In der pointierten Beobachtung des schweizer-französischen Filmregisseurs Jean-Luc Godard haben die Deutschen wegen der Schrecken, die sie eigenhändig während des Zweiten Weltkrieges verbreitet hatten, „selbst die Idee, Deutsch zu sein, verloren bzw. diskreditiert“.
Deshalb „hat ein Teil gewählt, amerikanisch zu werden, und der andere Teil, sich nicht zu bewegen.“ Und Godard fügt hinzu: „Das, was mich frappiert hat zwischen den beiden Deutschlands, ist ein sehr bewegender Moment, an dem man einen bestimmten Funken sieht, ein Licht, ein historisches Licht, in dem man auf eine bestimmte Weise noch das alte Deutschland sieht, denn Ost-Deutschland hat sich nicht bewegt seit 40-45. Man sieht also noch ein altes Deutschland. Man sieht ein neues Deutschland, das tiefgreifend amerikanisch ist, während das alte eher preußisch ist.“1
Godard äußerte seine Intuitionen zu Deutschland im Jahre 1990 anlässlich des Filmstarts seines bis heute fast unbekannt gebliebenen Films „Allemagne neuf zéro: solitudes, un état et des variations“2. Er ist noch immer einer der wichtigsten Filme über Deutschland, über den solitären Zustand dieses Landes und seiner Suche nach seiner Form von Identität.
Bis heute haben Film und Statement Godards eine überraschende Aktualität. Nicht zuletzt lässt sich von ihnen aus ein erhellendes Licht auf den Zustand wenigstens der evangelischen Kirchen in beiden Teilen Deutschlands werfen.
Die o.g. Amerikanisierung hat im Gegensatz zum Nichtbewegen zumindest eine Anfälligkeit, um nicht zu sagen Naivität, gegenüber Sprachformen und ihren ästhetischen Derivaten hervorgebracht, die man kommerziell oder auch konsumistisch nennen könnte.
Konsumistische Sprach- und Redeformen3 folgen den Strategien des Marketings und damit der Dynamik eines Marktes, der geradezu hypostasiert wird. Das einzige Interesse eines Marktes allerdings ist Verkauf, Gewinn und Geld, also Konsum.
Die Sprache des Marketings arbeitet so, dass sie an allen möglichen Sprachformen, auch den alten, Glaubwürdigkeitsanleihen macht. Diese Glaubwürdigkeitsanleihen überträgt sie auf ein Produkt, um es zu verkaufen. Hat sich die übertragene Glaubwürdigkeit im Verkauf erschöpft, muss eine andere Sprachform gefunden werden. Die einmal beliehene bleibt ausgehöhlt, einem Kadaver gleich zurück. Sie ist korrumpiert.
Man kann diese Strategie vampiristisch nennen und nimmt ihre Fährte sofort auf, sobald man sich klarmacht, wofür z.B. Worte wie Kredit oder Schuld, Verschuldung heute mehrheitlich benutzt werden. Das schlagende Beispiel geradezu sprach- (und bild-) prostituierender Praxis ist die Technik sex sells: Was wird in der Welt der Reklame nicht alles mit Sex in Verbindung gebracht, nur um verkauft zu werden. Da sind alle Grenzen von Diskretion und Stil weit offen.4
Die hier skizzierte konsumistische Redeweise breitet sich längst auch außerhalb des ökonomischen Bereiches des Marketings aus. Man hält sie allgemein für professionell. So dominiert sie bereits die Sprache der Politik. In der Folge werden in politischen Statements immer weniger Informationen verbreitet, sondern es wird kalkuliert, wie man eine Sachlage den Leuten am besten verkauft. Und schon schliddert man auf der glatten Konformität der Marketingsprache dahin.
Die geradezu „reine“ Form der konsumistischen Rede liegt in der Sprachpraxis eines schamlosen deal making. Dabei wird „zur Sprache dasselbe Verhältnis wie zu[m] Geld“ eingenommen. Sprache wird „als Privateigentum“ betrachtet. Die derart Sprechenden sind also „nicht nur Großgrundbesitzer“, sie sind „auch Großwortbesitzer“. So wie ihnen ihr „Geld ganz alleine gehört“, gehören ihnen „auch die Sprachbedeutungen“. Sie sind ihr „symbolisches Kapital“.
Und was macht z.B. ein „Immobilienhändler mit seinem symbolischen Kapital? Er bewirtschaftet es, er dealt mit Wörtern und investiert sie in []ein neues Geschäftsfeld, in die Vermehrung politischer Macht. […] Sprechakte als politisches Investment.“
Lässt eine „verbale Investition“ die „politischen Aktien“ am „Meinungsmarkt“ steigen, so lässt sie sich als Gewinn verbuchen. Muss ein verbaler Rückzieher gemacht werden, dann wurde die „Gewinnerwartung kurzfristig enttäuscht“ und nach unten korrigiert – eine Fehlkalkulation der „semantischen Transaktion“.5
Ein solcher Sprecher, eine solche Sprecherin verwandelt sich in „das Musterexemplar des ökonomischen Menschen“. Im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts „formierten sich in naturrechtlichen und moralphilosophischen Diskursen einige Bauteile, die sich zum Passepartout eines ökonomischen Menschen fügen“.6
Demnach betritt mit dem ökonomischen Menschen „nicht nur ein rationales, sondern ein leidenschaftliches Subjekt“, die Bühne, das „seine Leidenschaften allenfalls über eine Mechanik der Interessen reguliert“. Der leidenschaftliche ökonomische Mensch agiert als „blindes Subjekt eines beschränkten Wissens“.7 Die Beschränkung seines Bewusstseins auf den engen Horizont ökonomischer Interessen machen es klug, bringen es voran und harmonisieren den sozialen Verkehr. Folglich widerstreben dem ökonomischen Menschen „die Einrichtung eines guten Systems (von Gesetzen, Institutionen, Verwaltungen etc.)“ als „Unheil des Viel-Regierens“. Er nimmt den „Mechanismus des Marktes zum Test für die Effizienz aller künstlichen Einrichtungen“, die sonst das Leben bestimmen. Diese Kombination von Eigenschaften schließt indes nicht aus, dass der ökonomische Mensch ein „besonders gut regierbares“ menschliches Exemplar darstellt. „Die Prioritäten Ökonomie, Tausch und Markt schaffen ein Milieu, in dem sich die Begierden und Interessen des ökonomischen Menschen selbst regieren, selbst steuern, balancieren und kompensieren. Das Gesetz, das hier Ordnung stiftet, ist den einzelnen Agenten nicht äußerlich. Es entspringt ihrem selbstsüchtigen Herzen und regiert besser und effektiver als jeder Regent“: „als unsichtbare Hand“.8
„Alle diese Elemente möblieren das Gehege des ökonomischen Menschen und prägen eine liberale Idylle des Marktes […] Das Preissystem übernimmt die Aufgabe, ein abwesendes Zentrum zu ersetzen und ebenso unbeabsichtigt wie unbewusst aus divergierenden Einzelkräften eine Ordnung zu garantieren. Ohne sich lieben zu müssen, ja selbst ohne sich wirklich und willentliche zu verständigen, treiben sie mit ihren Eigeninteressen die Verbesserung der Lage aller hervor. Das Wirken der ominösen unsichtbaren Hand bringt es mit sich, dass die einzige Verantwortung der ökonomischen Akteure eben nur darin bestehen kann, für nichts und niemanden verantwortlich zu sein.“9
Worte im Munde des ökonomischen Menschen haben nichts als einen Tauschwert „so flüchtig wie Geld“. Ihr „Bedeutungskern“ wird „dereguliert“ und ihnen wird ihr „kommunikativer Kredit“ entzogen, ihre Glaubwürdigkeit.
Es überrascht nicht zu sehen, dass die konsumistische Rede im Feld des Politischen mit Worten im Sinnes ihres „politischen Tauschwert[es]“ umgeht. Sie gehorchen dann „nur noch einer einzigen Grammatik: dem Willen zur Macht“.10
Was der ökonomische Mensch religiös hervorbringt, kann man an großsektenartigen evangelikalen Kommerzkirchen, die Namen wie Prosperity Gospel11 tragen, studieren.
Man könnte das beschriebene Phänomen für ein Amerikanisches halten. In rhetorisch homiletischem, aber auch in liturgischem Zusammenhang hat die naive Übernahme von ästhetischen Formen des Kommerzes auch hierzulande und nach „neun null“ ihre Auswirkungen und Nachahmer in kirchlichen Handlungsfeldern.
Nun kommt eine konsumistische Rede selten allein. Sie hat Begleitung und Helfer, Agenten. Wir nennen sie Medien, beispielsweise und inzwischen nachgerade klassisch: das Fernsehen.
„Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form.“12 So steht es im ersten Kapitel der „Fernsehtheorie. Zur Einführung“ des Medienwissenschaftlers Lorenz Engell.
Wie immer die Dauerpräsenz des Fernsehens, seine Form von Repräsentation der Realität bzw. seine Auflösung oder Umwandlung in geschlossen in sich zirkulierende Selbstrepräsentationen des Mediums, oder ihre Mechanismen von Kontrolle und Disziplinierung theoretisch zu bewältigen ist, so deutlich ist doch eine Erfahrung: „einmal unbeteiligt und in Ruhe gelassen zuschauen“ ist schier unmöglich.
Permanent wird „man von Ansager, Moderator, Nachrichtensprecher […] ins Visier genommen“; wenigstens scheinbar, „denn dessen Blick stiert scharf am Zuschauer vorbei zum Teleprompter. Wie dumm muss ein Medium eigentlich sein, wenn es nicht einmal das bisschen Abstand zur eigenen Produktionsweise aufbringt, um darauf zu achten, dass die attraktivere Verführung nicht in ständiger Eroberungsgeste besteht, sondern in der Chance, auch einmal schweigen zu können! Statt, dass das Fernsehen sich auf seine Möglichkeiten besinnt, Bilder zeigt und schweigt, quatscht es uns voll. Nur wenn’s ganz lustig wird, brauchen wir nicht mehr zu lachen, das wird dann schon eingespielt.“13
„Es gibt überhaupt keine unkommentierten Bilder, kein ungeschnittenes und uns nicht ständig bevormundendes Material mehr“. Hinzu kommt: „Es gibt im deutschsprachigen Fernsehen auch keine nichtdeutschen O-Töne. Nirgends“. Das dafür vorherrschende Motiv scheint „die Angst vor dem Nichtverstehen“ zu sein.14
Darin lässt sich der Grundansatz einer Kritik sowohl an der konsumistischen Rede als auch ihrer derivaten ästhetischen Formen ausmachen:
„Dabei könnte gerade das, was man nicht versteht – was Rätsel bleibt, ein Geheimnis also, etwas Poetisches, vielleicht etwas, was sich nicht erschließt –, aufregend sein, weil doch das, was gemeinhin unter Verstehen verstanden wird, nur die Reduktion auf das ist was man vorher schon gekannt hat. Was wir also verlieren, bevor wir es gewonnen haben, ist zum Beispiel der mögliche klangliche Genuss von anderen Sprachen, Stimmen, Metren, Farben. Das funktioniert nur bei Fremdsprachen, bei denen genau diese Qualitäten durch das semantische Verstehen, durch die Kenntnis der Bedeutung von Worten und Sätzen nicht verstellt oder verdeckt sind.“15
Und folgender Vorschlag macht die Aktualität und dringende Notwendigkeit einer Kritik konsumistischer Formen klar:
„Wenn in allen Nachrichtensendungen, Dokumentarfilmen, politischen Magazinen die Stimmen aus Afrika, China oder aus Dänemark im Original zu hören wären und erst anschließend übersetzt oder untertitelt würden, dann könnte man schon in einer Woche eine im weitesten Sinne politisch-kulturelle Erfahrung machen, die über jeden Urlaub hinausweist. Unser Nachholbedarf in Sachen Respekt vor dem Fremden könnte auf diese Weise ganz schnell aufgehoben werden.“16
Pause. Pause im Theater.
Ich komme zurück in den Zuschauerraum. Sein Boden ist asphaltiert, die Wände mit riesigem schwarzen Lametta ausgekleidet. Da ist das russische Holzhaus, Lattenzäune. Was in Innenräumen – Sauna, orthodoxe Kapelle – geschieht, wird direkt über Kameras auf eine große Videowand projiziert. Doch noch ist alles leer. Der Saal füllt sich. Die Leute nehmen wieder Platz auf großen Sitzsäcken. Langsam verstummt das Murmeln, die Türen werden geschlossen.
Plötzlich auf der Leinwand: Nachtbilder live aus einer Stadt. Berlin: der Fernsehturm, Hotelhochhäuser, fern das Rote Rathaus, Straßen, Beleuchtungen vielerlei Art, Reklame, Autos, Fahrgeräusche, Krankenwagen… Vor dieser Kulisse erzählt Alexander Scheer, einer der Brüder Karamasow, in rebellisch verstörender Intensität auf dem Dach des Theaters direkt im Spiel mit einer beweglichen Kamera die alte Legende:
„Warum bist du gekommen, uns zu stören? … Erst jetzt, gerade jetzt sind diese Menschen von ihrer uneingeschränkten Freiheit überzeugt, während sie selbst uns ihre Freiheit ehrerbietig vor die Füße gelegt haben. […] Erst jetzt ist es möglich geworden, an das Glück der Menschen zu denken! …
– Aber Er antwortet nicht. Er nähert sich nur plötzlich dem alten Mann und küsst ihn still auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen…“
Gospodu pomolimsia, gospodi pomelui.17