12 Miniaturen zum Thema Kirchenentwicklung
1 Einführung
Wenn die Zahlen kleiner werden, die Mitglieder weniger, Mittel und Einfluss geringer, dann kann man sich der Gedankenlosigkeit von Zahlenreihen und ihrer Verwaltung überlassen. Man kann aber auch andere Zugänge wählen, zum Beispiel die Denkfigur: minderheitlich werden.
Die hier beginnende Serie experimentiert mit dieser Denkfigur in verschiedenen Themenfeldern.
Und experimentieren heißt, Texte und ihre Themen abseits der Gewohnheit zu lesen. Damit wird zugleich einem Begriff Einlass in die Lektüre und ihre denkerischen Vollzüge gewährt, der einer schlichten, aber auch einer komplex lehrhaften Wiederholung meist entgeht: die Differenz.
Es gilt, jenen kleinen Verschiebungen, Abweichungen, Unterwanderungen von dem, was man gewohnt ist – also immer nur erkennt, weil man es schon kennt – auf die Spur zu kommen und entscheidende Unterschiede herauszuarbeiten, nämlich die zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.
2 Bibel
In seinem Essay „Meine Bibel; Erfahrungen“ 1982 in der DDR berichtet der Schriftsteller Franz Fühmann davon, wie er die Bibel im erwachsenen Alter wiederentdeckte. Dabei erkannte er, dass die Bibel „ein Buch der Subversion war, des Unerhörten, Unerlaubten, des Umkehrens von Oben und Unten und des Zerschlagens der alten Tafeln. Ein zersetzendes Buch, das den Königen fluchte und die Armen und Schwachen seligpries, ein Buch der Parteinahme für alle Mindren“.
Dieses alte Wort „minder“, ein Komparativ zu „klein“, verwendet Fühmann zur Charakterisierung der Menschen, die er als abgründig in der Bibel beschrieben vorfindet. Ihre Verwobenheit mit dem Alltag ermöglicht es Fühmann, sie im realen Leben wiederzufinden: „So handelt der Mensch, und nun sieh du dich an!“
Nach Fühmann beschreibt die Bibel den Menschen als im Werden befindlich. Diese Erkenntnis hat zwei Aspekte. Zum einen bedeutet es, „das Werden des Menschen […] als ein Nacheinander, wenn auch in seiner Entfaltung“ zu sehen. Zum anderen ist „dies Werden auch ein Zugleich“: „Du verlierst nichts von dem, was du einmal warst, und bist gewesen, was du erst wirst“.
3 Sprache
In seiner Untersuchung der literarischen Sprache bei Franz Kafka – Franz Fühmann hatte das Buch in seiner Bibliothek – prägt der französische Philosoph Gilles Deleuze den Begriff einer minderen Literatur (littérature mineure) und in ihrer Folge den einer minderen Sprache (langue mineure). Beide erweisen sich bei genauerem Hinsehen als minder weniger im Sinne von „klein“, wie meist übersetzt wird, sondern im Sinne von minderheitlich.
Versucht man, eine minderheitliche Sprache in ihrem Verhältnis zur mehrheitlichen (majeur) Sprache zu bestimmen, wird erkennbar, wie minderheitliche Sprache als eine Praxis des Werdens funktioniert. Dabei geht es um ständige Grenzverletzungen des Standards einer Sprache, um eine ständige Unterwanderung ihrer Machtverhältnisse, um eine ständige Variation ihrer Doktrin. Es geht um ein Stottern am Rande des Unsagbaren und um die Erfindung einer neuen Sprache – einer minderheitlichen Sprache – in der Mehrheitssprache. So wie Kafka als Prager Jude deutsch schreibt, oder Beckett als Ire Französisch oder wie in den Schwarzen Vierteln Amerikas eine neue Sprache (black English) entsteht: Immer im Werden, variierend, spielend, subversiv, erfinderisch. Es geht also um den „unterschiedlichen Gebrauch derselben Sprache“.
4 Predigt
Einen derartigen Einbruch des Minderen in die Hochstile der Literatur untersucht der deutsche Literaturwissenschaftler und Romanist Erich Auerbach in seiner Studie zum sermo humilis von 1957.
Sein Ausgangspunkt: Für antike Ohren war die „ungriechische oder unlateinische Ausdrucksweise der urchristlichen Literatur“ – die Bibel eingeschlossen – zunächst mit einem peinlichen Empfinden verbunden. Dies war allerdings um das Jahr 400 nicht mehr bestimmend.
In seiner Lektüre einer Predigt von Augustinus stellt Auerbach fest, dass „diese rhetorische Art des Ausdrucks im Ganzen und alle ihre Formen […] der antiken Schultradition“ entstammen. Diese rhetorische Tradition „ist auf der Anschauung von den Rede- und Dichtungsarten aufgebaut, in welcher, nach Stufen der Würde, die Gegenstände mit der Ausdrucksweise übereinzustimmen habe; somit war es wesentlich, auch die Gegenstände nach ihrer Würde zu ordnen“. Über niedere Gegenstände sprach man im niederen Stil, über mittlere Gegenstände im mittleren und über erhabene Gegenstände im erhabenen Stil.
Augustinus übernahm und begründete dieses Prinzip in der jeweils „verfolgten Absicht“ der Rede. Den Bezug auf die Gegenstände wies er jedoch zurück. Auerbach sieht hierin „eine so bedeutende Abweichung von der rhetorischen und überhaupt literarischen Tradition, dass es nahezu die Zerstörung ihrer Grundlagen bedeutet“.
Ein minderheitlich-werden: Im christlichen Zusammenhang verlieren die niederen, alltäglichen Gegenstände ihre Niedrigkeit und höchste Gegenstände des Glaubens können in niederer Ausdrucksweise jedem verständlich vorgetragen bzw. gepredigt werden. (Lk 1, 46-55)
5 Volkssprachen
Mit historischen Veränderungen der lateinisch-sprachigen Kulturen änderte sich auch die Sprache selbst. Das Lateinische wurde weniger „antikisch“ (Auerbach). Das zog Veränderungen des christlichen Sprachgebrauchs nach sich. Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die um 1300 virulent wurde.
Die Gesellschaften hatten sich diversifiziert und individualisiert. Die Volkssprachen drängten in die dem Lateinischen angestammten Bereiche wie Gerichte, Universitäten und setzten ein weiteres minderheitlich-werden in Gang. Dieser Prozess lief in mehreren Sprachgebieten fast gleichzeitig: Raimundus Lulus (gest. 1316) bewirkte ihn fürs Katalanische wie Meister Eckhart (gest. 1328) fürs Deutsche, Dante (gest. 1321) fürs Italienische.
Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch folgt in Bezug auf die genannten Autoren der sermo-humilis-Spur Auerbachs: „Sie formulierten einen neuen, nicht mehr feudalen, nicht mehr benediktinisch-monastischen Weltbegriff, einen neuen Begriff des Menschen und der Religion. Sie griffen die Armuts- und die Frauenbewegung auf, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts die kulturelle und kirchliche Gesamtsituation umgestaltet hatten. Eckharts Predigten drücken eine neue, nicht mehr hierarchisch fixierte Sichtweise aus, die Stadtbürger und Frauen als die ihre anerkennen konnten. Gleichzeitig mit Dante und Lull erklärte ihnen Eckhart, dass Adel nicht an Blut, Familienbesitz und feudales Lebensgefühl gebunden sei; es lag jetzt an jedem selbst, ob er ‚edel‘ war. Eckhart radikalisierte die Armutsidee, um einer neuen Autonomie zu Wort und Realität zu verhelfen: Der Mensch soll verzichten, nicht nur auf Macht und Geld, nicht nur auf kollektives und privates Eigentum, sondern auf alle äußeren Rücksichten, auf Herkommen und Ansehen, aber auch auf jenseitige Belohnungen. Er soll nicht um Lohnes, aber auch nicht um Gottes willen tun, was er tut. Er soll alles lassen, die Welt, sich und Gott.“
Mit der Verurteilung von Meister Eckhart (1329) erlitt die deutsche Entwicklung einen deutlichen Rückschlag. Erst Martin Luther gelang der Durchbruch mit seiner Bibelübersetzung und einer nachhaltigen Prägung der deutschen Sprache.
6 Reformation
Aber „[g]erade Luthers Provinzialität, seine im Vergleich zu Leonardo und Machiavelli unleugbare Befangenheit in einer durch die spätmittelalterliche Entwicklung selbst bereits gesprengte ‚Mittelalterlichkeit‘ ermöglichten ihm seine breite Wirkung“, analysiert Kurt Flasch in „Das philosophischen Denken im Mittelalter“ weiter. „Leonardo und Machiavelli hatten auf das Missverhältnis von Vernunft und Weltlauf, wie es sich gegen 1520 abzeichnete, radikaler und origineller geantwortet. Indem Luther den anthropologischen Pessimismus, der sich jetzt nahelegte, theologisierte, verfestigte er die Zerrissenheit, die ohnehin vorhanden war“.
Luthers pessimistisches Pathos wird deutlich, wenn man ihn „einmal nicht als den Entdecker einer zeitlosen christlichen Wahrheit, sondern als Rezipienten der spätmittelalterlichen Schulwissenschaft“ und im Vergleich mit seinen Zeitgenossen liest. „Luthers Texte sind Dokumente der Zeit um 1520. Sie erhalten ihr historisches Profil“, wenn wir sie lesen neben Schriften von Erasmus, Pomponazzi‚ Machiavelli‚ Thomas Morus und anderen.
Alle genannten Zeitgenossen Luthers hatten den Mut, eigenständig zu denken. Sie sparten nicht an Kritik der Kirche gegenüber und waren überzeugt, dass Veränderungen dringend nötig waren.
Gott, heylger schöpffer aller stern,
erleucht uns, die wir sind so fern,
zurkennen deynen waren Christ,
der vor uns hye Mensch worden ist.
Dann es ging dier zu hertzen sehr,
das wir gefangen waren schwer
solten ewig des todes sein;
drum namst du auff dich schuld und peyn.
Do sich die welt zum abent want,
der breutgam Christ ward so erkant.
auß seyner mutter kemerleyn
Die junckfraw blieb zart und gantz reyn.
Erzeycht hat er sein groß gewalt,
das es inn aller welt erschalt,
sich müssen bigen alle knie
im hymel, hellen und alhye.
Alles, was durch yhn geschaffen ist
Dem gibt er kraft, wesen und frist
nach seynes willens ordnung zwar
yhn zu erkennen offenbar.
Wir bitten dich, o heylger Christ,
wann du künfftiger richter bist,
lehr uns hyevor deinen willen thun
und im glauben nemen zu.
Lob, preyß sei, vater, deiner krafft
deym zarten Sohn, der all ding schafft,
inn eynem wesen der dreyheyt,
mit dem geyst deyner heyligkeyt.
Amen.
(Thomas Müntzer (1523) // BWV 602)
7 Luther minor
Dabei könnte gerade eine minderheitliche Lesart seiner Schriften einen Martin Luther vorstellen, der behutsam, aber deutlich aus dem Schatten seines augustinischen Pessimismus hervortritt. Was bedeutet eine mindere Lesart, eine lecture mineure? Sie bedeutet eine Variabilität von Perspektivwechseln.
Hierzu müsste man zuerst einen Autor, „der als groß angesehen“ wird, wie in unserem Falle Martin Luther, „als kleinen Autoren behandeln“, um seine „Möglichkeiten des Werdens wieder zu entdecken“, wie Deleuze derartige Prozesse in seinen „Kleinen Schriften“ beschreibt. Denn zu Größe wird man erhoben: „Aus einem Denken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine Kultur, aus einem Ereignis eine Geschichte“. Auf diese Weise „täuscht man Anerkennung und Bewunderung vor“, in Wirklichkeit „normiert man“ jedoch den Autor, unterwirft ihn einer Norm. Es geht also darum, sich diesem Vorgang der Normierung durch „Geschichtsschreiberei“ zu widersetzen. „Operation für Operation“ in einem geradezu chirurgischen Sinne kann man sich den Vorgang des Großmachens auch umgekehrt vorstellen: „Depotenzieren (französisch minorer), ein von Mathematikern angewandter Begriff“. Man müsste also dem jeweiligen Autor entsprechend eine Methode des minderheitlich-werdens entwickeln, um die „Prozesse des Werdens gegen die Geschichte freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ mit dem Ziel, „jene aktive minderheitliche Kraft wieder zu finden.“
Vor diesem Hintergrund hat Martin Luther ausdrücklich Anlass gegeben, ihn als kleinen Autor zu lesen. Und vieles spricht dafür, ihm als solchem sogar den Vorzug zu geben. Als Erfinder des sermo humilis in deutscher Sprache mit seiner Übersetzung zunächst des Neuen Testamentes, dann der gesamten Bibel, stellt sich Luther als kleiner bzw. minderheitlicher Autor vor: Er übersetzte die Bibel, mit dem Ziel, dass alle, jede und jeder, die Heilige Schrift lesen könne. Auch seine Choräle und Choralbearbeitungen gehören hier her. Dann hat er selbst minderheitliche, ausdrücklich kleine Schriften wie den „Kleine[n] Katechismus“ oder „Ein[en] kleine[n] Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle“ verfasst. Hier liegt der Zugang zu einem Luther minor versteckt.
8 Theologie
Die Richtung der Antwort auf die Frage nach einer „minderen Wissenschaft“ – also ihrem minderheitlich-werden – zeigt der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro.
„Was ist die Anthropologie den Völkern, die sie erforscht, [also ihrem Forschungsgegenstand] in begrifflicher Hinsicht schuldig?“
In historisch-kritischer Sicht bedeutet diese Frage für eine Disziplin zunächst, die Strukturen und Konjunkturen ihrer Machtgefüge, sowie die ideologischen Debatten in ihren intellektuellen Feldern und akademischen Kontexten offen zu legen und zur Disposition zu stellen.
Daraus ergeben sich Perspektivwechsel. Sie zeigen, „dass die interessantesten Begriffe, Probleme, Entitäten und Akteure, die von anthropologischen Theorien hervorgebracht werden, in der Vorstellungskraft gerade jener Gesellschaften selbst wurzeln, die durch sie erklärt werden sollen“.
Mit anderen Worten: ein minderheitlich-werden von Wissenschaft besteht darin, „Theorie und Praxis der permanenten Dekolonialisierung des Denkens zu sein.“ Und das bedeutet eben konkret, im Anderen nicht immer nur die Maske zu entdecken, hinter der wir selbst stecken, sondern in ihr/ihm ein Bild zu sehen, in dem wir uns nicht erkennen. Somit bietet „jede Erfahrung einer anderen Kultur die Gelegenheit zum Experiment mit unserer eigenen Kultur“.
9 Erfahrungen
Entscheidend für das Selbstverständnis der evangelischen Kirchen in der DDR wurde der Aufruf des Erfurter Probstes Heino Falke an die Christinnen und Christen in der DDR, sich ebenda zu engagieren „für eine verbesserliche Kirche in einem verbesserlichen Sozialismus“.
Was das für die Menschen mindestens bedeutete, beschreibt Falcke in folgender Erinnerung: „Als uns 1980 Roger Schutz aus Taizé besuchte, kam es auf dem Domberg in Erfurt zu folgender Szene: Wir standen als Leiter des Gottesdienstes oben vor dem Dom, da löste sich aus der Gemeinde zu Füßen der Domstufen ein kleiner Junge und stieg ganz allein vor allen die Treppe hinauf. Wir hielten den Atem an. Das war ein wunderbares Symbol für uns Christen in der DDR – sich zu wagen, alleine aus der Menge heraus seinen Weg zu gehen.“
Die Kirchen in der DDR wurden in kleinen Schritten zu Orten der Veränderung und boten ein Dach für verschiedene Aktivitäten und Aktivisten in Bereichen wie Frieden, Menschenrechte und Bewahrung der Schöpfung. Sie bot unangepassten bzw. verbotenen Dichtern, Liedermacherinnen, Bands und Künstlern provisorische Plattformen und setzte sich für Wehrdienstverweigerer, Ausreisewillige und andere politisch Verfolgte ein, die meist nicht ihre Mitglieder waren. Neben offiziellen Treffen und Gesprächen mit staatlichen Stellen fand diese Existenzform des Christseins in der Minderheit ihren Ausdruck in unkonventionellen Gesten wie der folgenden:
Der Schweriner Bischof Heinrich Rathke kündigte dem Rat des Bezirkes an, wenn eine junge Frau, die von der Polizei wegen ihres Aufnähers – jenes auf Vliespapier gedruckte Motiv eines sowjetischen Denkmals vor dem UNO-Gebäude in New York, das einen Schmied zeigt, der mit dem aus dem Propheten Micha zitierten Satz ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ umschmiedet – festgehalten wurde, nicht innerhalb einer halben Stunde freigelassen werde, stünde er mit dem Aufnäher auf seinem Ärmel vor dem Gebäude des Rates des Bezirkes – eine belebte Gegend in der Bezirksstadt Schwerin –, bis er ebenfalls festgenommen würde oder bis die junge Frau frei sei. Sie wurde alsbald freigelassen.
Rathke arbeitete nach seiner Zeit als Landesbischof übrigens als einfacher Pastor in der evangelischen Kirche der mecklenburgischen Kleinstadt Crivitz zwischen Schwerin und Parchim.
Für die Kirchen der ehemaligen DDR entwickelt sich die Erfahrung der Wende zur Lektion eines minderheitlichen Im-Werden-Bleibens. Und dies nicht nur in ihrer Rolle den Verhältnissen der ehemaligen DDR gegenüber. Auch im Zusammenspiel mit den Kirchen aus der alten Bundesrepublik stellte sich die kirchenpolitische Realität als eine Lektion heraus. Sie besteht bis heute darin, zu verstehen, dass minderheitlich werden eben gerade nicht bedeutet, mehrheitlich werden zu wollen.
10 Liturgie
Diese Sichtweise eröffnet kirchengeschichtliche Perspektiven mit großer Transformationskraft. Denn Kirchen sind als realpolitische Verwaltungsapparate traditionell mehrheitlich und damit – kirchengeschichtlich konkreter – konstantinisch verfasst.
Unter Kaiser Konstantin hatte sich die Kirche von einer tolerierten zu einer privilegierten und schließlich zur herrschenden Institution entwickelt. Sie differenzierte sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedliche administrative Regime. Mit der Teilung der Kirchen in Ost- und Westkirche unterschieden sich von der Kirche imperialer Administration katholischer Prägung verschiedene Kirchen nationaler Administration orthodoxer Prägung. Mit der Reformation kamen Kirchen landesfürstlich-ministerialer Administration evangelischer Prägung dazu. Diese Figuren der Kombination von Christentum und Herrschaft dominieren seither die Kirchen.
Im Laufe der Geschichte sind immer wieder minderheitliche Entwicklungsformen innerhalb wie außerhalb der konstantinischen Administrationen aufgetreten. Die in unserem Zusammenhang markanteste war die franziskanische Reformation mit dem ordo fratrum minorum, dem Orden der Minoriten, der Minderbrüder.
Bei seiner Untersuchung des nur scheinbar abgelegenen Genres der Ordensregeln stößt der italienische Philosoph Giorgio Agamben auf das in ihnen ausgedrückte Verhältnis zwischen Armut und Eigentum. Ihn interessierte jedoch nicht so sehr die Armut als solche, sondern die Art und Weise, in der die Franziskaner den Gebrauch wichtiger nehmen als das Eigentum. Das ist genau der Punkt, an dem der minoritische Impuls auf Grundfragen konstantinisch geprägten Rechtes stößt und es minorisiert.
„Für den Orden wie für seinen Gründer ging es um die abdicatio omnis iuris, das heißt, um die Möglichkeit, als Mensch außerhalb des Rechts zu existieren.“ Die Minderbrüder wollten sich also jeglicher Güter bedienen (simplex usus), „ohne irgendwelche Rechte (weder ein Gebrauchs- noch ein Eigentumsrecht) an ihnen zu haben“.
Dies regelten sie technisch durch die Unterscheidung von Eigentum und Gebrauch. Dabei ist der Gebrauch noch konkretisiert bzw. begrenzt durch den Begriff der Notlage: Die Minoriten haben im „Normalzustand, in dem den Menschen positive Rechte zustehen“, kein Recht. Sie haben „lediglich eine Erlaubnis des Gebrauches“ und das „nur in der äußersten Notlage“. Nur dann „treten sie wieder mit dem – natürlichen, nicht positiven – Recht in Beziehung“. Sonst haben sie keine Beziehung zum Recht. „So wird, was für die anderen normal ist, für sie zur Ausnahme, was sich den anderen jedoch als die Ausnahme darstellt, ist für sie Lebensform.“ (Mt 5, 1-12)
In dieser Hinsicht wird die Aufgabe einer kommenden Kirche zu großen Teilen eine minorisierende Erfindungsaufgabe sein.
11 Gemeinschaft
Wie lässt sich Gemeinschaft minderheitlich denken, also jenseits von mehrheitlichen Standards wie Zugehörigkeit (Sein, Blut, Volk), Mitgliedschaft (Einschluss, Ausschluss) oder Ausrichtung auf ihr eigenes Werk (Produktion, Zweck, Interesse)?
In einem seiner letzten Interviews beschrieb der französische Philosoph Jean-Luc Nancy solche Gemeinschaft als eine Gemeinschaft, die sich dessen „bewusst wäre, dass sie keine gemeinsame Substanz hätte, dass sie eben keine Sache gemeinsam hätte, keine Rasse, keine Nation, nicht einmal ein Aggregat, aber ein Teilen (partage), eine Zirkulation, ein Teilen von Sinn (sens).“
Angesichts der aktuellen Weltlage nimmt eine solche Gemeinschaft vielleicht am ehesten als eine „Solidarität der Erschütterten“ konkrete Gestalt an, wie sie der tschechische Philosoph und Sprecher der Charta 77, Jan Patočka, beschrieb.
12 P.S.
Wenn die Gemeinden langsam kleiner werden, die Kirchen innerhalb eines Gemeindebezirkes zahlreicher, wenn es weniger ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer gibt … was geschieht dann?
Es wird andere Verwaltungs- und Finanzierungsformen geben. Lebensformen werden sich verändern. Pfarrerinnen und Pfarrer werden vielleicht z.T. in anderen Berufen ihren Lebensunterhalt verdienen und auf Erfahrungen zurückgreifen wie die der Arbeiterpriester. Es wird andere Formen der Gemeinschaft geben, die sich etwa von den Kleinen Schwestern Jesu inspirieren lassen. Kirchengebäude werden (auch) anders und vielfältiger genutzt oder besser: bewohnt werden.
Das soziale und politischen Engagement der Kirchen wird andere Organisations- und Ausdrucksformen finden. Manche bewährte Struktur wird vielleicht auch so bleiben, wie wir sie kennen. Sie wird lediglich ihren repräsentativen Charakter verlieren. Vieles wird provisorischer werden.
Was aber könnten Christen den Menschen, die nicht glauben, unter denen sie leben, geben? Und zwar (eben nicht interessengeleitet etwa im Sinne von gemeinsamen Aktionen [das sicher auch], sondern) im Sinne von Gnade. Was könnten sie den Menschen, unter denen sie leben, also schenken?
In einem Porträt über das alte Kloster Sucevita in der Bukowina im Norden Rumäniens sagt ein orthodoxer Priester folgendes: „Wenn es keine Liturgie, keine Erinnerung an den Tod mehr gibt, endet die Welt. Das ist eine über Jahrhunderte weitergeführte Tradition. Die Kirche ist nicht nur für die Lebenden, sondern auch für diejenigen da, die eingeschlafen sind, diejenigen, die gestorben sind. Der Hauptunterschied zwischen den Christen im Orient und Okzident ist, dass die westlichen Religionen diesen Bund mit den verstorbenen Ahnen verloren haben. Aber bei uns im Orient bleibt die Verbindung zwischen den Lebenden und denen die eingeschlafen sind, erhalten. Wir sind ein Ganzes. Eins in Christus.“
Man muss diesem Priester nicht in jeder Nuance zustimmen. Aber wäre das nicht Etwas, wenn man über die Christen sagen würde:
Sie weisen niemanden ab. Sie vereinnahmen niemanden. Jede Tote und jeden Toten begraben sie mit heiterer Würde aus Respekt vor dem gelebten Leben. Sie verschenken dies an die Menschen, unter denen sie leben, auf eine Art und Weise, die es jeder und jedem, die das möchte, ermöglicht, ein solches Geschenk auch anzunehmen.
Dietrich Sagert