Liturgie ist vor allem Tun und könnte zentral für die kirchenjahreszeitliche Trinitatiszeit, die Lebenszeit sein. Liturgie ist alles Tun insofern sich in ihm eine Öffnung oder Verbindung zu einer gemeinschaftlichen Öffentlichkeit herstellen lässt (Dienst fürs Volk, oder auch: Dienst am Volk).
Das beginnt mit dem Körper und meint zunächst einmal unsere alltäglichen körperlichen Vollzüge, die dann zu Lebenszusammenhängen werden: Atmen, Essen, Lieben, also in Beziehungen treten … Und es schließt alles ein, was sich auf einer Bühne, in der Öffentlichkeit zeigen lässt. Dafür hat die griechische Tragödie Formen gefunden.
Das Christentum hat diese Formen verschiedentlich geschrumpft, ritualisiert, in Formeln verdichtet.1 Dieses Vorgehen birgt die Gefahr des Abschließens und folgenden Verkümmerns in Verwaltung. Denn das Entscheidende bleibt die Offenheit der Formen – sie müssen also geöffnet oder zumindest aufschließbar bleiben für ihre Drift in etwas, das man das Offene nennen kann.
Das meint Öffentlichkeit in einem weiteren, wiederum geöffneten Sinne:
„Ich werde mit euch von Gott sprechen, ja, aber zuerst werde ich vom Himmel sprechen und ihr begreift warum. Denn wenn es Gott gibt, ist er natürlich im Himmel. […]
Es gibt die Erde, es gibt das, was wir auf dem Horizont stehen sehen, und es gibt das, was darüber ist. Der Himmel erscheint weit weg, in der Entfernung, hoch, durchsichtig, durchscheinend, fast immateriell. Wenn ihr wollt, so würde ich sagen, der Himmel ist die Seite des Offenen. Er ist die Dimension der Öffnung. Wenn man hingegen die Erde vor uns anschaut, dann ist immer alles geschlossen. Alles hört immer in einer gewissen Entfernung auf. […]
Mit dem Himmel also und mit dem Göttlichen als dem, was im Himmel ist, damit ist […] etwas gemeint, das nirgendwo wäre, an keinem Ort – und damit zugleich überall. Etwas – falls man überhaupt ‚etwas‘ oder ‚jemand‘ sagen kann –, das oder der oder die nirgendwo und überall wäre. […]
Was die Religion in [ihrer] Form sagt, kann man, allgemeiner gesprochen, wohl auch dann verstehen, wenn man außerhalb der Religion steht. Ich rede völlig außerhalb jeder Religion zu euch. Man kann es anders verstehen. Letztlich spricht man, wenn man von Gott spricht, von diesem Namen, der wie ein Eigenname ist und dennoch kein Eigenname ist. Er ist kein Eigenname, weil er nicht jemanden bezeichnet, der irgendwo wäre und seine Eigentümlichkeiten hätte, so wie Célestin Müller seine Eigentümlichkeiten hat. Sondern Gott bezeichnet die Möglichkeit, dass es für uns, allesamt und kollektiv, aber auch für jeden einzeln und individuell einen Bezug zu diesem Nirgendwo und Überall gibt. Gott oder das Göttliche oder das Himmlische würde somit die Tatsache bezeichnen, dass ich im Bezug bin – aber nicht zu einer Sache: Vielmehr bin ich im Bezug zu der Tatsache, dass ich mich in eben diesem Bezug zum Nirgendwo und Überall nicht an diejenigen Bezüge halte, die ich zu allen Sachen der Welt habe, ja nicht einmal an diejenigen, die ich zu allen Wesen der Welt habe. Sondern dass es etwas anderes gibt, und das würde ich hier ‚die Öffnung‘ nennen: denn es macht, dass ich offen bin, dass wir, als Menschen, offen sind auf mehr als darauf, in der Welt zu sein und Dinge zu nehmen, Dinge zu handhaben. […]
Was ist dies andere? Diese andere, davon haben wir nichtsdestoweniger eine kleine Vorstellung, eine Ahnung, eine leise Empfindung. Zum Beispiel, wenn wir wissen, was es heißt, sehr große Freuden oder großen Kummer zu verspüren, Liebe zu empfinden, oder, nun vielleiht würde ich nicht sagen ‚Hass‘, aber zumindest Unliebe, Nicht-Mögen. In solchen Verfassungen, wenn wir fühlen, dass es etwas Unermessliches, etwas Unendliches gibt, etwas, dass ich auch nicht einfach irgendwohin tun kann, wenn ich also Freude oder Leid verspüre, Liebe oder Hass, Kraft oder Schwäche, dann gibt es in allem etwas, das unendlich übersteigt, was ich bin, was ich zugleich mit meiner Person, meiner Persönlichkeit, meinen Mitteln bin, mit meiner Situiertheit, mit meiner Art und Weise, an irgendeinem Ort der Welt zu sein. In all dem gibt es Öffnung. Und der Gott der drei monotheistischen Religionen und alle anderen Götter ebenfalls, der Gott stellt nichts anderes dar als das. […]
Warum soll man ihn Gott nennen? Warum haben die Religionen dieses Wort ‚Gott‘ verwendet? Warum kann man sogar außerhalb der Religionen gar nicht so einfach darauf verzichten, Gott auf die eine oder andere Weise zu benennen? Weil sich dies, weil sich diese Dimension der Öffnung und des Übersteigens nicht einfach mit […] abstrakten Namen benennen lässt. Es genügt nicht, sie Liebe, Freude, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit zu nennen. Denn man muss sich an diese Dimension wenden können, man muss sie anreden, sich auf sie beziehen können. Und warum soll man sie anreden, sich auf sie beziehen? Um ihr treu zu sein.
Was heißt denn das, so sehr man es irgend vermag, man selbst zu sein, und folglich, so sehr man es irgend vermag, Mensch zu sein? Heißt es nicht genau, diesem unendlichen Übersteigen des Menschen durch den Menschen, oder dieser Öffnung treu zu sein? Dem Himmel treu zu sein […]. Diese Treue kann sich begreiflicherweise als die Treue zu jemandem zeigen […]. Der religiöse Name dieser Treue ist das Wort ‚Glaube‘. […] Der Glaube ist der Bezug der Treue. […]
Man kann [also] zumindest sagen: Der Name Gottes und der Name des Gottes als das, was das Himmlische wäre, birgt zumindest den Hinweis auf die Möglichkeit oder vielleicht die Notwendigkeit, treu zu sein. Es ist die Treue, die ohne irgendein Element von Wissen oder Halbwissen […] dem treu ist, was ich hier die Öffnung genannt habe. Und ohne die wären wir vielleicht nicht einmal Menschen, sondern einfach Dinge unter Dingen, innerhalb der um sich selbst geschlossenen Welt.“2
Nun ist Liturgie aber auch Tun mit Worten. Diese Worte haben eine Besonderheit. Sie besteht darin, dass sie nicht nur Worte sind:
„Nicht das Wort Versöhnung, sondern das Wort der Versöhnung, also das Wort zur Versöhnung; das Wort, mit dem man die Versöhnung einleitet; das Wort, mit dem man Versöhnung anbietet, indem man als erster die Hand ausstreckt. Das Wort der Versöhnung ist also der Akt, der Sprechakt, durch den man mittels eines Wortes, indem man spricht, mit einem gesprochenen Wort die Versöhnung einleitet, sie anbietet, indem man sich an einen anderen wendet. Das bedeutet zumindest, dass vor diesem Wort Krieg und Leid geherrscht haben müssen, Traumatisierung und Verwundung.
Das heißt, nach dem gesunden Menschenverstand unwiderlegbar, dass nur ein Lebender verletzt werden kann, eine Verletzung empfangen und empfinden kann, auch wenn die Verletzung tödlich ist, die er oder sie erleidet. Eine Verletzung, die absehbar zum Tode führen wird.
Also: Verletzung, Schlag, Wunde, Traumatisierung, Riss, Schnitt, Schürfung, Kratzer Verstümmlung, Einschnitt, Herausschneiden, Beschneidung, jede erdenkliche Verletzung, wenn sie ein lebendes Gewebe trifft, hinterlässt, zumindest für eine Zeit lang, eine Narbe.
Und selbst wenn Verletzung eine biologische Chiffre für ein psychisches Leiden sein sollte, oder ein moralisches, spirituelles Phantasma, so machen Versöhnung und Vergebung doch nur dort einen Sinn, wo diese Verletzung etwas hinterlassen hat: eine Erinnerung, eine Spur. Also eine Narbe, die zu heilen wäre, oder zu lindern, zu denken.“3
Der terminus technicus für solches Tun mit Worten ist effectus4.
Liturgie ist öffentliches öffnendes Tun, Praxis des Offenen. Ihre körperliche Zuspitzung kommt in der Formel: hoc est corpus meum zugleich grundlegend und paradigmatisch zum Ausdruck.
„Das Interesse am Denken der Körper als einem hoc est corpus meum besteht darin, sich ihrer Realität in Nähe und Empfindsamkeit (sensibilité) zuzuwenden, denn nur dort kann sich Sinn (sens) erheben. Nun entwickeln aber heute die Gegenwarten von Milliarden von Körpern, die den Planeten bevölkern, durch medial erzeugte Nähe eine zunehmende Dichte und Intensität. Und das ist nicht in einem spektakulären und entwirklichenden Sinne des ‚Bildes‘ (image) gemeint. Im Gegenteil, es handelt sich dabei um eine Hyperbel des Reellen. Ich sehe jeden Tag aufständische Massen, polizeiliche Repressionen, Flüchtlingslager oder im Meer treibende Körper, Opfer von Attentaten oder von Kampfhandlungen, die weder militärisch noch zivil, sondern vor allem Folgen von Auseinandersetzungen mit schweren Waffen sind. Und ich sehe Hungernde, Kranke, Verfolgte, von ihren Territorien und von ihren Existenzmöglichkeiten Verjagte… Ja man kann sagen, dass das Wort ‚Was ihr einem meiner Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan‘ auf eine sehr befremdliche Weise widerhallt. Aber wer ist noch verbunden mit dem, der da spricht? Christus ist fast keine Figur mehr und noch weniger eine Gegenwart, die hindurchscheinen würde durch die realen Figuren der Unglücklichen. Eine einzige Sache schein hindurch: eine grenzenlose und nicht zurückdrängbare Gewalt. Eine rasend-wütende Behauptung von Macht, die den Gebrauch von Mitteln einer grauenvollen Macht schürt oder sogar heraufbeschwört.“5
Angesichts dieser Öffnung körperlicher Intimität auf öffentliche körperliche Praxis hin, kommt Liturgie als öffnendem Tun wiederum eine zeigende, zu sehen gebende Aufgabe zu:
„Jesus hatte kein Wissen über Gott: Er zeigt nur die Kleinen, die Armen, die Ehebrecherinnen, die Prostituierten, die Arbeiter der elften Stunde, die verlorenen Söhne, die Lilien auf dem Felde… Das alles erscheint manieriert, süßlich, zu freundlich, um glaubwürdig zu sein. Dennoch sind es die Wege, den Hochmut, den Willen, die Absicherung abzulegen…“6