Der erste Clemensbrief an die Korinther ist eines der ältesten kirchlichen Dokumente. Darin wendet sich die „in Rom weilende Kirche Gottes” an die „in Korinth weilende Kirche Gottes”.
Um dieses am-Ort-Weilen auszudrücken, verwendet der Autor des Briefes nicht das griechische Wort, was einen ständigen, festen Wohnsitz bezeichnet, sondern im Gegenteil. Er schreibt paroikein, das Wort für „den vorübergehenden Aufenthalt des Exilanten, des Kolonisten oder des Fremden”. Es bezeichnet den „Aufenthalt des Christen auf Erden und seine messianische Zeiterfahrung”.1
Im ersten Petrusbrief (1,17) ist paroikia ein terminus technicus und bezeichnet die Zeit der Kirche. „Das Wort ‘Aufenthalt‘ sagt nichts über dessen Dauer aus; Gleich ob der Aufenthalt der Kirche auf Erden Jahrhunderte oder – wie es tatsächlich der Fall ist – Jahrtausende währt, an der eigentümlichen Natur ihrer messianischen Zeiterfahrung ändert dies nichts“.2
„Es handelt sich weder um die ununterbrochene, endlose Linie der chronologischen Zeit (die zwar dargestellt, aber nicht erfahren werden kann), noch um den unvorstellbaren Moment des Endes. Ebenso wenig kann man sie als den Zeitabschnitt denken, der sich von der Auferstehung bis zum Ende der Zeit erstreckt.
Wir haben es vielmehr mit einer Zeit zu tun, die in der chronologischen Zeit wächst und drängt und sie von innen bearbeitet und verwandelt. Einerseits ist sie die Zeit, die die Zeit benötigt, um zu enden, andererseits ist sie die Zeit, die uns bleibt, die Zeit, wie wir benötigen, um die Zeit zu beenden, um mit der gewohnten Zeitvorstellung abzuschließen, uns von ihr zu befreien. Als Zeit, in der wir zu sein glauben, trennt sie uns von dem, was wir sind, und macht uns zu ohnmächtigen Zuschauern unserer selbst.
Die Zeit des Messias hingegen ist die operative Zeit, in der wir zum ersten Mal die Zeit begreifen, die wir selber sind. Und diese Zeit ist keine andere Zeit, keine in einem unwahrscheinlichen Jenseits oder der Zukunft angesiedelte Zeit, sondern die einzig wirkliche Zeit, die Zeit, die wir haben. Die Erfahrung dieser Zeit verwandelt unsere Lebensweise, uns selbst von Grund auf.“3
Paulus nennt diese Zeit die „Jetztzeit”: „Jetzt ist der rechte Augenblick, jetzt ist der Tag des Heils” (2 Kor 6,2). „Der Aufenthalt des Fremden und die Anwesenheit des Messias haben dieselbe Struktur […] eine Anwesenheit, die die Zeit dehnt, ein schon, das auch ein noch nicht ist, eine Verzögerung, die kein Verschieben auf später ist, sondern ein Sprung, ein Bruch in der Gegenwart.“4
Diese „Zeit, die bleibt“5, als messianische Zeiterfahrung setzt eine besondere Art der Tätigkeit in Kraft. Man kann sie werklose6 Tätigkeiten nennen. Was sind werklose Tätigkeiten? Werklose Tätigkeiten sind nicht „Arbeit“, sie sind eher eine besondere Art der „Untätigkeit“.
Untätigkeit wiederum ist nicht zu verwechseln mit „Trägheit“, sondern im Sinne von „katargesis“ – vom neutestamentlichen Wort katargein zu verstehen. Katargein bedeutet aussaugen, wirkungslos machen, außer Kraft setzen, vernichten, beseitigen, ablegen, aufhören, vergehen, entbunden werden, loskommen. Eine werklose Tätigkeit entbindet eine Tätigkeit von ihrem Werk. Der auf ein Werk orientierte Antrieb einer Tätigkeit wird deaktiviert. Dadurch wird diese Tätigkeit zu einer „Tätigkeit, in der das Wie das Was vollkommen ersetzt“. Sie gestaltet sich zu einer „Lebensform“.7
Als werklose Tätigkeiten verstehen, praktizieren und leben lassen sich vor allem Tätigkeiten wie glauben, taufen, essen, trinken, beten, lesen, singen, hören, denken, lieben, grüßen oder der Dienst an einer/m Anderen bis in deren Tod hinein. Es sind eben Tätigkeiten, die überhaupt nur in besagter Zeitkonstellation ihren Sinn – ohne Werk – voll entfalten können. Ansonsten haftet ihnen immer auch irgendwie etwas Absurdes an.
Wenn das Ende plötzlich immer ist, wird dies Absurde jedoch zum Indiz, zum Anzeichen einer anderen Zeiterfahrung, die sich selbst zu unterwandern bereit ist. So könnte sie zu einer Zeit werden, die wir haben.