen Blutes (tous les sangs). „Das Blut des neuen Bundes mit diesem neuen einzigen (unique) Gott ist einzig (uniquement) maskulin; es ist das Blut des Sohnes dieses Gottes, der das Blut aller Frauen am Beginn des Lebens ersetzt (remplace).“[8]

Hier stellt sich also die Frage, „ob die Kirche in der Lage wäre, von einer mit den Frauen rivalisierenden Religion (religion rivale des femmes) zu einer mit den Frauen freundschaftlichen Religion (une religion amie) werden könnte“.  Auf diese Weise wird sich zeigen, ob das „unerhörte Privileg der Frauen, Leben zu geben“ einen Platz findet und damit das Mysterium der Generation. Das Christentum könnte wiederfinden, was es verloren hat: Die Erde als das „gemeinsame Haus“ von dem die Enzyklika spricht.