Als Martin, der damals noch Luder hieß, 1483/84 im kursächsischen Mansfeld geboren wurde, unterbreitete Christoph Kolumbus dem portugiesischen König Johann II. seine Schifffahrtspläne. Sie führten wenig später zur Entdeckung Amerikas (1492). Diese Weltentdeckung ließ Martin Luther Zeit seines Lebens „seltsam unberührt“1. Dabei hatte, bizarrer Weise, Kolumbus zur Vorbereitung seiner Weltentdeckungsfahrt die Schriften eines Autors studiert, dessen Sentenzen Luther, einer Äußerung Melanchthons folgend, fast auswendig kannte: Pierre d’Ailly.2
Aber wenn Luther von den „Grenzen der Zivilisation“ sprach, meinte er Wittenberg. Wenn er überhaupt Bezug auf die sogenannte Neue Welt nahm, dann unter dem Gesichtspunkt der Mission: „die da heiden seint und niemand hat in gepredigt“3, oder unter dem Gesichtspunkt von von dort eingeführten Krankheiten, die er als Zeichen des Endes der Zeiten verstand: „Unum de signis magnis ante diem Extremum“4.
Als Luther sich 1521 von Wittenberg aus nach Worms aufmachte, ahnte er nicht, in welche Zusammenhänge ihn die Entdeckung der Neuen Welt eigentlich stellen würde. Auch das sollte Zeit seines Lebens so bleiben. Der persönliche Drehpunkt dieser Verwicklungen ist Karl V.
Im Konflikt mit Rom hatte Martin Luther wenigstens für einen Moment gehofft, Papst Leo X. von seinen Reformen überzeugen zu können. Er hatte seine große reformatorische Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Herbst 1520 mit einem persönlichen Sendschreiben an diesen Papst geschickt.5 Aber das Manöver schlug fehl. So blieb Karl V. die einzige universelle Instanz, die Luther anrufen konnte. Es gelang, die causa Lutheri auf die Tagesordnung des Reichstages in Worms zu heben und Luther durfte vor Karl V. erscheinen.
Der noch nicht zwanzigjährige Habsburger Karl V. war 1520 mit seiner Königskrönung in Aachen nicht nur zum mächtigsten Herrscher der Christenheit aufgestiegen, sondern bereits „Erwählter Römischer Kaiser“6. Er sah sich selbst in der Folge Karls des Großen und somit als Hüter des christlichen Abendlandes. So war er gewillt, „die Reinheit des christlichen Glaubens mit allen Mitteln zu verteidigen“, aber auch bereit für „die notwendige institutionelle wie spirituelle Erneuerung des Christentums, allerdings verbunden mit der Gewissheit, dass dies ohne jenen tiefen Bruch möglich ist, und sein muss, den der deutsche Reformator Martin Luther in eben jenen Jahren provozierte“.7
Die direkte Begegnung zwischen Martin Luther und Karl V. auf dem Reichstag in Worms im April 1521 ist oft erzählt und stilisiert worden. Der Punkt größtmöglicher Tragik zwischen Martin und Karl wird sichtbar, wenn man sich dessen erinnert, das Karl in Gent auf den Spruch: „Erforsche mit Leidenschaft die Schrift“ getauft und „wo immer er als junger Mann auf ein neues Herrscheramt vereidigt worden war, war er als Erstes auf den Schutz der Kirche und die Verteidigung des reinen Glaubens eingeschworen worden“.8 Vor diesem Hintergrund dürfte Luthers berühmter Schlusssatz „Karls existentielle Betroffenheit ins Schmerzhafte gesteigert haben: ‚So bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte bezwungen9. Und so lange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.‘“10
„In Worms standen sich zwei Reformmodelle gegenüber, dasjenige Luthers der Erneuerung aus evangelischer Wurzel und dasjenige Karls der Erneuerung der Christianitas aus kaiserlicher Tradition. Damit war ‚ein weltgeschichtlicher Konflikt eröffnet; hatten sich die beiden größten Gegenspieler des Zeitalters gefunden‘. Das war nicht ausschließlich den Unterschieden geschuldet, die schließlich zu unüberbrückbaren Gegensätzen werden sollten. Vielmehr stand dahinter auch eine Nähe des jeweiligen religiösen Auftrags und nicht zuletzt die Verwandtschaft beider Protagonisten in ihrem unbedingten Willen, ihre Vision der christlichen Erneuerung zum Sieg zu bringen.“11
Schließlich führte die Begegnung von Worms zur Schlacht von Mühlberg im Jahre 1547. Ein Widerschein von Respekt gegenüber Martin Luther von Seiten Karls V. mag man darin erblicken, dass Karl das Grab Luthers in Wittenberg geschont hat.12 Hatte Karl V. in Martin Luther doch einen reformatorischen Mönch erkannt, wie er ihm in einer anderen Sache begegnet ist?
Unter dem Eindruck des Sieges von Mühlheim verfasste ein spanischer Offizier und Dichter eine Hymne an seinen Feldherrn. Darin ist nicht von Europa allein die Rede, „sondern von el suelo, also der Erde schlechthin. Religionspolitik in Europa und Christianisierungspolitik in Übersee werden verknüpft, die Auseinandersetzung mit den Protestanten in Deutschland ist in eine globale Perspektive gerückt“13.
Ende 1519 waren Schiffe aus Übersee nach Sevilla zurückgekehrt und als Karl seine Herrschaft über das Königreich Aragon antrat, konnte er, der Goldgeschenke ansichtig, die die Gesandten ihm übergaben, einen Eindruck des Reichtums gewinnen, der ihm aus der Neuen Welt zuwachsen würde. Die glänzendsten Zeugnisse wurden in einer Ausstellung gezeigt, die auch in Brüssel zu sehen war und eindrücklich in Albrecht Dürers „Niederländischen Tagebuch“14 beschrieben ist. Die Schätze aus Übersee steigerten nicht nur die Reputation des jungen Herrschers und ließen seine Aachener Krönung in Goldglanz erstrahlen, sondern sie füllten vor allem die Kriegskassen.
Im Oktober 1520 unterrichtete der Konquistador Hernàn Cortés „den jungen Kaiser über die voranschreitenden Eroberungen und das Verhältnis zwischen Spaniern und den Indios. Im Vordergrund standen stets die grandiosen Möglichkeiten, die sich dem Kaiser und Kastilien in Übersee eröffneten, bis hin zu dem unerhörten Vorschlag, das traditionelle Römische Kaisertum zu einem Weltkaisertum auszudehnen. Auch die Religion berührte der Bericht immer wieder, den Götzendienst der Heiden ebenso wie die Notwendigkeit, den Indios das Christentum durch gute Prediger und Seelsorger zu verkündigen.“15
Die realen Geschehnisse sprechen jedoch eine deutlichere Sprache. Insbesondere ein Ereignis, das wenige Monate nach dem Reichstag in Worms stattfand. Es begann bereits im Sommer 1520, besagter Hernàn Cortés erreichte mit seinen Leuten Tenochtitlán, „das politische und religiöse Zentrum des Aztekenreiches. In einem zähen, mit blutiger Brutalität, Verschlagenheit und selbstzerfleischenden Intrigen innerhalb der Konquistadoren ausgetragenen Ringen wurde das Aztekenreich vernichtet und das Land als Neu-Spanien der Krone Kastiliens unterstellt: Auf den freundschaftlichen Empfang des Aztekenkaisers Mantezuma II. folgte die traumatische ‚noche triste‘ vom 30. Juni auf den 1. Juli 1520, als der aufs Blut gereizte Aztekenadel mit unbedingtem Vernichtungswillen über die Eindringlinge kam. Die Spanier mussten ihre auf einer Insel mitten im See der Hauptstadt gelegene Bastion aufgeben, die ihnen zur Falle zu werden drohte. Auf der kopflosen Flucht wurden sie nahezu aufgerieben. In einem kaltblütigen Gegenschlag führte Cortés seine Truppen zurück – eine kleine Schar von Spaniern, vor allem aber ein großes Hilfskontingent von Indios aus den von den Azteken unterworfenen Stämmen, die an der Seite der Europäer wieder Unabhängigkeit erlangen wollten. Nach monatelanger verlustreicher Belagerung eroberte diese europäisch-indigene Streitmacht am 13. August 1521 die glänzende, mit rund 200 000 Einwohnern allen europäischen Städte weit überragende Aztekenresidenz Tenochtitlán und machten sie dem Erdboden gleich. Das war das Ende der bedeutendsten autochthonen Hochkultur der Neuen Welt mit einer ausgefeilten gesellschaftlichen und politischen Organisation, mit einer hohen Kultur und Wirtschaftsblüte. Auch ihre Religion wurde ausgelöscht – mit einem guten Gewissen der Christen, selbst der wenigen, die dem Eroberungswahn kritisch gegenüberstanden. Denn es war der Sieg über blutige Heidengötter, die Menschenopfer verschlangen.
‚Goldkastillien‘ nannte der Volksmund die Westindischen Länder.“16
Zu den wenigen, die dem Eroberungswahn kritisch gegenüberstanden gehört der Dominikanermönch Bartholomé de Las Casas. Bereits 1517 hatte er mit der Verve eines alttestamentarischen Propheten seine Stimme erhoben und „kritisierte unerschrocken die Unmenschlichkeiten und Verbrechen“ der Konquistadoren und mahnte zur Verantwortung für die „leibliche Unversehrtheit“ und das „Seelenheil“ der neuen Untertanen.17
Konkret kritisierte dieser Reformator die faktische Versklavung der Indios und ihre Zwangschristianisierung. Bereits vor der Krönung Karls V. versuchte Las Casas den jungen Herrscher von seinem Anliegen zu überzeugen: „Aber wäre der König, gerade zum Kaiser gewählt, nicht in Eile gewesen, Spanien aus diesem Grunde zu verlassen, – gewiss, Westindien wäre es gut gegangen“18.
So musste sich Bartholomé de Las Casas in Geduld üben, für die nächsten Jahrzehnten war Karl ganz mit den dringenden europäischen Fragen befasst: „Auf die Reichtümer aus Übersee konnte er umso weniger verzichten, als sein Engagement in Europa mit den regulären Einkünften aus seinen Ländern nicht zu finanzieren war. Und da es auch hier um die Sicherung des Christentums ging – gegen die protestantische ‚Häresie‘, vor allem aber bei der Türkenabwehr, sah er seinen Seelenfrieden durch die Zustände in Amerika kaum gestört.“19
Erst bei seinem Spanienaufenthalt 1541-1543 „richtete der Kaiser seine ganze Aufmerksamkeit auf das Schicksal seiner indianischen Untertanen“. Unter intensiver Mitarbeit von Las Casas wurden die Neuen Gesetze, die Leyes Nuevas, verabschiedet, in denen sich Karl „ganz für die christliche Moralposition entschieden“ hatte. Selbst wenn er in der Folge „seine moralischen Ansprüche hintanstellen und zur Realpolitik zurückkehren“, somit die Gesetze entschärfen musste, „wollte er nicht einen Aufstand oder gar den Abfall der Kolonien und damit das Versiegen der Überseeeinkünfte riskieren“.20
Unablässig kam Bartholomé de Las Casas auf sein Anliegen zurück und appellierte an das Gewissen des Kaisers. „Denn für ihn stand fest: Das Seelenheil eines Menschen zu gefährden, eines Europäers oder Indios, ist eine schwere Sünde.“21 Im Frühjahr 1550, nach dem Reichstag in Augsburg, richtete Karl eine Gelehrtenkommission ein, es begann „der erste freie Disput über Kolonialpolitik“22 und Las Casas war einer der „Fürsprecher der Indios“23.
Die Gewissensfragen wurden gestellt und diskutiert, wenn auch nicht gelöst. Realpolitisch hatte Europa den Vorrang, genauer gesagt: „Der Traum der Reinigung und der Wiedervereinigung der lateinischen Christenheit hatte für Karl zeitlebens absoluten Vorrang“24. Darin bestand die Tragödie der Indios. Worms liegt in Mexiko.