Der Frage danach, wie konkret die „enorme Chance“ für das Christentum genutzt und in welchen Bahnen sie gedacht werden könnte, ist Bruno Latour nicht ausgewichen. In Kooperation mit dem Collège des Bernardins – einer Art katholischer Akademie – in Paris unter Mitarbeit von weiteren Institutionen, wurde für die Jahre 2021-2023 ein Lehrstuhl „Laudato si‘“ eingerichtet und verschiedene Veranstaltungen durchgeführt. In den folgenden Einträgen dieses Blogs sollen die wichtigsten Beiträge dieser Arbeit vorgestellt werden.

In der Einführungsrede Latours am internationalen Kolloquium zur Gründung des Lehrstuhls im Februar 2020 findet sich folgender Satz, von dem ausgehend dieses Projekt beschrieben werden soll: „Die christliche Theologie, man weiß das, hat niemals Glück mit der Natur gehabt. Sie, [die christliche Theologie], hat nie genau gewusst, was sie mit ihr, [der Natur], anfangen soll und wie sie sich ihr gegenüber situieren sollte.“[1]   

Dennoch ist die christliche Theologie der Natur gegenüber nicht gleichgültig und kann folglich auch der aktuellen ökologischen Katastrophe gegenüber nicht gleichgültig sein. Das bedeutet zum einen, dass man nicht umhinkommen wird, nach der „Verantwortung des Christentums für die aktuelle Tragödie“ zu fragen. Zum anderen wird man nicht vergessen können, dass sich keine größere ökologische Bewegung hätte formieren können, „ohne von den Energien, den Zuweisungen, den Emotionen und Werten zu profitieren, die seit langen vom Christentum erarbeitet, zusammengebraut und entwickelt wurden“. So existiert in der christlichen Tradition eine „lange Beziehung zu Katastrophen, zum Ende der Welt, zur Eschatologie ganz einfach“.

Diese lange Tradition ist nun auf vielfache Weise und „sehr komplex mit der Geschichte der Moderne“ verwickelt. „Sie besteht in einer tausendjährigen Spannung zwischen einer Zuneigung bzw. einer Pflege für die Erde, die Schöpfung, und einer mächtigen Bewegung des Herausziehens (extraction)[2] und Losreißens von derselben Welt.“ Diese Spannung und ihre Herausforderungen würden natürlich auch in „Laudato si‘“ als Bezugstext des gesamten Unternehmens deutlich:   

„Diese Enzyklika hat die Christen dazu gezwungen, eine Entscheidung für die Welt zu fällen. Das bedeutet auch, diese Tradition bis auf den Grund der Spannung zwischen Zuneigung und Losreißen neu zu sehen. Auch bei den Wissenschaften selbst kommt eine nicht weniger starke Spannung in Bezug auf das, was man Natur zu nennen die Gewohnheit hat, zum Vorschein. Sie betrifft alle Formen von Beziehung: Abstoßung, Anerkennung, Folgerungen, Beherrschung der sogenannten Natur durch die Christen ebenso wie durch die Wissenschaftler.“

Diese Spannungen wurden und werden auch unter dem kontroversen Begriff des Anthropozän diskutiert, auf den Latour hier mit folgender Frage zurückkommt: „Was ist eine Natur, die derart schnell auf die Aktion der Menschen reagiert?“

Um sich einer hypothetischen Antwort auf diese Frage zu nähern, führt Latour eine weitere Figur ein: Gaia. „Gaia ist nicht die Natur […], Gaia ist nicht die traditionelle Figur der Mutter Erde. Sie ist kein Organismus. Sie ist keine Göttin. Sie ist nicht einmal ein System im genauen Sinne.“

Was ist Gaia dann? „Gaia ist ein wissenschaftliches Rätsel (énigme scientifique) und als solches vollkommen säkular. Gaia ist ein neues Verständnis des Lebens (vie) [auf und mit der Erde], der Bewohnbarkeit (habitabilité) [der Erde] und seiner [beider] Bedingungen.“

Natürlich wusste Bruno Latour, dass er sich mit dem Gebrauch der Gaia-Hypothese nach James Lovelock und Lynn Margelis vielerlei Missverständlichkeiten aussetzte. Diesbezüglich hätte er es einfacher haben können, wie er in einem Gespräch[3] lakonisch bemerkte. Aber Gaia sei ein Mythos und ein Konzept zugleich und gerade dieser Doppelcharakter würde dazu beitragen, dass wir unsere Ohnmacht angesichts der ökologischen Katastrophe überwinden könnten.[4]

Im konkreten Zusammenhang des Kolloquiums in Paris wolle er dazu folgende Frage stellen – und hier kommen wir auf unseren Eingangssatz zurück: „Die christliche Theologie, man weiss das, hat niemals Glück mit der Natur gehabt. Sie, [die christliche Theologie], hat nie genau gewusst, was sie mit ihr, [der Natur], anfangen soll und wie sie sich ihr gegenüber situieren sollte.“ Angesichts dessen lohne die Frage und der Versuch: „Erlaubt es die Begegnung der christlichen Theologie mit der erneuerten Figur der Gaia, eine Reflexion über die Eschatologie, die Schöpfung, die Heilsgeschichte zu eröffnen, die die alten Figuren der Natur verunmöglichten, oder nicht?“[5] 

Die Beantwortung dieser Frage würde es insbesondere den Gemeindegliedern (fidèles) erlauben, der Schrift „Laudato si‘“ einen konkreten Sinn zu verleihen und darauf käme es doch an bis in konkrete gemeindliche Aktionen hinein. Und über diese Strukturen verfügten, die Kirchen eben im Unterschied zu Forschungseinrichtungen u.a. hätten.

„Wie [können wir] also zusammenarbeiten (collaborer)? Wie ein Feuer entfachen? Wie können wir unsere jeweiligen Traditionen sortieren nach dem, was die Tragödie vermindert und dem, was sie anwachsen lässt?“ zu dem Kolloquium im Februar 2020 im Collège des Bernardins konnten die drei theologische Institutionen von Paris mobilisiert werden, die es „akzeptierten, mit Denkern, die ihren gewöhnlichen Debatten gänzlich fremd sind, zusammen zu stoßen (s’entrechoquer) und das ohne Kompromiss, ohne Vereinfachung mit dem Ziel, Gaia gegenüberzutreten (faire face à Gaia)“. Hierzu wurden es nicht nur zu Vorträgen gehalten, sondern es fanden auch Workshops statt, in denen die vorgetragenen Argumente getestet werden sollen.

Die belgische Wissenschaftshistorikerin Isabelle Stengers nimmt direkt Bezug auf Bruno Latour und weist darauf hin, dass, wenn man den Begriff Gaia benutzt, es darauf ankommt, nicht auf diesen Begriff selbst zu schauen, sondern auf die Erde. Denn Gaia tut nichts anderes, als „mit dem Finger auf die Erde [zu] zeigen“.[6]

Es gilt, sich der Erde zu zuwenden, dabei eine „geteilte Scham“ zu empfinden und sich zu fragen, was diese Scham fordert. Im Gegensatz zur Schuld ist Scham ein Motiv zu Handeln.

Neben vielem anderen leitet Stengers daraus die theologisch bedeutsame Frage danach ab, wie uns das, was keine Gute Nachricht ist, zum Handeln bewegt. Und Handeln bedeutet, die Erde bewohnbar (habitable) zu machen. Die Erde ist bewohnbar, also bewohnt durch alles Lebendige, „die Lebendigen“ (les vivants). Denn sie haben die Erde bewohnbar gemacht und machen, dass die Erde bewohnbar bleibt. Mit ihnen allen gilt es zu kooperieren und „viel-artliche“ Partnerschaften zu entwickeln (partenariats multi spécifiques).

Diesen Bewusstseinswandel bzw. diese Veränderung der Wahrnehmung im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit (interdépendance) allen Lebens nennt Isabelle Stengers eine „terrestrische Spiritualität“. „Solche Spiritualität sucht, den Weg zu öffnen, auf dem wir [Menschen] fähig werden, nah bei einander, über Vereinfachungen und Verurteilungen hinaus zu kommen und das Risiko eines Abenteuers auf uns zu nehmen. Denn nur zusammen mit den anderen und auf die Gefahr der anderen hin, also unter dem Zeichen der Unsicherheit (précarité), stellen sich die Verfahren des Zusammensetzens (composition) her, die seit Milliarden Jahren die Erde gemacht haben. Dabei ist nichts versprochen und nichts garantiert. Nichts ist natürlich. Nichts kann mehr einer Logik unterwerfen, die mit der Macht der Abstraktion alles vereinfacht und erobert, also jener Macht, die versucht vergessen zu machen, dass dort wo es Verbindung (connexion) und Zusammensetzen (composition), also Gemeinsamkeit (actions en commun) gibt, es auch Generation (génération) und Regeneration (régénération) gibt. Und dies auf eine Art und Weise, die berührt, die uns fühlen, denken, imaginieren und kämpfen lässt.“

Hier könnte nach Stengers die Tradition des Christentums etwas beitragen, nämlich im Risiko des Zusammensetzens einen Akt des Glaubens zu entdecken. Also vielleicht Ereignisse der Generation willkommen zu heißen als ein Fest des Dankes (action de grace). – Das hat Stengers bei der Lektüre von „Laudato si‘“ gelernt –  denn in ihrer Lektüre lenkt diese Enzyklika die Aufmerksamkeit auf die Gesänge der Dankbarkeit (chants de gratitude).

„Aber die Dankbarkeit hat es nicht nötig, theologisch zu festzulegen an wen oder was sie sich wendet (s’adresse). Die Doktrin der Entwicklung der Arten hat es nicht nötig die Doktrin der Kreation zu bekriegen. Dankbarkeit ist ein Gefühl (sentiment), das uns in einen Impuls dazu gibt, Danke zu sagen, (danke auch für diesen Impuls). Dankbarkeit könnte ein besonderer Ausdruck einer terrestrischen Kultur sein, die das Leben ehrt – also die Generativität, die Interdependenz und die Prekarität – und bis in die persönlichste Erfahrung hinein verstehen lässt, dass wir nur durch und mit den anderen sind. Das ist es, was aus uns Erdenbewohner macht (des terrestres).“ [7]