Im Vorwort zu seinen „Meditationen über das Mysterium der Heiligen Dreifaltigkeit“ (1969) schreibt der französische Komponist und Organist Olivier Messiaen: „Die verschiedenen bekannten Sprachen sind vor allem ein Kommunikationsmittel. Sie sind im Allgemeinen von vokaler Art. Aber ist es das einzige Mittel der Übertragung? Man kann sich sehr gut Sprachen vorstellen, die auf Bewegungen, Farben und Parfüm beruhen, und jedermann weiß, dass sich die Blindenschrift des Tastsinns bedient. In allen Fällen muss man von vorher etablierten Konventionen ausgehen. Man kommt überein, dass dieses jenes ausdrücken wird. Die Musik aber drückt nichts direkt aus. Sie kann suggerieren, ein Gefühl, einen Seelenzustand auslösen, das Unterbewusste berühren, die Fähigkeiten zum Träumen vergrößern, und das sind unermessliche Kräfte: Sie kann absolut nichts ‚sagen‘, über nichts mit Genauigkeit informieren.“1
Demnach geht es bei der Trinität also eher um so etwas wie Musik oder Tanz2. In dieser Art müsste man sie auch denken bzw. ihre traditionellen Denkfiguren lesen.3
Im Ablauf des Kirchenjahres krönt das Fest Trinitatis das Heilsgeschehen nachdem sich die Trinität für den parakletos geöffnet hat. In dieser Sicht eines linearen Kreises kommt sie direkt her vom Advent und bildet einen Kirchenjahreskreis den man Passions- oder Auferstehungsring nennen könnte. Er verläuft zumindest metaphorisch eher von unten nach oben.
Aber die Trinität muss natürlich dem Advent auch vorausgegangen sein. Ihre erste Öffnung ist Mariae Verkündigung. Insofern ist sie immer auch Engelsbotschaft und Frauenwissen. Letzteres hat seinen Höhepunkt und konkretesten Ausdruck im Magnifikat. Es wird abendlich gesungen.4
Von Mariae Verkündigung aus startet ein anderer Kirchenjahreskreis, seine Stationen oder Feste wären der Besuch Mariens bei Elisabeth / Mariae Heimsuchung, das Fest Johannes des Täufers, das Michaelsfest. Konkret biologisch-kalendarisch gedacht trifft der Verkündigungsring zu Weihnachten auf den Passionsring. Seine Bewegung ist eher von oben nach unten.
Das Kirchenjahr ist also liturgisch polychron gebaut. Es besteht aus mindestens zwei Ringen, die aneinandergekoppelt sind. Die Ringe sind nicht geschlossen, sondern mehrfach in unterschiedliche Richtungen geöffnet und aneinandergekoppelt. Sie bilden eine spiralhafte, bewegte Figur mit offenen Enden. Trinität und damit ihr Fest könnte eine Art offenes Zentrum dieser Figur sein. Als solches ist ihre Bewegung dezentralisierend, aus sich herausgehend.
Anders gesagt, (spätestens) von Pfingsten an bleibt die Trinität geöffnet. Und dies zumindest auf zweierlei Art und Weise. Zum einen bleibt sie geöffnet für alles Menschliche (Mariae Verkündigung). Zum anderen bleibt sie geöffnet für alles Schöpferische (Pfingsten).
Die herkömmliche liturgische Praxis des Kirchenjahreskreises beschreibt nun das ganze Gegenteil. Nach dem Trinitatisfest stürzt die Liturgie ab in Verwaltung. Deren Inspiration beschränkt sich aufs Abzählen. Dabei erscheint sie als das Ergebnis eines historisch gesehen mehrstufigen Prozedere:
Mit der konstantinischen Hierarchisierung des Christentums geht eine dogmatische Vereinheitlichung einher. Diese bildet die Grundlage der gregorianischen Zentralisierung von Liturgien und der carolinischen Heroisierung ihrer Figuren mit einem Ziel, das man rückblickend kaum anders als die Unterwerfung der Welt bezeichnen kann.
Um liturgisch diesem dramatischen Missverhältnis zu entkommen, stellt sich eine Aufgabe, die man als Rekonstruktion beschreiben kann. Dazu müsste zuerst die von verschiedenen verwalterischen Linearisierungen dominierte Praxis der Kirchen und ihrer Mitglieder:Innen so angesehen werden, dass sie jenseits ihres notorischen Selbstbezugs beschreibbar würden. Sie müsste wie fremde Praktiken angesehen werden.
Stellen wir uns zu diesem Zwecke eine Anthropologin vor, „die sich in den Kopf gesetzt hätte“, die liturgische Praxis unsere Kirchen „zu rekonstruieren“. Stellen wir uns weiter vor, „dass sie, belehrt durch die Lektüre einiger guter neuerer Autoren, der Versuchung widerstanden hätte, ihre Forschungen auf jene Aspekte zu beschränken, die oberflächlich den klassischen Gebieten der Anthropologie gleichen – Folklore, [Gemeinde]feste, kulturelles Erbe, unterschiedliche Archaismen. Soviel hat sie verstanden: […] sie muss ihre Aufmerksamkeit auf das Herz der [Sache] richten, nicht auf die Ränder, nicht auf die Relikte, nicht auf die Überreste“.5
Stellen wir uns weiterhin vor, „was schwieriger ist, jedenfalls weniger verbreitet, dass sie weiss, wie man […] jenem Exotismus der Nähe [widerstehen kann], der darin besteht, das zu glauben, was der [Theologe, die Pfarrerin] über sich selbst sagt, sei es lobend, sei es kritisierend. Sie hat schon verstanden, dass die Berichte, die [die Kirche] von sich selbst gibt, womöglich keinerlei Beziehung zu dem haben, was ih[r] zugestoßen ist. Kurzum, es handelt sich um eine wahre Anthropologin: Sie weiss, dass allein die lange und detaillierte Analyse der Handlungsverläufe, sie dazu bringen kann, das wirkliche Wertesystem derer zu entdecken“, die sie untersucht. Man sieht, die allergewöhnlichsten Bestandteile der ethnographischen Methode.“6
Dann geht es um nichts geringeres, als aus den Ablagerungen der Tradition Leben, Erfahrung zu rekonstruieren und mit dem heutigen Leben in eine wechselseitige Beziehung zu setzen.7 Liturgie würde mit Leben verbunden werden können und Leben mit Liturgie.
Diese Verbindung realisiert sich in der homiletischen Verbindung zwischen der privaten und der öffentlich redenden Person. Sie realisiert sich in der liturgischen Verbindung zwischen alltäglichen und ritualisierten Vollzügen, sowie der Verbindung zwischen dem aufgezeichneten Analogen und dem Analogen vor dem Bildschirm bei medialen Übertragungen zumindest im gottesdienstlichen Zusammenhang. Die zu verbindenden Bereiche sind nicht deckungsgleich, ist aber ihre Verbindung abgerissen, trockenen sie aus.
Mit diesen Gedankengängen finden wir uns unversehens im Zentrum dessen wieder, was man Religion nennt: „Der Begriff Religion, sagen die Sprachwissenschaftler, hat zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere: relegere – ‚wiederlesen‘, ‚überdenken‘ – und religare – ‚verbinden‘, ‚binden‘.“8
Und diese hat eine größere Aktualität, als es ihre dominierenden Formen in Theorie und Praxis erkennen lassen: „Zerschneiden ist destruktiv, Verbinden ist konstruktiv. In Elemente unterteilen, in Stücke schlagen, Energie zuführen, um die Mischungen schmelzen zu lassen und ihre Komponenten voneinander zu scheiden. Die Auslöschung der Arten, die Klimawandel, die Umweltverschmutzung gehen auf dieses Projekt […] des Zerschneidens, der Lösung und Auflösung zurück, das eine Welt in Stücken, einen Ozean von Abfällen hinterlässt. Schluss mit dem Schneiden und Trennen, Morgenröte der Verbindungen – das ist um der Bewahrung der Welt willen unsere Zukunft.“9