Es gibt eine weit verbreitete liturgische und homiletische Praxis, die derart unscheinbar ist, dass sie nicht wahrgenommen, ja übersehen wird. Dabei könnte sie auch in nichtliturgischen Zusammenhängen eine kirchenweite, aktuell sogar gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben.
Sie könnte nämlich den entscheidenden Unterschied markieren zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.
In einem gänzlich anderen Zusammenhang hat der französische Kunstwissenschaftler und Philosoph Georges Didi-Huberman diese alte Praxis entdeckt und in den Blick genommen. Sie versteckt sich in einem Wort.
Vor einigen Jahren begann Georges Didi-Huberman seine Einführung zu einer Gesprächsreihe über den italienischen Filmregisseur Pier Paolo Pasolini im Centre Pompidou in Paris mit einer Alltagsbeobachtung, die ihm mehr und mehr Unwohlsein verursachte.1 Er beobachtete, dass Gesprächsbeiträge unterschiedlichster Art meist beginnen mit „meiner Meinung nach“, oder „nach meiner Überzeugung“; in französischer Sprache noch zugespitzt: selon moi (wörtlich: nach mir).
Und Didi-Huberman schlägt vor, über das selon, was sich in unserem Zusammenhang im deutschen „nach“ versteckt, nachzudenken und zwar ohne das moi, das Ich hinzuzufügen. Das sei nicht einfach. Denn dazu müsste man zu unterscheiden lernen zwischen „das Wort zu ergreifen“ und „das Wort zu ergreifen“. Man müsste es also lernen, das Wort zu ergreifen (prendre la parole) ohne es zu ergreifen (sans la prendre), d.h. ohne es zu halten, festzuhalten, zu behalten, ohne es zu besetzen, zu besitzen und daraus Kapital zu schlagen.2
Sobald man dem selon ein ich hinzufügt, das selon-moi-Spiel beginnt, tritt man sofort in eine Art der Selbstbewerbung (autopromotion) ein. Man präsentiert selfies des eigenen Denkens.3 Man stellt seine eigenen „großen Wahrheiten“ dar als Zentrum der Welt.4
Jede/r, der/die beginnt, zuerst „alles, was um ihn herum gedacht wurde, als Meinung, Falschheit, Doxa, Illusion zu denunzieren“, dann auf sich kommt und „endlich die Wahrheit, die richtige Meinung“ selon moi / nach mir verkündet, spielt dieses Spiel. „Eine solche Vorgehensweise nennt man Akademismus oder Dogmatismus.“5
Wie kann man anders vorgehen? Um diese Frage zu beantworten, hat Didi-Huberman im Historischen Wörterbuch der französischen Sprache nachgeschlagen. Dort fand er zunächst heraus, „dass der Ausdruck selon moi, der heute ein weit verbreitetes ideologisches Phänomen beschreibt, keinen Platz findet“. Allerdings findet sich die Präposition selon. Und sie deutet sprachgeschichtlich auf drei Dinge: „die Arbeit, das Risiko und die Bescheidenheit“.6
„Zuerst schickt das Wort selon an die Arbeit (travail).“ Und zwar im Sinne von etwas, was sich „unterhalb jeder Aktivität aufspannt“, was unterhalb jeder Arbeit immer mitläuft. Das Wort selon, altfranzösisch: soulonque, kommt vom Lateinischen sub longum. Da heißt: „während der Dauer einer Arbeit aber unterhalb. Man arbeitet also gemäß einer Regel. Man verfolgt ein Projekt, einen Stil, einen Wunsch, Begehren (désir)“. Und dieser Wunsch – vielleicht übersetzt man ihn am besten mit Wissensdurst – läuft die ganze Zeit in unserem „psychischen Untergrund“ mit. „Es gibt keine wahrhafte Arbeit ohne dieses Begehren. Allerdings muss es irgendwann seine Form finden, die man dann Methode nennt.“7
Zweitens „birgt das Wort selon ein Risiko (risque)“. „Umgangssprachlich sagt man: je nachdem, unter den Umständen, es kommt darauf an (c’est selon, selon les circonstances)“ und will damit die „variablen Bedingungen der Realität, die uns umgibt, des Raumes, der Geschichte“ berücksichtigen. „Diesen Umständen entsprechend gibt es Dilemmata, Alternativen und schließlich müssen Entscheidungen getroffen werden.“ Darin besteht das Risiko, eine „Gefahr, die jeder Arbeit inhärent ist“. Diese Gefahr kann man „umwandeln in eine günstige Gelegenheit, das ist der Kairos, eine Chance, die aus der Gefahr entsteht“.8
Um das Wort kairos genauer zu verstehen, hat Georges Didi-Hubermann in der „Ilias“ nachgelesen. Dort kommt das Wort viermal vor und bezeichnet jedes Mal eine ganz präzise Situation, einen kritischen Punkt, nämlich „den Punkt an dem der Körper am verletzlichsten ist, die Stelle des Körpers, auf den ein Gegner zielt. Das ist der Kairos“.9
Bis hierhin lässt sich die Praxis des ‚selon-ohne-ich‘ dahingehend zusammenfassen, dass sie uns der Gefahr ausliefert, die jeder Arbeit innewohnt und sie als günstige Gelegenheit erkennen lässt, eine Entscheidung zu fällen. Diese Entscheidung wird allerdings nicht gefällt, um die Gefahr zu vernichten, sondern sie erfindet eine Möglichkeit, mit der Gefahr umzugehen, einen Durchgang zu finden, eine Passage, „la passe wie man im Stierkampf sagt“.10
Drittens liest Georges Didi-Huberman im Historischen Wörterbuch der französischen Sprache, dass das Wort selon dazu dient, „etwas einzuführen wie Bescheidenheit (modestie), eine essentielle Bescheidenheit“. Denn „das, was selon aufruft, ist ein Zitat“. Wie es zum Beispiel der Filmregisseur Pier Paolo Pasolini tut, wenn er seinen Film Il Vangelo secondo Matteo/ L’Évangile selon St. Matthieu bzw. „Das Evangelium nach Matthäus“ nennt.11
Und mit seinem Beispiel führt Georges Didi-Huberman, ohne dass er es beabsichtigt hätte, punktgenau zu der unbekannten aber weit verbreiteten liturgischen und homiletischen Praxis, die kirchenweit und darüber hinaus gesellschaftspolitisch in unserer selfi-Welt eine wichtige Rolle zu spielen hätte.
Jedes Mal, wenn in Gottesdiensten und in Predigten ein Evangelientext gelesen wird, wird dieser Text eingeführt mit einem „nach“ in dem sich ein selon versteckt. Es wird aus dem Evangelium nach (selon) Matthäus, nach (selon) Markus, Lukas oder Johannes gelesen. Mit dieser Praxis wird ein beispielhaftes Geschehen in Gang gesetzt, das „die Zuhörerenden dazu aufruft, nicht nur mich zu hören“, also den- oder diejenige, die spricht. Es bedeutet schon, „mir zuzuhören, aber zugleich aus meinem Diskurs herauszutreten und den kleinsten Verdacht der Selbstbezogenheit oder Abgeschlossenheit in Zweifel zu ziehen, selbst dann, wenn der Gedanke originell klingt, wie man sagt.“12
Dieser modus des Sprechens „selon“ folgt den Spuren in die ‚Außerhalbs‘ von mir (hors-je)13, die mich öffnen für den, die oder das Andere/n, anderartiges Denken, verändernde Erfahrung. Das macht Arbeit, setzt einem Risiko aus – bringt also in Gefahr – und lehrt Bescheidenheit.