10 Miniaturen zum Thema Kirche, Medien und Digitalität
1 Urszenen
Die mediale Urszene des Christentums ist markiert vom leeren Grab, d.h.: vom fehlenden Körper. Die älteste Kunde von dieser Szene findet sich in einem Brief. Auferstehung ebenso wie ihr Glaube sind in einem „ursprünglichen Sinne medial „insofern sie selbst ein mediales Geschehen implizieren, das aber weniger mit dem Sehen als mit der Sprachlichkeit zu tun hat“. Schon der Brief bezieht sich auf eine Zeugenkette, verliert aber in Gestalt ihres Verfassers Paulus medientheoretisch ihren Halt in der Augenzeugenschaft.
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An der alten Formel des Ersten Korintherbriefes (1Kor 15,3b–5) ist zu bemerken, dass Sterben und Auferstehung durch ihre „streng parallele Konstruktion eng zusammengehören“. Als besonders auffällig markiert der Literaturwissenschaftler und Komparatist Daniel Weidner in seinem Beitrag zu dem Sammelband über „Medien der Auferstehung“ (2012) das, was in der Formel fehlt: „die Geschichte vom leeren Grab und die Erscheinung vor den Frauen“.
Diese Fehlstelle markiert einen Gattungs- und Medienwechsel: Was bei Paulus auf die Zeugen und Schriften verweist, ist in den Evangelien Jesus in den Mund gelegt. Damit stellt er selbst sein Tun, in diesem Fall seinen Tod, als „Erfüllung einer Ankündigung“ dar. Dass die Ankündigung in den Evangelien „nicht mehr aus der Schrift, sondern aus dem Mund Jesu kommt, hängt mit dem Wechsel der Gattung zusammen, denn hier handelt es sich nicht mehr um einen Brief, sondern um ein Evangelium“. Aus der guten Nachricht über Jesus Christus bei Paulus wird in den Erzählungen der Frauen die gute Nachricht von Jesus Christus selbst.
Medientheoretisch besteht die Auferstehung „also nicht darin, dass der Begrabene durch den Auferstandenen ersetzt wird, sondern dass der gesuchte Körper Christi durch eine ‚Mitteilung‘ ersetzt wird, nämlich durch die Botschaft der Auferstehung, die ihrerseits rekursiv auf eine Botschaft Christi verweist. Das Verschwinden des toten Körpers wird also nicht rückgängig gemacht, sondern durch einen Medienwechsel inszeniert, wobei sich der Wechsel von Tod zum Leben narrativ durch diese Ersetzung des toten Körpers durch das lebenspendende Wort vollzieht“.
2 Wort
Bei genauerem Hinsehen, ist auch die Vorgeschichte der Auferstehung, nämlich der Tod Jesu medial konnotiert. Wenn man die Frage danach stellt, warum Jesus gekreuzigt wurde, so gibt es eine kaum beachtete mediengeschichtliche Antwort: Jesus kannte und verbreitete die Vokale.
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Die hebräischen Texte, die wir Altes Testament zu nennen die Angewohnheit haben, hatten bis ins siebte Jahrhundert hinein die Besonderheit, nur als Konsonanten aufgeschrieben zu sein. So konnten nur diejenigen diese Texte lesen, die die zu den Konsonanten gehörenden und bedeutungsstiftenden Vokale kannten. Zuerst lernten Kinder diese von ihren Müttern, dann von den Vätern im Lehrhaus.
Jesus von Nazareth muss früh ins Lesen dieser Texte eingeführt worden sein. Bereits mit zwölf Jahren wurde seine Kenntnis auffällig (Lk 2.46) und er sprach in aller Offenheit auch außerhalb des Lehrhauses. „So bricht er das Monopol der Schriftgelehrten und setzt masoretisch-vokalische Zeichen für Huren, Samariter, Galiläer, Fischer – all die ‚Armen im Geiste‘, d.h. die Illiteraten“.
Der Erforscher von Aufschreibe-Systemen Friedrich Kittler erkennt darin den eigentlichen Grund für die Hinrichtung Jesu: „Arme Leute, die nur Aramäisch verstehen, können dank Jesus die Thora selber lesen, fast wie bei Luther. Deshalb hassen ihn die Schriftgelehrten und schlagen Jesus ans Kreuz.“
Von hier aus gesehen liest sich so manche Szene im Neuen Testament medientheoretisch neu. Wenn z.B. berichtet wird, dass der auferstandene Jesus auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24, 13-31) seinen Jüngern Moses und die Propheten auslegt und ihnen plötzlich aufgeht, wie die Schrift zu verstehen sei, so kommentiert Kittler fragend: „durch Eintragen der Vokale?“
Oder etwas später, auch nach der Kreuzigung, als die Jünger „meinten, den Geist zu schauen“ (Lk 24,37), dies kein „spukhaftes Phantom“ meint, „sondern die Stimme des Herrn, die sie nun erst in den aufgeschriebenen Stimmlauten alias Vokalen anschauen und als seine Botschaft erkennen, das heißt lesen können“.
P.S. Und Lesen heißt in diesem Zusammenhang selbst verständlich laut lesen! Lautlesen als Praxis der Auferstehung. Hinter diese Praxis zurückgefallen ist spätestens Ambrosius von Mailand im Jahre 384 und Augustinus hat ihn dabei ertappt (Conf. 6,3).
3 Bild
Unsere Kultur hat eine Fülle von technischen Erfindungen und Verfahren hervorgebracht und den menschlichen Körper aufgenommen, gerahmt, ausgeschnitten, zusammengesetzt und bearbeitet. Im Ergebnis erscheinen auf Projektionsflächen oder Bildschirmen aber „reine Lichtformen ohne körperlichen Rückhalt“. Die Körper fehlen und erscheinen als Fiktion.
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In seiner Genealogie der Bilder geht der französische Bild- und Kinotheoretiker Jean-Louis Schefer im Zusammenhang von Überlegungen zu „Kinematographien“ (1998) auf das Kreuz zurück: „Der Gott unserer Religion stirbt am Kreuz für den Loskauf der Menschheit. Er stirbt wie ein Mensch, im Körper eines Menschen, an einem Kreuz. […] Dieser Körper, der der Körper eines Menschen ist, repräsentiert nicht den Gott, der dieser Mensch war. Dieser Gott wird unsichtbar bleiben bis zum Ende der Zeiten. […] Das Wort oder der Logos hat also kein Porträt.“
Demzufolge ist ein Bild „nicht die Gegenwart, sondern die Beschwörung (évocation) des verschwundenen Subjekts, es erinnert (commémore) dieses Verschwinden. Der Sinn wird nicht erhalten (tenu) durch die Linienführung der Form. […] Gott hat die menschliche Form verlassen“.
Das Kreuz gleicht einem „gewaltigen Signalmast“, der „über die Welt aufgerichtet wurde“. Es zeigt an, dass „die Realität ihre Erscheinung verlassen“ hat. Damit ist ihr „Sinn zugleich verständlich und unverständlich“. Denn Gott hat die menschliche „Form bewohnt und sie auf diese Weise geheiligt“, aber er hat diese Form wieder verlassen. Der Schock dieses Verlassens, „diese Narbe machen zu einem guten Teil unsere Kunst und unsere Kultur aus“.
Wie eine medientheoretische Kaskade stellen sich nun immer wieder dieselben Fragen: „Ist Christus ein Mensch oder das Bild eines Menschen? Ist Christus in der Eucharistie real oder symbolisch? Ist ein gefilmter Mensch ein realer Mensch oder schon die Fiktion eines Menschen?“
4 Technik
Zu den zahlreichen technischen Erfindungen und Verfahren, die unsere Kultur hervorgebracht hat, zählen in unserem Zusammenhang insbesondere diejenigen, die zur Geschichte der Bilder, ihrer Übertragung, ihres Laufenlernens und ihrer Speicherung gehören. Darin sind sie zu allererst Teil der Entwicklungsgeschichte der Technik.
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Mit der Erfindung der Nipkowscheibe und der Überwindung ihrer Schwachstellen, etwa durch den Einsatz von Braun’schen Röhren bis hin zum Transistor, war der Grundstein dessen gelegt, was wir Fernsehen nennen. Wie der Medientheoretiker Friedrich Kittler in seinen Berliner Vorlesungen zu den „Optische[n] Medien (1999) beschreibt, bedeutet das aber, dass alle Informationen, insbesondere die Bilder in „Rechteckraster“ bzw. Einzelpunkte (Pixel) „zerhackt“ werden müssen, um zuerst als Morsecodes durch Kupferkabel, dann über Mittelwellenhörfunk und schließlich über UKW-Funk übertragen zu werden. Damit „war das hochtechnische Informationssystem Fernsehen endlich geschlossen“. Dies allerdings realhistorisch zu dem Preis, dass „nur noch Staaten auf technischem Kriegspfad und Weltkonzerne auf demselben Pfad“ diese „vollelektronische Fernsehsystemkette noch finanzieren“ konnten. Und mit der Folge, dass das Fernsehen zum „nationalen und innenpolitischen Medium“ ersten Ranges, namentlich „zum Zwecke der Volksaufklärung und Propaganda“ aufstieg bei gleichzeitiger und besonderer Bedeutung für „die Flugsicherung und den nationalen Luftschutz“.
Zieht man die weiteren Entwicklungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Betracht, die Kopplung von Fernseh- und Zieltechnik, die Verbindung von Fernsehen und Radar, rückgekoppelt mit einem Leitradar u.v.a.m., so kann man Folgendes feststellen: „Fernsehen aber ist als hochtechnisches Medium dasjenige unter den optischen Medien, das seinem eigenen Prinzip nach als Waffe fungiert.“ Seit der Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance besteht diese Verbindung als die zwischen optischen Medien und „Schusswaffen und ihrer Ballistik“. Fernsehen kann dabei „ohne jeden Reibungsverlust“ vom „Unterhaltungsmedium auf Kriegstechnik“ umgestellt werden und umgekehrt.
Mit der Entwicklung von Kompressionsverfahren und Glasfaserkabeln werden die entsprechenden Daten nun nicht mehr auf elektronischem Weg, sondern als optische Signale übertragbar und dies mit Lichtgeschwindigkeit. Licht wird zum „Transmissionsmedium von Licht“ und kommt auch allen anderen Signalen zugute, d.h. es kann auch „Akustiken, Text und Computerdaten“ transportieren. Auf diese Weise (durch HDTV und ISDN) fällt das Fernsehen „nicht nur mit dem altmodischen Film zusammen, sondern auch und vor allem mit dem Medium aller Medien, also mit Computersystemen“.
Computer wurden 1936 von Alan Mathison Turing erfunden und ab 1943 kriegsentscheidend dazu eingesetzt, die Verschlüsselungen des UKW-Funks der Wehrmacht zu knacken. Die Technologie, auf der Computer basieren, treibt das Digitalprinzip aufs höchste Niveau: „Ob Digitalrechner Töne oder Bilder nach außen schicken, also ans sogenannte Mensch-Maschine-Interface senden, oder aber nicht, intern arbeiten sie nur mit endlosen Bitfolgen, die von elektronischen Spannungen repräsentiert werden.“ Die Verarbeitungsgeschwindigkeit der Daten unterläuft die menschliche Wahrnehmungs- und Denkgeschwindigkeit derart, dass sie allen Manipulationsmöglichkeiten offenstehen. Um es auf die Spitze zu treiben, reduziert ein Computer alle sinnlichen „Dimensionen auf Null“, liquidiert noch die „letzten Reste von Imaginärem“ und unterhält zu guter Letzt einen „Weltkrieg zwischen Algorithmen und Rohstoffen“.
5 Theorie
Eine Theorie des Mediums Fernsehen und seiner Derivate ist schwierig, weil das Fernsehen in seiner Praxis die gängige „Schrift und Argumentationskultur“ und damit ihre „Fähigkeit zur Theoriebildung und-diskussion“ massiv untergräbt bzw. „außer Kraft“ setzt. Das hat seinen Grund vor allem darin, dass sich im Zentrum des Mediums Fernsehen Bilder befinden. Und zwar Bilder, die weniger logisch als unlogisch mit einander verkettet und angeordnet sind.
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„Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form. Es ist einerseits primitiv und oft vulgär, andererseits auf eine komplexe, teure und aufwendige Technik gegründet.“ So steht es auf den ersten Seiten der „Fernsehtheorie. Zur Einführung“ (2012) des Weimarer Film- und Fernsehwissenschaftlers Lorenz Engell.
Mit zunehmender technischer Entwicklung und Komplexität des Fernsehens können nicht nur Bilder direkt (live) gesehen, also gesendet und empfangen werden, sondern sie können in ihrem Fluss auch durch Anrufe von Zuschauern, Werbung, Programmhinweise oder durch Einfügung anderer Bilder (Fotografien, Filmbilder) unterbrochen werden. Das bedeutet: Das Fernsehbild wird zu einem „Schalt-Bild“. Es hebt somit seine „abbildlichen Ordnungen“ auf und wird als „Fernsehbild selbst“ sichtbar. Im „Programm- und Bilderfluss des Fernsehens“ können alle eingefügten Bestandteile als solche mitgeführt werden und bilden schließlich eine eigene Realität.
Die eigenartige Realität, die das Schalt-Bild erzeugt, unterscheidet sich als „mediengefertigte“ Realität von der Realität außerhalb der elektronischen Medien. Sie ist nicht mehr unter Rubriken wie Abbild oder Darstellung zu fassen. Vielmehr findet eine „Vermischung von Realität und Illusion“ statt. Es entsteht eine „Hyperrealität“, in der sich „die Unterscheidbarkeit von (Fernseh-)Bild und Wirklichkeit grundsätzlich infrage gestellt“ findet.
Mit der Idee des Schaltbildes verbindet sich die Praxis des Umschaltens. Mit der Erfindung der Fernbedienung markiert der „Moment des Umschaltens“ – insbesondere der eines „Umschaltens, das nicht auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, sondern einfach nach irgendetwas anderem ist“ – eine zumindest momenthafte Überbrückung nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Strukturen und somit eine besondere Form der „Herstellung von Gleichzeitigkeit“.
Das Fernsehen kann ein „Ereignis aus aberwitzigen und unmöglichen optischen Perspektiven aufnehmen“. Es kann ein Ereignis kumulativ ergänzen mit Kommentaren, Hintergrundinformationen. Es kann das „Live-Zentrum“ mit „[p]eriphere[n] Ereignisse[n]“ umlagern und überwuchern … So übernimmt es die Kontrolle des Stromes alltäglicher Vorkommnisse und bindet die übertragenen Ereignisse immer stärker in einen Fernsehfluss“ mit seinen „endlose[n] Wiederholungen derselben Bilder“ in Nachrichtensendungen, Sonderberichterstattungen etc. ein.
6 Ökonomie
Einer er wichtigsten Effekte des Schaltbildes ist das Schalten und die Kontrolle des Fernsehens über das Schaltverhalten seiner Zuschauerinnen und Zuschauer. Im Fernsehen und seinen digitalen Derivaten schlägt sich diese Kontrolle in den berühmt-berüchtigten Einschaltquoten und Klickzahlen nieder. Über sie wird Kontrolle auf verschiedenen Ebenen ausgeübt. Die wichtigste ist die Ökonomische.
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Das, was wir heute – etwas „ratlos“, wie der Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in seiner kurzen Theorie der Gegenwart „Kapital und Ressentiment“ (2021) beschreibt – im allgemeinen Sprachgebrauch „Digitalisierung“ nennen, „ist nicht einfach durch die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate und die Diffusion solcher Technologien in alle möglichen sozialen, politischen und ökonomischen Bereiche charakterisiert“. Digitalisierung basiert auf „einer wechselseitigen Verschränkung bzw. Verstärkung von Finanz- und Informationsökonomie“. „Informatisierung der Finanzbranche und Finanzialisierung der Informationsökonomie“ bilden schließlich „die Voraussetzung für die Einrichtung und Durchsetzung von Geschäftsmodellen“, die seit einiger Zeit unter dem „Titel einer ‚Internet-‘ oder ‚Plattformökonomie‘“ zusammengefasst werden.
In seiner Genealogie geht das Internet also nicht nur auf „eine militärisch-industrielle Einrichtung im Zeichen des Kalten Krieges zurück“. Zu dieser Vorgeschichte kommen Entwicklungen hinzu, „die von Finanzmärkten und Börsengeschäften über shadow banking und over-the-counter-Handel, über elektronische und computergestützte Handelssysteme bis zur Privatisierung informationstechnischer Infrastrukturen reich[en]“. Diese hier nur skizzierten Verbindungen funktionieren qua Benutzung dieser Plattformen sowieso und zwar einschließlich ihrer „Kontrollmacht“, ihrer „Spiele der Wahrheit“, ihrer „Fabel[n]“ und der „List [ihr]er ressentimentalen Vernunft“.
Dabei reklamiert „der kapitalistische Geschäftsverkehr die Rechte des Irrationalen“ für sich. An der Verwendung von Vokabeln wie trust – Treu und Glauben –, z.B. als Titel für „monopolartige Konzernstrukturen“, wird exemplarisch deutlich, wie „die Rede von Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Überzeugung und Gewissheit von einer Macht des Falschen heimgesucht [wird], die die messianischen und diabolischen Aspekte des Geschehens verwechselbar macht“.
7 Ästhetik
Einen Unterschied könnte die Ästhetik markieren. Sie stellt bei den vor allem bildgestützten Medien und ihren Plattformen die andere Ebene der Kontrolle dar. Unter der Maßgabe von Dienstleistung, Quote und Gewinnmaximierung wird in den „großen Kommunikationsapparaten“ – wie Alexander Kluge das Fernsehen und die aus ihm hervorgegangenen Medien in seinem Buch „Personen und Reden“ (2012) nennt – „über die Möglichkeiten unmittelbarer menschlicher Erfahrung hinweg[gegangen]“. Der Ausweg bestehe darin, „das Fernsehen offen zu halten für das, was außerhalb des Fernsehens stattfindet“.
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Der Filmemacher und Autor Alexander Kluge hat seine eigene Tätigkeit im Fernsehen als Fortsetzung seiner Tätigkeit als Autor und im Sinne der Verteidigung einer „unabhängigen Öffentlichkeit“ entwickelt. Kluge hat einige Beispiele formuliert, die in unserem Zusammenhang von „Kirche, Medien und Digitalität“ als Prinzipien ästhetischen Gestaltens gelesen werden sollten.
Ein erstes Beispiel betrifft die Schrift und ist für eine wie auch immer kirchliche, theologische Praxis in den Medien direkt virulent: „Auch im Fernsehen, das als Bildmedium gilt, muss es irgendwo Schrift geben. Geschriebener Text, der in einigen Einzelfällen stärker als jedes Bild sein kann. Das weiß man von Moses und Aaron. Was Aaron sagt und nicht schreibt, ist populär und gewinnt die Menschen schnell. Und dennoch gibt es etwas, sagt Moses, was nicht ins Bild gesetzt werden und nicht durch Worte übertönt werden darf. Es muss Schrift bleiben.“
Beim zweiten Beispiel geht es um den Originalton. Kluge versteht ihn als einen Gegenpol zur Schrift. Nur was ein Mensch im Originalton sagt, drückt seine unmittelbare Erfahrung aus. Und das bedeutet konkret: „Es gibt keine unmittelbare Erfahrung, die sich fehlerfrei äußert, die nur Hauptpunkte berücksichtigt, die vorsortiert reden kann.“ Deshalb ist es notwendig, auf Menschen einzugehen. Und das „erfordert mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit und Verzicht auf die Homogenisierung, die dem gesamten Fernsehen zugrunde liegt“.
Das dritte Beispiel behandelt die „Autonomie von Bild und Musik“ und betrifft einen besonders wunden Punkt. Denn diese Autonomie ist im Fernsehen besonders schwer zu realisieren. „Wenn ein Text nicht kommentiert, dem Zuschauer nicht alle eineinhalb Minuten gesagt wird, worum es sich handelt, meinen die Fernsehoberen, dass die Zuschauer irritiert werden, dass sie die Führung bräuchten durch einen homogenisierten mittleren Sinn.“ Dabei müsste das Gegenteil gemacht werden: „Irgendwann müssen Bilder so freigelassen werden, dass sie ohne Text, auch ohne Sinnzwang, ihr eigenes Leben haben.“ Ebenso der Ton, und das meint insbesondere Musik. Es geht darum, die Dinge für sich sprechen zu lassen.
Das vierte Beispiel, das Kluge bringt und als Arbeitsanleitung im Umgang mit den Medien des Fernsehens und ihren Hybriden empfiehlt, heißt lapidar: Zeit. Eine allgemeine Beschleunigung, in der unsere Welt sich befindet, führt dazu, dass der Mensch seine eigene Zeit verliert. Er lebt ständig in einer fremden Zeit, einem Aktualitätswahn. Dies gilt insbesondere für die homogenisierte Zeit, die das Fernsehen erzeugt, aber auch für die übrigen Formen der Öffentlichkeit. Es ist diese Enteignung der eigenen Zeit, die eine Lähmung hervorbringt, einen Mangel an Selbstachtung. „Nicht nur werden die Vergangenheiten und Zukünfte durch den Angriff der Aktualität beschädigt, sondern auch die Möglichkeitsformen, die Konjunktive, die Wunschformen, die ganze Fülle der Grammatik. Erfahrungen ohne Grammatik der Zeit gibt es nicht. Zeit als Thema, Zeit, um etwas zu bauen und zu entwickeln, Zeit, um etwas auszudrücken, Zeit, um etwas wahrzunehmen.“
8 Verbindungen
Nicht, dass man bei Benutzung der entsprechenden Plattformen, Programmen und ihren Möglichkeiten nicht in sie verstrickt wäre, das ist unausweichlich. Aber man muss ihnen als Nutzerin und Nutzer nicht vollkommen ausgeliefert sein. Das geschieht dadurch, dass man seine ureigentlichen Verbindungen nicht aufgibt, sondern sie auf den sozialen Plattformen rekonstruiert oder um sie herum erfindet, also Unterscheidbarkeit und Differenz erzeugt.
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Wenn wir in der Geschichte der Medien auf den direkten Vorläufer dessen zurückgehen, was wir hier und heute mit Medien bezeichnen, stoßen wir auf den Buchdruck. Er spielte für die Kirche, vor allem im Zuge der Reformation, eine kaum zu überschätzende Rolle. Der Buchdruck ist gekennzeichnet von einem grundlegenden Unterschied zu den anderen hier erwähnten Medien. In der Medientechnik des Buchdruckes ist die Verbindung zur sprachlichen Wirklichkeit bzw. Schrift trotz des Vorgangs des „Zerhackens“ (Friedrich Kittler) der Worte in Bleibuchstaben doch vorhanden. Die Schrift und die Worte selbst bestehen aus Buchstaben. Mit der Umwandlung von Sprache in Morsezeichen und in seiner Folge von Bildern in Pixel, wurde diese Verbindungskette medientechnisch unterbrochen.
In seinem letzten Buch „Das Verbindende. Ein Essay über Religion“ (2021) kommt Michel Serres immer wieder darauf zurück, dass der Begriff „Religion“ den Sprachwissenschaftlern zufolge „zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere“ habe, „relegere – wiederlesen, überdenken – und religare – verbinden, binden“.
In Bezug auf das Verhältnis zwischen Medien und Religion lässt sich Verbindung genauer beschreiben als eine Verbindung zwischen Medium und Praxis. Löst sich diese Verbindung auf bzw. verzichtet man auf sie, so wird aus Religion (verbindungslos der Eigengesetzlichkeit der Medien ausgeliefert) Selbstdarstellung, Verwaltungsideologie oder Verkaufsstrategie. Differenz entsteht durch zeugenhafte Verbindungen zwischen konkreter homiletischer bzw. liturgischer Praxis und Medium.
Auf der Praxisseite ohne Medium handelt es sich dabei um dieselbe Art der Verbindung wie der zwischen der privaten Person und der öffentlichen Person in einer Rede- oder Predigtsituation, oder wie der Verbindung zwischen einem Alltagsvollzug und einem liturgischen Vollzug: öffentlich-privat, liturgisch-alltäglich sind nicht dasselbe, aber wenn die Verbindung zwischen ihnen abreißt, erkennt man die eine in der anderen nicht wieder und ihre gegenseitige Zeugenschaft ist verloren.
An diese Art der Verbindung müsste in Bezug auf bildgestützte Medien angeknüpft werden. Derartige Verbindungen müssten in das Medium hinein und darüber hinausgedacht werden. Das bedeutet, es müsste eine Verbindung zwischen dem, was vor der aufzeichnenden Kamera passiert und dem, was auf Zuschauerinnenseite also auf der dann übertragenen Bildschirmseite passiert, rekonstruiert bzw. hergestellt werden.
9 Gottesdienst
Mediale Übertragung und Verbreitung geraten Gottesdienste über die normierenden Angebote der Veranstaltungstechnik (nur z.T. werden sie historisch-architektonisch gerahmt) und den Homogenitätsdruck von Einschaltquoten bzw. Klickzahlen tendenziell in eine ästhetische Ununterscheidbarkeit von Werbeveranstaltungen. Beide werden gleich gefilmt und sehen dann auch so aus, hören sich so an, verwenden eine zumindest ähnliche Sprache und finden sich eingerahmt in einer entsprechenden Programmfolge.
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Der französische Anthropologe Philippe Descola hat in seinem jüngsten Buch „Die Formen des Sichtbaren. Eine Anthropologie der Bilder“ (2023) darauf hingewiesen, dass Bilder aus ethnologischer Sicht für lange Zeit vor allem eine rituelle Funktion hatten und weniger eine ästhetische.
Dieser Hinweis führt uns nicht zurück zu irgendwelchen Bilderriten. Er führt konkret zu den szenisch-theatralen Voraussetzungen aufgezeichneter Bilder vor und auch nach der Kamera. Das bedeutet einerseits, das von einer Kamera aufgezeichnete Bild nicht losgelöst von seinen szenische-theatralen Voraussetzungen, nur als Vorwand für die Aufzeichnung, zu verstehen. Das Hauptaugenmerk sollte also auf dem realen Geschehen liegen, das aufgezeichnet werden soll, bevor es dann durch eine Kamera und ihre Techniken bearbeitet und übertragen wird.
Andererseits bedeutet es, die szenisch-theatralen Konsequenzen zu entwerfen und entsprechend zu gestalten, die auf der anderen Seite der Übertragung, also bei der/n zuschauenden Person/en liegen. Denn sie sollen ja die gottesdienstlichen Vollzüge mitfeiern und nicht bloß zuschauen. Darin besteht ein entscheidender Unterschied in unserem Zusammenhang.
Diese Seite der Übertragung und ihre liturgische Praxis findet sich bisher gänzlich vernachlässigt. Sie ruft nach Gestaltung. Und dies im offenen Sinne von Experiment. Dabei knüpft sie an liturgische Erfahrungen in realen, analogen Gottesdiensten an und setzt diese in einer zu erfindenden privaten, besser: eigenen Praxis fort. Soll diese nicht bei einer Imitation (Pfarrer/in spielen) hängen bleiben, birgt sie eine Erfindungsaufgabe und ein Experimentierfeld. Es könnte sein, dass es auf diesem Feld Überschneidungen gibt mit den Herausforderungen, denen sich eine Kirche in ihrem „minderheitlich-werden“ (link) gegenübersieht. Dabei wird es um eine „Ermündigung“ der Getauften zu gestaltendem liturgisch-homiletischem Handeln gehen. Und hier stellt sich die Frage nach dem, was real geschieht direkt: Was ist liturgische Praxis vor der Kamera? Was ist liturgische Praxis vor dem Bildschirm? Was haben beide miteinander zu tun? Und schließlich: Was haben beide mit der liturgischen Praxis außerhalb von Medien und Digitalität, also „in der Kirche“ zu tun?
10 Digitalität
Computer treiben das Digitalprinzip aufs höchste Niveau. Die „Unterschiede zwischen einzelnen Medien oder Sinnesfeldern“ lösen sich in „endlosen Bitfolgen, die von elektronischen Spannungen repräsentiert werden“, auf. Sie setzten alle sinnlichen „Dimensionen auf Null“. In Kombinationen mit anderen digitalen Plattformen agieren sie wie Homogenisierungsmaschinen angesichts derer sich Fragen nach Differenz und Heterogenität umso lauter stellen.
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In der Geschichte der Medien treiben Computer – „das Medium aller Medien“ – das Digitalprinzip aufs höchste Niveau. Die „Unterschiede zwischen einzelnen Medien oder Sinnesfeldern“ lösen sich in „endlosen Bitfolgen, die von elektronischen Spannungen repräsentiert werden“, auf. Nicht zuletzt die enorme Verarbeitungsgeschwindigkeit der Daten unterläuft die menschliche Wahrnehmungs- und Denkgeschwindigkeit derart, dass sie alle sinnlichen „Dimensionen auf Null“ setzt und noch die „letzten Reste von Imaginärem“ liquidiert, wie man beim Medienforscher Friedrich Kittler nachlesen kann.
Dieser Homogenisierungsdruck wird verstärkt durch die Verbindung unterschiedlicher Plattformen und Maschinen wie Suchmaschinen, die alle mit Hilfe von Algorithmen programmiert werden, um eine größtmögliche „Öffentlichkeit“ und alles was sich mit ihr verbindet, zu generieren.
In Bereichen, die ihrerseits über Bitfolgen und Daten funktionieren bzw. sich entsprechend formatieren lassen, entstehen, nicht zuletzt durch den Aspekt der Geschwindigkeit, enorme Einsatzmöglichkeiten. Sie finden in der explosivartig sich entwickelnden sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) ihren Ausdruck. Aber auch oder gerade KI ist eine hocheffiziente Homogenisierungsmaschinerie. In einem in sich geschlossenen Imitationszusammenhang schafft sie Differenz und Heterogenität tendenziell ab.
Diese Serie endet mit einem Plädoyer für Differenz und Heterogenität. Dazu kommen wir mit dem Aufruf eines anderen Imitationszusammenhanges auf den Romanisten und Literaturwissenschaftler Erich Auerbach zurück. In einer Studie über Franz von Assisi (1927) ist er der Frage nachgegangen, warum dieser eine so starke Wirkung über die Jahrhunderte bis heute entfalten konnte. Auerbach findet nach Prüfung der bekannten Einzelaspekte des Wirkens des Franz von Assisi folgendes entscheidende Argument: „[Er] hat die Phantasie des Volkes für Jahrhunderte befruchtet.“
Um dieses Phänomen noch genauer zu verstehen, fragt Auerbach weiter: „Welche geheimen Kräfte verliehen ihm solche Gewalt über die Phantasie der Menschen, die damals lebten und handelten, dass sein Bild und sein Wesen ihr Leben und Handeln zu beunruhigen, zu durchkreuzen, zu verwandeln vermochten? Es gab, wie gesagt, damals Bußprediger genug, und, zudem muss man bedenken, dass es zu jener Zeit der Einbildungskraft an Nahrung nicht fehlte; die Kreuzzüge mit ihren gewaltigen Bewegungen, ihren abenteuerlichen Kriegstaten, ihrer phantastischen Anschwellung von Verkehr und Reichtum müssen die einfachen Menschen aufs leidenschaftlichste beschäftigt haben, und wenn die plötzliche Erweiterung des Gesichtskreises zu einer Kritik und Beunruhigung der heimischen Zustände führte, so musste das weit eher ketzerisch-revolutionären Strömungen zugutekommen als der unpolitischen und nur aufs Innerliche gerichteten franziskanischen Bewegung.“
Schließlich fasst Auerbach zusammen, dass Franz von Assisi ganz im Sinne des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668-1744) ein „poetischer Charakter“ gewesen sei, „weil er ganz und gar bildlicher Ausdruck seiner selbst geworden ist“.
12 Miniaturen zum Thema Kirchenentwicklung
1 Einführung
Wenn die Zahlen kleiner werden, die Mitglieder weniger, Mittel und Einfluss geringer, dann kann man sich der Gedankenlosigkeit von Zahlenreihen und ihrer Verwaltung überlassen. Man kann aber auch andere Zugänge wählen, zum Beispiel die Denkfigur: minderheitlich werden.
Die hier beginnende Serie experimentiert mit dieser Denkfigur in verschiedenen Themenfeldern.
Und experimentieren heißt, Texte und ihre Themen abseits der Gewohnheit zu lesen. Damit wird zugleich einem Begriff Einlass in die Lektüre und ihre denkerischen Vollzüge gewährt, der einer schlichten, aber auch einer komplex lehrhaften Wiederholung meist entgeht: die Differenz.
Es gilt, jenen kleinen Verschiebungen, Abweichungen, Unterwanderungen von dem, was man gewohnt ist – also immer nur erkennt, weil man es schon kennt – auf die Spur zu kommen und entscheidende Unterschiede herauszuarbeiten, nämlich die zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.
2 Bibel
In seinem Essay „Meine Bibel; Erfahrungen“ 1982 in der DDR berichtet der Schriftsteller Franz Fühmann davon, wie er die Bibel im erwachsenen Alter wiederentdeckte. Dabei erkannte er, dass die Bibel „ein Buch der Subversion war, des Unerhörten, Unerlaubten, des Umkehrens von Oben und Unten und des Zerschlagens der alten Tafeln. Ein zersetzendes Buch, das den Königen fluchte und die Armen und Schwachen seligpries, ein Buch der Parteinahme für alle Mindren“.
Dieses alte Wort „minder“, ein Komparativ zu „klein“, verwendet Fühmann zur Charakterisierung der Menschen, die er als abgründig in der Bibel beschrieben vorfindet. Ihre Verwobenheit mit dem Alltag ermöglicht es Fühmann, sie im realen Leben wiederzufinden: „So handelt der Mensch, und nun sieh du dich an!“
Nach Fühmann beschreibt die Bibel den Menschen als im Werden befindlich. Diese Erkenntnis hat zwei Aspekte. Zum einen bedeutet es, „das Werden des Menschen […] als ein Nacheinander, wenn auch in seiner Entfaltung“ zu sehen. Zum anderen ist „dies Werden auch ein Zugleich“: „Du verlierst nichts von dem, was du einmal warst, und bist gewesen, was du erst wirst“.
3 Sprache
In seiner Untersuchung der literarischen Sprache bei Franz Kafka – Franz Fühmann hatte das Buch in seiner Bibliothek – prägt der französische Philosoph Gilles Deleuze den Begriff einer minderen Literatur (littérature mineure) und in ihrer Folge den einer minderen Sprache (langue mineure). Beide erweisen sich bei genauerem Hinsehen als minder weniger im Sinne von „klein“, wie meist übersetzt wird, sondern im Sinne von minderheitlich.
Versucht man, eine minderheitliche Sprache in ihrem Verhältnis zur mehrheitlichen (majeur) Sprache zu bestimmen, wird erkennbar, wie minderheitliche Sprache als eine Praxis des Werdens funktioniert. Dabei geht es um ständige Grenzverletzungen des Standards einer Sprache, um eine ständige Unterwanderung ihrer Machtverhältnisse, um eine ständige Variation ihrer Doktrin. Es geht um ein Stottern am Rande des Unsagbaren und um die Erfindung einer neuen Sprache – einer minderheitlichen Sprache – in der Mehrheitssprache. So wie Kafka als Prager Jude deutsch schreibt, oder Beckett als Ire Französisch oder wie in den Schwarzen Vierteln Amerikas eine neue Sprache (black English) entsteht: Immer im Werden, variierend, spielend, subversiv, erfinderisch. Es geht also um den „unterschiedlichen Gebrauch derselben Sprache“.
4 Predigt
Einen derartigen Einbruch des Minderen in die Hochstile der Literatur untersucht der deutsche Literaturwissenschaftler und Romanist Erich Auerbach in seiner Studie zum sermo humilis von 1957.
Sein Ausgangspunkt: Für antike Ohren war die „ungriechische oder unlateinische Ausdrucksweise der urchristlichen Literatur“ – die Bibel eingeschlossen – zunächst mit einem peinlichen Empfinden verbunden. Dies war allerdings um das Jahr 400 nicht mehr bestimmend.
In seiner Lektüre einer Predigt von Augustinus stellt Auerbach fest, dass „diese rhetorische Art des Ausdrucks im Ganzen und alle ihre Formen […] der antiken Schultradition“ entstammen. Diese rhetorische Tradition „ist auf der Anschauung von den Rede- und Dichtungsarten aufgebaut, in welcher, nach Stufen der Würde, die Gegenstände mit der Ausdrucksweise übereinzustimmen habe; somit war es wesentlich, auch die Gegenstände nach ihrer Würde zu ordnen“. Über niedere Gegenstände sprach man im niederen Stil, über mittlere Gegenstände im mittleren und über erhabene Gegenstände im erhabenen Stil.
Augustinus übernahm und begründete dieses Prinzip in der jeweils „verfolgten Absicht“ der Rede. Den Bezug auf die Gegenstände wies er jedoch zurück. Auerbach sieht hierin „eine so bedeutende Abweichung von der rhetorischen und überhaupt literarischen Tradition, dass es nahezu die Zerstörung ihrer Grundlagen bedeutet“.
Ein minderheitlich-werden: Im christlichen Zusammenhang verlieren die niederen, alltäglichen Gegenstände ihre Niedrigkeit und höchste Gegenstände des Glaubens können in niederer Ausdrucksweise jedem verständlich vorgetragen bzw. gepredigt werden. (Lk 1, 46-55)
5 Volkssprachen
Mit historischen Veränderungen der lateinisch-sprachigen Kulturen änderte sich auch die Sprache selbst. Das Lateinische wurde weniger „antikisch“ (Auerbach). Das zog Veränderungen des christlichen Sprachgebrauchs nach sich. Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die um 1300 virulent wurde.
Die Gesellschaften hatten sich diversifiziert und individualisiert. Die Volkssprachen drängten in die dem Lateinischen angestammten Bereiche wie Gerichte, Universitäten und setzten ein weiteres minderheitlich-werden in Gang. Dieser Prozess lief in mehreren Sprachgebieten fast gleichzeitig: Raimundus Lulus (gest. 1316) bewirkte ihn fürs Katalanische wie Meister Eckhart (gest. 1328) fürs Deutsche, Dante (gest. 1321) fürs Italienische.
Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch folgt in Bezug auf die genannten Autoren der sermo-humilis-Spur Auerbachs: „Sie formulierten einen neuen, nicht mehr feudalen, nicht mehr benediktinisch-monastischen Weltbegriff, einen neuen Begriff des Menschen und der Religion. Sie griffen die Armuts- und die Frauenbewegung auf, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts die kulturelle und kirchliche Gesamtsituation umgestaltet hatten. Eckharts Predigten drücken eine neue, nicht mehr hierarchisch fixierte Sichtweise aus, die Stadtbürger und Frauen als die ihre anerkennen konnten. Gleichzeitig mit Dante und Lull erklärte ihnen Eckhart, dass Adel nicht an Blut, Familienbesitz und feudales Lebensgefühl gebunden sei; es lag jetzt an jedem selbst, ob er ‚edel‘ war. Eckhart radikalisierte die Armutsidee, um einer neuen Autonomie zu Wort und Realität zu verhelfen: Der Mensch soll verzichten, nicht nur auf Macht und Geld, nicht nur auf kollektives und privates Eigentum, sondern auf alle äußeren Rücksichten, auf Herkommen und Ansehen, aber auch auf jenseitige Belohnungen. Er soll nicht um Lohnes, aber auch nicht um Gottes willen tun, was er tut. Er soll alles lassen, die Welt, sich und Gott.“
Mit der Verurteilung von Meister Eckhart (1329) erlitt die deutsche Entwicklung einen deutlichen Rückschlag. Erst Martin Luther gelang der Durchbruch mit seiner Bibelübersetzung und einer nachhaltigen Prägung der deutschen Sprache.
6 Reformation
Aber „[g]erade Luthers Provinzialität, seine im Vergleich zu Leonardo und Machiavelli unleugbare Befangenheit in einer durch die spätmittelalterliche Entwicklung selbst bereits gesprengte ‚Mittelalterlichkeit‘ ermöglichten ihm seine breite Wirkung“, analysiert Kurt Flasch in „Das philosophischen Denken im Mittelalter“ weiter. „Leonardo und Machiavelli hatten auf das Missverhältnis von Vernunft und Weltlauf, wie es sich gegen 1520 abzeichnete, radikaler und origineller geantwortet. Indem Luther den anthropologischen Pessimismus, der sich jetzt nahelegte, theologisierte, verfestigte er die Zerrissenheit, die ohnehin vorhanden war“.
Luthers pessimistisches Pathos wird deutlich, wenn man ihn „einmal nicht als den Entdecker einer zeitlosen christlichen Wahrheit, sondern als Rezipienten der spätmittelalterlichen Schulwissenschaft“ und im Vergleich mit seinen Zeitgenossen liest. „Luthers Texte sind Dokumente der Zeit um 1520. Sie erhalten ihr historisches Profil“, wenn wir sie lesen neben Schriften von Erasmus, Pomponazzi‚ Machiavelli‚ Thomas Morus und anderen.
Alle genannten Zeitgenossen Luthers hatten den Mut, eigenständig zu denken. Sie sparten nicht an Kritik der Kirche gegenüber und waren überzeugt, dass Veränderungen dringend nötig waren.
Gott, heylger schöpffer aller stern,
erleucht uns, die wir sind so fern,
zurkennen deynen waren Christ,
der vor uns hye Mensch worden ist.
Dann es ging dier zu hertzen sehr,
das wir gefangen waren schwer
solten ewig des todes sein;
drum namst du auff dich schuld und peyn.
Do sich die welt zum abent want,
der breutgam Christ ward so erkant.
auß seyner mutter kemerleyn
Die junckfraw blieb zart und gantz reyn.
Erzeycht hat er sein groß gewalt,
das es inn aller welt erschalt,
sich müssen bigen alle knie
im hymel, hellen und alhye.
Alles, was durch yhn geschaffen ist
Dem gibt er kraft, wesen und frist
nach seynes willens ordnung zwar
yhn zu erkennen offenbar.
Wir bitten dich, o heylger Christ,
wann du künfftiger richter bist,
lehr uns hyevor deinen willen thun
und im glauben nemen zu.
Lob, preyß sei, vater, deiner krafft
deym zarten Sohn, der all ding schafft,
inn eynem wesen der dreyheyt,
mit dem geyst deyner heyligkeyt.
Amen.
(Thomas Müntzer (1523) // BWV 602)
7 Luther minor
Dabei könnte gerade eine minderheitliche Lesart seiner Schriften einen Martin Luther vorstellen, der behutsam, aber deutlich aus dem Schatten seines augustinischen Pessimismus hervortritt. Was bedeutet eine mindere Lesart, eine lecture mineure? Sie bedeutet eine Variabilität von Perspektivwechseln.
Hierzu müsste man zuerst einen Autor, „der als groß angesehen“ wird, wie in unserem Falle Martin Luther, „als kleinen Autoren behandeln“, um seine „Möglichkeiten des Werdens wieder zu entdecken“, wie Deleuze derartige Prozesse in seinen „Kleinen Schriften“ beschreibt. Denn zu Größe wird man erhoben: „Aus einem Denken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine Kultur, aus einem Ereignis eine Geschichte“. Auf diese Weise „täuscht man Anerkennung und Bewunderung vor“, in Wirklichkeit „normiert man“ jedoch den Autor, unterwirft ihn einer Norm. Es geht also darum, sich diesem Vorgang der Normierung durch „Geschichtsschreiberei“ zu widersetzen. „Operation für Operation“ in einem geradezu chirurgischen Sinne kann man sich den Vorgang des Großmachens auch umgekehrt vorstellen: „Depotenzieren (französisch minorer), ein von Mathematikern angewandter Begriff“. Man müsste also dem jeweiligen Autor entsprechend eine Methode des minderheitlich-werdens entwickeln, um die „Prozesse des Werdens gegen die Geschichte freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ mit dem Ziel, „jene aktive minderheitliche Kraft wieder zu finden.“
Vor diesem Hintergrund hat Martin Luther ausdrücklich Anlass gegeben, ihn als kleinen Autor zu lesen. Und vieles spricht dafür, ihm als solchem sogar den Vorzug zu geben. Als Erfinder des sermo humilis in deutscher Sprache mit seiner Übersetzung zunächst des Neuen Testamentes, dann der gesamten Bibel, stellt sich Luther als kleiner bzw. minderheitlicher Autor vor: Er übersetzte die Bibel, mit dem Ziel, dass alle, jede und jeder, die Heilige Schrift lesen könne. Auch seine Choräle und Choralbearbeitungen gehören hier her. Dann hat er selbst minderheitliche, ausdrücklich kleine Schriften wie den „Kleine[n] Katechismus“ oder „Ein[en] kleine[n] Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle“ verfasst. Hier liegt der Zugang zu einem Luther minor versteckt.
8 Theologie
Die Richtung der Antwort auf die Frage nach einer „minderen Wissenschaft“ – also ihrem minderheitlich-werden – zeigt der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro.
„Was ist die Anthropologie den Völkern, die sie erforscht, [also ihrem Forschungsgegenstand] in begrifflicher Hinsicht schuldig?“
In historisch-kritischer Sicht bedeutet diese Frage für eine Disziplin zunächst, die Strukturen und Konjunkturen ihrer Machtgefüge, sowie die ideologischen Debatten in ihren intellektuellen Feldern und akademischen Kontexten offen zu legen und zur Disposition zu stellen.
Daraus ergeben sich Perspektivwechsel. Sie zeigen, „dass die interessantesten Begriffe, Probleme, Entitäten und Akteure, die von anthropologischen Theorien hervorgebracht werden, in der Vorstellungskraft gerade jener Gesellschaften selbst wurzeln, die durch sie erklärt werden sollen“.
Mit anderen Worten: ein minderheitlich-werden von Wissenschaft besteht darin, „Theorie und Praxis der permanenten Dekolonialisierung des Denkens zu sein.“ Und das bedeutet eben konkret, im Anderen nicht immer nur die Maske zu entdecken, hinter der wir selbst stecken, sondern in ihr/ihm ein Bild zu sehen, in dem wir uns nicht erkennen. Somit bietet „jede Erfahrung einer anderen Kultur die Gelegenheit zum Experiment mit unserer eigenen Kultur“.
9 Erfahrungen
Entscheidend für das Selbstverständnis der evangelischen Kirchen in der DDR wurde der Aufruf des Erfurter Probstes Heino Falke an die Christinnen und Christen in der DDR, sich ebenda zu engagieren „für eine verbesserliche Kirche in einem verbesserlichen Sozialismus“.
Was das für die Menschen mindestens bedeutete, beschreibt Falcke in folgender Erinnerung: „Als uns 1980 Roger Schutz aus Taizé besuchte, kam es auf dem Domberg in Erfurt zu folgender Szene: Wir standen als Leiter des Gottesdienstes oben vor dem Dom, da löste sich aus der Gemeinde zu Füßen der Domstufen ein kleiner Junge und stieg ganz allein vor allen die Treppe hinauf. Wir hielten den Atem an. Das war ein wunderbares Symbol für uns Christen in der DDR – sich zu wagen, alleine aus der Menge heraus seinen Weg zu gehen.“
Die Kirchen in der DDR wurden in kleinen Schritten zu Orten der Veränderung und boten ein Dach für verschiedene Aktivitäten und Aktivisten in Bereichen wie Frieden, Menschenrechte und Bewahrung der Schöpfung. Sie bot unangepassten bzw. verbotenen Dichtern, Liedermacherinnen, Bands und Künstlern provisorische Plattformen und setzte sich für Wehrdienstverweigerer, Ausreisewillige und andere politisch Verfolgte ein, die meist nicht ihre Mitglieder waren. Neben offiziellen Treffen und Gesprächen mit staatlichen Stellen fand diese Existenzform des Christseins in der Minderheit ihren Ausdruck in unkonventionellen Gesten wie der folgenden:
Der Schweriner Bischof Heinrich Rathke kündigte dem Rat des Bezirkes an, wenn eine junge Frau, die von der Polizei wegen ihres Aufnähers – jenes auf Vliespapier gedruckte Motiv eines sowjetischen Denkmals vor dem UNO-Gebäude in New York, das einen Schmied zeigt, der mit dem aus dem Propheten Micha zitierten Satz ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ umschmiedet – festgehalten wurde, nicht innerhalb einer halben Stunde freigelassen werde, stünde er mit dem Aufnäher auf seinem Ärmel vor dem Gebäude des Rates des Bezirkes – eine belebte Gegend in der Bezirksstadt Schwerin –, bis er ebenfalls festgenommen würde oder bis die junge Frau frei sei. Sie wurde alsbald freigelassen.
Rathke arbeitete nach seiner Zeit als Landesbischof übrigens als einfacher Pastor in der evangelischen Kirche der mecklenburgischen Kleinstadt Crivitz zwischen Schwerin und Parchim.
Für die Kirchen der ehemaligen DDR entwickelt sich die Erfahrung der Wende zur Lektion eines minderheitlichen Im-Werden-Bleibens. Und dies nicht nur in ihrer Rolle den Verhältnissen der ehemaligen DDR gegenüber. Auch im Zusammenspiel mit den Kirchen aus der alten Bundesrepublik stellte sich die kirchenpolitische Realität als eine Lektion heraus. Sie besteht bis heute darin, zu verstehen, dass minderheitlich werden eben gerade nicht bedeutet, mehrheitlich werden zu wollen.
10 Liturgie
Diese Sichtweise eröffnet kirchengeschichtliche Perspektiven mit großer Transformationskraft. Denn Kirchen sind als realpolitische Verwaltungsapparate traditionell mehrheitlich und damit – kirchengeschichtlich konkreter – konstantinisch verfasst.
Unter Kaiser Konstantin hatte sich die Kirche von einer tolerierten zu einer privilegierten und schließlich zur herrschenden Institution entwickelt. Sie differenzierte sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedliche administrative Regime. Mit der Teilung der Kirchen in Ost- und Westkirche unterschieden sich von der Kirche imperialer Administration katholischer Prägung verschiedene Kirchen nationaler Administration orthodoxer Prägung. Mit der Reformation kamen Kirchen landesfürstlich-ministerialer Administration evangelischer Prägung dazu. Diese Figuren der Kombination von Christentum und Herrschaft dominieren seither die Kirchen.
Im Laufe der Geschichte sind immer wieder minderheitliche Entwicklungsformen innerhalb wie außerhalb der konstantinischen Administrationen aufgetreten. Die in unserem Zusammenhang markanteste war die franziskanische Reformation mit dem ordo fratrum minorum, dem Orden der Minoriten, der Minderbrüder.
Bei seiner Untersuchung des nur scheinbar abgelegenen Genres der Ordensregeln stößt der italienische Philosoph Giorgio Agamben auf das in ihnen ausgedrückte Verhältnis zwischen Armut und Eigentum. Ihn interessierte jedoch nicht so sehr die Armut als solche, sondern die Art und Weise, in der die Franziskaner den Gebrauch wichtiger nehmen als das Eigentum. Das ist genau der Punkt, an dem der minoritische Impuls auf Grundfragen konstantinisch geprägten Rechtes stößt und es minorisiert.
„Für den Orden wie für seinen Gründer ging es um die abdicatio omnis iuris, das heißt, um die Möglichkeit, als Mensch außerhalb des Rechts zu existieren.“ Die Minderbrüder wollten sich also jeglicher Güter bedienen (simplex usus), „ohne irgendwelche Rechte (weder ein Gebrauchs- noch ein Eigentumsrecht) an ihnen zu haben“.
Dies regelten sie technisch durch die Unterscheidung von Eigentum und Gebrauch. Dabei ist der Gebrauch noch konkretisiert bzw. begrenzt durch den Begriff der Notlage: Die Minoriten haben im „Normalzustand, in dem den Menschen positive Rechte zustehen“, kein Recht. Sie haben „lediglich eine Erlaubnis des Gebrauches“ und das „nur in der äußersten Notlage“. Nur dann „treten sie wieder mit dem – natürlichen, nicht positiven – Recht in Beziehung“. Sonst haben sie keine Beziehung zum Recht. „So wird, was für die anderen normal ist, für sie zur Ausnahme, was sich den anderen jedoch als die Ausnahme darstellt, ist für sie Lebensform.“ (Mt 5, 1-12)
In dieser Hinsicht wird die Aufgabe einer kommenden Kirche zu großen Teilen eine minorisierende Erfindungsaufgabe sein.
11 Gemeinschaft
Wie lässt sich Gemeinschaft minderheitlich denken, also jenseits von mehrheitlichen Standards wie Zugehörigkeit (Sein, Blut, Volk), Mitgliedschaft (Einschluss, Ausschluss) oder Ausrichtung auf ihr eigenes Werk (Produktion, Zweck, Interesse)?
In einem seiner letzten Interviews beschrieb der französische Philosoph Jean-Luc Nancy solche Gemeinschaft als eine Gemeinschaft, die sich dessen „bewusst wäre, dass sie keine gemeinsame Substanz hätte, dass sie eben keine Sache gemeinsam hätte, keine Rasse, keine Nation, nicht einmal ein Aggregat, aber ein Teilen (partage), eine Zirkulation, ein Teilen von Sinn (sens).“
Angesichts der aktuellen Weltlage nimmt eine solche Gemeinschaft vielleicht am ehesten als eine „Solidarität der Erschütterten“ konkrete Gestalt an, wie sie der tschechische Philosoph und Sprecher der Charta 77, Jan Patočka, beschrieb.
12 P.S.
Wenn die Gemeinden langsam kleiner werden, die Kirchen innerhalb eines Gemeindebezirkes zahlreicher, wenn es weniger ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer gibt … was geschieht dann?
Es wird andere Verwaltungs- und Finanzierungsformen geben. Lebensformen werden sich verändern. Pfarrerinnen und Pfarrer werden vielleicht z.T. in anderen Berufen ihren Lebensunterhalt verdienen und auf Erfahrungen zurückgreifen wie die der Arbeiterpriester. Es wird andere Formen der Gemeinschaft geben, die sich etwa von den Kleinen Schwestern Jesu inspirieren lassen. Kirchengebäude werden (auch) anders und vielfältiger genutzt oder besser: bewohnt werden.
Das soziale und politischen Engagement der Kirchen wird andere Organisations- und Ausdrucksformen finden. Manche bewährte Struktur wird vielleicht auch so bleiben, wie wir sie kennen. Sie wird lediglich ihren repräsentativen Charakter verlieren. Vieles wird provisorischer werden.
Was aber könnten Christen den Menschen, die nicht glauben, unter denen sie leben, geben? Und zwar (eben nicht interessengeleitet etwa im Sinne von gemeinsamen Aktionen [das sicher auch], sondern) im Sinne von Gnade. Was könnten sie den Menschen, unter denen sie leben, also schenken?
In einem Porträt über das alte Kloster Sucevita in der Bukowina im Norden Rumäniens sagt ein orthodoxer Priester folgendes: „Wenn es keine Liturgie, keine Erinnerung an den Tod mehr gibt, endet die Welt. Das ist eine über Jahrhunderte weitergeführte Tradition. Die Kirche ist nicht nur für die Lebenden, sondern auch für diejenigen da, die eingeschlafen sind, diejenigen, die gestorben sind. Der Hauptunterschied zwischen den Christen im Orient und Okzident ist, dass die westlichen Religionen diesen Bund mit den verstorbenen Ahnen verloren haben. Aber bei uns im Orient bleibt die Verbindung zwischen den Lebenden und denen die eingeschlafen sind, erhalten. Wir sind ein Ganzes. Eins in Christus.“
Man muss diesem Priester nicht in jeder Nuance zustimmen. Aber wäre das nicht Etwas, wenn man über die Christen sagen würde:
Sie weisen niemanden ab. Sie vereinnahmen niemanden. Jede Tote und jeden Toten begraben sie mit heiterer Würde aus Respekt vor dem gelebten Leben. Sie verschenken dies an die Menschen, unter denen sie leben, auf eine Art und Weise, die es jeder und jedem, die das möchte, ermöglicht, ein solches Geschenk auch anzunehmen.
Dietrich Sagert