Im Zusammenhang seiner Arbeiten zum mythischen Element in der Literatur und den damit verbundenen Nacherzählungen mythischer Stoffe, entwickelte Franz Fühmann den Plan, die Bibel für junge Leute zu adaptieren. Bereits 1972 erstellte er ein detailliertes Exposé, das sich in mehreren Überarbeitungsstufen in seinem Nachlass findet.
Im Mittelpunkt dieses Projektes stehen für Fühmann demnach die Geschichte der zwölf Stämme Israels: „Von der großen Wanderung ihres Erzvaters und dessen Siedlung in Kanaan über Urpatriarchentum, ägyptische Fron, Befreiung, Exodus, Treck und Landnahme bis zur Herausbildung, Blüte, Teilung und Zerstörung ihres ersten Staates.“1 Zu den Büchern der Geschichtsschreibung sollten „besonders prominente Texte wie z.B. die Schöpfungsgeschichte und einige Passagen aus dem Psalter hinzu kommen“2.
„Es sollen ausschließlich Geschichten erzählt werden, und zwar jeweils in sich abgeschlossene, bestimmten Personen zugeordnete, vorwiegend short-story-haft, nur ausnahmsweise novellistisch gebaute Geschichten, und zwar auch dann, wenn, was zwei- oder dreimal unumgänglich ist, überwiegend geschichts- oder religionsphilosophische Probleme behandelt werden. Nach Möglichkeit soll jeder zu einer Hauptperson gehörende Stoff in einer Geschichte zusammengefasst werden, eventuell mehrere Einzelgeschichten unter einem Obertitel. Das Wort ’Geschichte‘ soll unbedingt in jedem Titel vorkommen, also etwas: ‚Die Geschichte von Jona’s wunderbarer Meerfahrt‘.“3
Eine derartige Geschichte plante Fühmann auch als Vorwort mit dem Arbeitstitel „Die Geschichte von der Bibelschreibung“. „Er plante dabei eine Abhandlung zum Verständnis der Bibelmythologie über die Figur des mutmaßlichen Erzählers des Pentateuchs, dem ‚Jahvisten‘.“4
Das Nicht-Zustandekommen dieses immensen Erzählprojektes von Franz Fühmann kann man heute nur in einem Höchstmaß bedauern.
Als er zehn Jahre nach dem Erstellen des Exposés für den Neudruck der Erstausgabe von Luthers Bibelübersetzung im Reclam Verlag Leipzig einen Essay mit dem Titel: „Meine Bibel; Erfahrungen“5 verfasste, gewährt Fühmann nochmals wertvolle Einblicke in seine Lektüren der Bibel. Parallel zum Essay entstanden zwei Nacherzählungen, die im Nachlassband: „Das Ohr des Dionysios“6 veröffentlicht wurden.
Eine der beiden Erzählungen trägt den Titel: „Der Mund des Propheten“ und greift damit eines der für Franz Fühmann wichtigsten Themen der Bibel auf: „Diese Propheten, das ist was Grandioses! Die werden mich nicht mehr loslassen…“7
Die Propheten, die es wagten „gegen den Strom zu schwimmen“8, die nicht anders konnten, als in einem „Allegorieschaffen durch personalen Einsatz (in einem niederen Bereich würde man es heute ‚Performance‘ nennen)“9 sich ein- und zugleich auszusetzen.
„Was mich an den Propheten so fasziniert“, berichtete Fühmann in seinem Essay, „ist ihr grandioses Geschichtsphilosophem vom Sinngehalt der Niederlage als Möglichkeit, einer Wendung zum Andern, als radikales Neubeginnen, und zwar zuerst mit der eignen Person, als die Chance Lehren zu ziehen, als Selbstbesinnung auf ethische Werte, als Bruch mit verderblichen Traditionen, als beispielgebendes Menschentum.“10
Der Prophet, von dem Fühmann in seiner (Nach-) Erzählung „Der Mund des Propheten“ genauer berichtet, ist „Einer“, ein Mund. „Wir nennen ihn Micha. – Man kennt drei Propheten, die Micha hießen; der eine war als Zeder, der zweite als Dornstrauch, der dritte als schmaler Schatten gewachsen, und dennoch sind sie eine Person; Man kann sie auch Elias oder Jesaja nennen.“11
Und die Umstände, unter denen dieser Prophet Micha lebt und wirkt, könnten William Shakespeare inspiriert haben: „König Achab begehrte drei Dinge und wusste nicht, wie er sie erwürbe: den Weinberg in der Hauptstadt, der noch nicht sein war; den Thron des Südreichs, und den Mund des Propheten. […] Das Weib, das Achab freite, hieß Jezebel. […] Eines Tages, als der König am Fenster seines Palastes stand und auf den nahen Weinberg schaute, den einzigen in der Stadt, der ihm nicht gehörte, trat Jezebel an den König heran.“12
Und man ahnt es, die Furcht vor dem Mund des Propheten, die einzig Achab zurückhielt, sich seine Begehren zu erfüllen, wird von Jezebel durch gezielte Intrigen zerstreut. Dabei nutzt sie des Propheten Worte und versteht es doch gründlich miss. Als schließlich der Gang der Dinge anders verläuft, als sie geplant hatte, steht sie kurz vor ihrem eigenen Ende dem Propheten direkt gegenüber:
„‘Nun denn, du böser Mann‘, sagt sie, ‘so ist es gekommen, wie du es ersehnt hast. Jetzt koste Deine Genugtuung aus!‘ – Der Prophet sprach: ‘Ich habe es nicht ersehnt. Ich habe das Kommende verkündet und habe es mit Furcht getan. Nun ist es gekommen und geschieht.‘“13
Als glücklicher Zukunftswahrsager wiederum verwechselt fragt ihn sein Henker schließlich bei gezogenem Schwert: „‘Was nützt nun Dein Mund, du törichter Mann? Wem nützt deine Wahrheit? Nicht einmal für Dich konntest du sie nutzen. […] Was nutzt dein Wort?‘ ‚Das Wort wird bewahrt‘, sprach der Prophet […] – Der Henker schlug zu. – „14
Und Fühmann beschließt seine Erzählung: „Es gab ihrer drei, die Micha hießen, und drei Henker, die ihnen die Köpfe abschlugen, und es kamen andere nach den Geköpften, und andere werden nach denen kommen und sie sind immer der eine Mund. Und so lautet das Wort, das bewahrt worden ist […]: ‚Und es wird geschehen am Ende der Tage, und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spieße zu Winzermessern. Kein Volk wird wieder das andre ein Schwert aufheben, und keiner wird mehr die Kriegskunst lernen, und ein jeglicher wird ungestört unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen. Denn so hat‘s geredet der Mund des Herrn Zebaoth.“15
Die Lektorin von Franz Fühmann beim Rostocker Hinstorff Verlag, Ingrid Prignitz, bemerkt, dass die Idee zu dieser Nacherzählung bei Fühmann direkt nach der sogenannten „Berliner Begegnung zur Friedensförderung im Dezember 1981“ in der DDR entstand, zu der Schriftsteller aus Ost und West offiziell eingeladen wurden. In der Erzählung klingt somit die Debatte zu Friedensinitiativen in der DDR nach. Mehr noch: Mit seiner Erzählung „Der Mund des Propheten“ schlägt Fühmann „eine Brücke von den alttestamentarischen Propheten zu der staatsunabhängigen Friedensbewegung in der DDR“.
Der Prophet „als Verfechter der Wahrheit und des Rechts wird für den Dichter im moralischen und politischen Sinne zum Vorbild“. Er erkannte Prophetisches in den Bürgerrechtlern, und man kann es als ein offenes Geheimnis ansehen, „dass er sich selbst und etliche seiner Schriftstellerkollegen in der Rolle des Propheten“ sah.16
Im konkreten Bewahren dieses besonderen Wortes des Propheten Micha17 mag Franz Fühmann für einen Moment seine kindliche Lektüre der Bibel als „ein lebendiges Buch, vom Mond umgeblättert“18 wiedergefunden haben.