In der zweiten Runde unserer Kommentare zu Martin Luthers Kleinem Katechismus knüpfen wir an eine anfängliche Beobachtung an. Martin Luther hatte durch die Tatsache, dass er den Teilen seines Kleinen Katechismus Lieder an die Seite stellte, bzw. diese Arbeit parallel bzw. zeitlich verschränkt verlief, Lehre mit Praxis verbunden, lernendes Lesen mit Singen.
In der Reihenfolge nehmen wir Luthers Verweis auf die zehn Gebote im Letzten Teil des Kleinen Katechismus über die Beichte ernst und stellen das Katechismus-Lied über die Zehn Gebote der Beichte gegenüber, sozusagen als Spiegelung. In der Praxis bilden die Zehn Gebote einen Beichtspiegel. So ist das Lied auch im Evangelische Gesangbuch rubriziert.
Bereits 1524 verfasste Martin Luther einen die zehn Gebote umschreibenden Liedtext in zwölf Strophen und verband ihn mit der Melodie eines Pilgerliedes in Form einer Leise. Auf diese Art Weise öffnet er die Zehn Gebote als Teil der Lehre für eine spirituelle Praxis: das Singen.
Luthers Was wird auf ein Wer, die singt, geöffnet. Dies geschieht zum einen durch die Öffnung lehrhaft abgeschlossener Sprache in poetische Sprache. Damit schafft Luther konkrete Verbindungen zwischen seiner Spracharbeit an den Übersetzungen der biblischen Texte, seiner sprachlichen Aufnahme traditioneller liturgischer Texte und eigener Liedtexte, sowie in geglückten Fällen auch seiner Predigtsprache.[1]
Im Falle des Liedes „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ (EG 231) konstruiert Martin Luther aber eine weitere Öffnung in eine konkrete liturgische Praxis, indem er dem Lied die Form einer Leise gibt. Diese Form ist konkret responsiv, also antwortend gedacht.
Dies lässt sich einfach dadurch verdeutlichen, dass man sich die einzelnen Verse von einem kleinen Chor[2] gesungen vorstellt, auf die die versammelte Gemeinde jeweils gemeinsam mit einem Kyrieleis antwortet. Diese Form könnte unter den aktuellen Bedingungen der Entwicklung der Kirchen an Bedeutung gewinnen. Denn wenn immer weniger Gemeindeleute ganze Lieder singen können, so wird es doch noch länger möglich sein, mit einem Kyrieleis zu antworten.
Hinzu kommt, dass in solchen Antworten auch die persönliche Reflexion bzw. Rezeption des vorgeschlagenen gesungenen Textes ihren Platz findet. Das bedeutet konkret, dass sie das Risiko eingeht, nicht beantwortet zu werden. Dies kann im Zusammenhang von den Zehn Geboten und ihrer Funktion als Beichtspiegel sehr persönlich Gründe haben. Im Zusammenhang der die Zehn Gebote als für sich konstitutiv betrachtende Institution hat diese Möglichkeit des Antwortens oder eben nicht Antwortens einen speziellen Effekt, der im Zusammenhang des enormen Vertrauensverlustes der Kirchen nicht zuletzt im Kontext der Missbrauchsstudien von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist.
Dieser Effekt lässt sich als eine Desidentifikation beschreiben. Sie stellt sich her, wenn man sich angesichts z.B. der Missbrauchsbetroffenen nicht einfach mit ihnen identifizieren kann; Andererseits kann man sich auch nicht mehr oder nur bedingt mit der diese Missbräuche verschuldete und verantwortende Institutionen, den Kirchen, identifizieren. Auf diese Weise landet man in einem „Zwischenraum oder Lücke zwischen zwei Identitäten“, in dem man sich aber als Subjekt wiederfindet und agieren kann[3], also protestieren, aber auch forschen, aufarbeiten und verändern.
Ein solches agieren wird sich in einer Forderung wiederfinden, die der Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg unmittelbar nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und den darin erfolgten kirchlichen Verwickelungen zum Ausdruck gebracht hat.
Walter Nigg plädierte „für einen Blick auf die Wirklichkeit ohne Illusion. Der Krieg habe einen neuen Menschentypus geformt, der mit klassischen Mustern der Verkündigung nicht mehr ansprechbar sei. Wer ihn wieder für das Christentum gewinnen möchte, der müsse ihm zuerst einmal mit restloser Wahrhaftigkeit begegnen und die Fehler der Vergangenheit schonungslos zugeben, damit die großen Vorbilder des Glaubens erneut sichtbar würden. Walter Nigg sah also den Zeitpunkt für eine Generalbeichte gekommen. Während Vertreter der Kirchen in Fulda, Stuttgart und Darmstadt um Worte für ein Schuldbekenntnis rangen, blickte er über die Gräuel der vergangenen Jahre zurück in die Anfänge der Kirchengeschichte zu Simon Magus, den Gnostikern, Origenes, Marcion, zu Arius und Pelagius, den Katharern und Waldensern, zu Jan Hus und den Hexen. Diesen Verfolgten und Gepeinigten wollte er mit seinem Werk „Das Buch der Ketzer“ Gerechtigkeit widerfahren lassen“[4]:
„Die Kirche ist allezeit für das Aufkommen der Ketzerei in ihrer Mitte verantwortlich, weil dieselbe fast immer aus einer Vernachlässigung der Wahrheit ihrerseits entstanden ist. Was sie auch sagen mag, sie kann sich ihrer indirekten Teilhaberschaft an der Häresie nicht entschlagen. Aus diesem Grunde haben die Ketzer im Hinblick auf die stets wieder innerhalb der Kirche eintretenden Verfälschungen, Entartungen und Verschüttungen des Evangeliums eine notwendige Funktion auszuüben, die vom Standpunkt christlicher Selbstbesinnung aus nicht ernst genug genommen werden kann. Aus einer solchen durch das Phänomen der Ketzer veranlassten Selbstkritik können erneuernde Kräfte hervorgehen, deren die Christenheit mehr als je bedarf.“[5]
Walter Niggs Forderung von 1949 (!) muss heute auf weitere Bereiche ausgeweitet werden und ist in den verschiedenen theologischen Disziplinen und den ihnen folgenden Praxisfeldern bei weitem nicht eingelöst. Kyrieleis.