Bevor Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus vom Glaubensbekenntnis zur Taufe kommt, macht er einen Umweg. Dieser Umweg ist zugleich ein Interpretament, das auch als Technik des minderheitlich-Werdens gelesen werden kann.

Nach dem Credo müsste eigentlich die Taufe kommen, denn der liturgische Ort von Bekenntnissen ist bis in die Bekenntnisfragmente des Neuen Testamentes zurück die Taufe. Am Wasser oder im Wasser kann man ehrwürdige Worte sprechen, die man vielleicht nicht versteht. Entfernter vom Ufer rufen sie ganze Bibliotheken auf, die sich in ‚wachsenden Ringen‘ ‚über die Dinge‘ gezogen haben.

Auf seinem Umweg öffnet Luther sein ‚Was‘ auf eine unerwartet zärtliche Art und Weise für das ‚Wer‘ eines Sprechers bzw. einer Sprecherin. Das „Vater unser“ zeigt Jesus als den „Lehrer des Vatersagens zu Gott“[1]. Und dies nicht in einem abstrakten Sinne, sondern ganz konkret: Die „vox ipsissima des Nazareners“[2] erklingt im aramäischen Abba[3].  

Den Zeitgenossen Jesu „soll, Philologen zufolge, die Anrede Abba zu respektlos vertraulich geklungen haben, als wenn heute einer übersetzte ‚Papa Gott‘ oder das ‚Herrengebet‘ beginnen ließe mit ‚Papa unser‘“.

Die Intimität dieser Anrede wird besonders deutlich, wenn sie in Spannung eines anderen aramäischen Anrufes Jesu gehört wird: „Eli, eli, lama asabthani. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46, Mk 15,34).

Mit dem Anruf Eli wird Gott „fast wie ein Fremder genannt“[4]. So fremd, dass die, die dabei standen, es für den Ruf nach dem Elias hielten oder auch für das Zitat des zweiundzwanzigsten Psalms.[5] Die Klage dieses Anrufes hat ihren unglaublichen Abgrund darin, dass „einer Gott als den Seinen anruft und zugleich ihn als den Nicht-Seinen der Verlassenheit anklagt“[6]. Ja, mehr noch, diese Klage „hat die Wahrheit eines Schreis, der noch an den ‚toten Gott‘ gerichtet sein könnte. Wenn nicht sogar erst recht an diesen.“[7] Dem konnte nur ein letzter, wortloser, wilder Schrei noch folgen.[8]

Lukas hatte diesen ans Unerträgliche grenzenden Abgrund seinen Lesern offenbar nicht zumuten wolle. Er verdeckte ihn mit einer Anspielung auf den einunddreißigsten Psalm. Anstelle des Eli legte Lukas Jesus ein anderes Wort in den Mund: Vater (Lk 23,46).[9] Was auf den ersten Blick nach einer frommen Verharmlosung aussieht, öffnet eine Frage von kaum zu überschätzender Tragweite. Deutet Lukas damit darauf hin, dass Gott von der Passion seines Sohnes nicht unberührt geblieben sein konnte, dass er durch die Passion seines Sohnes selbst ein anderer geworden wäre, wie der Philosoph Hans Blumenberg zu denken gibt? „Mussten Menschensöhne seit je danach gefragt werden, oder sich fragen, wie sie mit der Vaterlast leben konnten und können, ist hier der Gottesvater zu fragen, wie er mit der Passionslast des Sohnes hat weiter ein ›Gott‹ sein können. Ist es möglich zu denken, dass dies es war, was ihn tötete? ‚Wir setzen uns mit Tränen nieder …‘ – über jenen Tod. Auch über diesen?“[10]

„Die Polarität zwischen dem Eli und dem Abba muss stark empfunden worden sein, bevor die Urgemeinde das von Jesus sakralisierte Abba in ihre Gebetssprache übernahm. Damit hing zusammen, dass in der aramäischen Form auch die Suffixe der Possessivpronomina der ersten Person des Singular wie des Plural aufgegangen sind: Abba ist also das authentische erste Wort des ‚Herrengebets‘ gewesen, ob Jesus es für sich gesprochen oder es seine Jünger als deren gemeinsame Anrede an den gemeinsamen Vater gelehrt hatte. Überliefert ist es in der Gethsemane-Szene gespannter Vertraulichkeit mit dem Vater, der das, was da heraufkam, doch noch am Sohn vorübergehen lassen konnte.“[11]

P.S.

Als die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach dreißig Jahre nach der Staatsgründung zum ersten Mal in Israel aufgeführt wurde, hat ein prominenter Mann gefragt, was denn passiert wäre, wenn Pilatus auf Geheiß des Volkes den Barabbas gekreuzigt hätte. Hans Blumenberg greift diese Frage auf. Sie sei eine der weisesten Fragen und viel zu selten gestellt.

„Hier liegt ein Geheimnis, das mit dem Abba-Namen eng zusammenhängt. ‚Barabbas‘ ist gar kein Name, sondern die authentische Selbstbezeichnung Jesu als ‚Sohn des Vaters‘, lingua aramaica: Bar-abbas. Das passt zur Geschichte des Einzugs in Jerusalem und der Huldigung für den Sohn Davids als König der Juden. Diesen ‚Sohn des Vaters‘ hatte die erregte Volksmenge gegen den Willen des Hohen Rates freigegeben sehen wollen. Dafür hatten sie vor dem Vertreter der Besatzungsmacht demonstriert, der es nicht wagte, dem Druck des Volkes nachzugeben und sich die zu Feinden zu machen, die er zur Machtausübung brauchte. Das Volk, die ‚Turba‘, war bei dem geblieben, was sie beim Einzug in Jerusalem gezeigt und was die Priesterschaft zum Handeln getrieben hatte.

Das Volk hatte in seiner Sprache geschrien. Die Evangelisten Matthäus und Johannes, die den vermeintlichen Namen überliefern, haben es nicht mehr verstanden oder wollten es anders verstanden wissen. So wurde der Raubmörder Barabbas als der Andere erfunden und das Gottesvolk zum mörderischen Mob gemacht, der seinen König verriet.“[12]

Zittert hier das, was später die konstantinische Versuchung gewesen sein wird, bereits in der Passionsüberlieferung? Bar-abbas durfte als König nur tot sein, aber er durfte als Einziger die vertraute Anrede des Einen mit Abba als ein Privileg übertragen[13] an die armen, echten Menschen, die sich schlugen, um ihre Herrn zu stürzen, ohne aber deswegen ihre Plätze einnehmen zu wollen. Sie sind Bar-abbas und Bath-abbas.