Etwas Markantes passiert die Zwischenräume zwischen Menschen und ist zugleich kennzeichnend für gottesdienstliche Vollzüge: das Singen.1 Insbesondere das gemeinsame Singen birgt die spezielle Erfahrung, sich als Einzelwesen zu erleben, das in einen klingenden Gruppenzusammenhang gestellt sich wiederfindet, ohne sich darin aufzulösen. Mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy müsste man diese Erfahrung „singulär plural sein“2 nennen. Er beschreibt mit dieser Denkfigur das, was Gemeinschaft zu nennen man die Gewohnheit hat.
In liturgischem Zusammenhang haben sich vielfältige Formen dieser Erfahrung herausgebildet. Ihre Grundform ist responsiv, auf Antwort angelegt. Sie bildet sich im Wechsel von Einzelstimmen (Vorsängerin, Vorsänger) und einer Gruppe (Chor, Gemeinde) heraus. Derartige Wechselgesänge können dazu einstimmig oder mehrstimmig sein. Sie können sich vorübergehend zu gemeinsamen Gesängen verbinden.
Sie können auch räumliche Gegebenheiten (Altarraum, Empore) miteinbeziehen und gestalten. Vor allem im westliche Christentum hat sich zudem die instrumentale Begleitung von Gesangsstimmen, klassischer Weise meist durch eine Orgel, eingebürgert. Es sind aber auch andere Instrumente und Instrumentenkombinationen möglich.3 Häufig rahmen Instrumentale Musikteile den Gottesdienst.
Manchmal sind auch innerhalb von Gottesdiensten meditative musikalische Anteile zu hören, etwa eine Reaktion der Orgel auf die Predigt oder Musik sub communione. Vielfältige musikalische Stile sind in diesem Zusammenhang möglich. Bis hin zur Erkundung der Möglichkeit, dass ein Chor selbst zum liturgischen Akteur werden kann.4
Gelegentlich deutet sich jedoch in den skizzierten Zusammenhängen liturgisch-musikalischer Praxis in Gottesdiensten ein merkwürdiges Phänomen an. Ungerechter Weise tritt dies Phänomen eher bei Musikstilen nicht ganz so hörgewohnter Art, wie z.B. zeitgenössischen Kompositionen, zu Tage. Dauert nämlich ein solcher Musikteil zu lange, oder ist er zu befremdend, verwandelt sich die den Gottesdienst feiernde Gemeinde plötzlich in ein Publikum und der Musikteil in ein Konzert.
Dies Phänomen kann auch dadurch hervorgerufen werden, dass die den Gottesdienst mitgestaltenden Musikerinnen und Musiker, optisch exponiert platziert sind und somit eine Konzertsituation zitierend herbeiführen.
Bei medialen Übertragungen wird dieser Effekt schon dadurch verstärkt, dass die Kamera gehalten ist, optisch das zu verfolgen, was geschieht, um es zu zeigen. Unter Pandemiebedingungen kommt hinzu, dass ausgerechnet das Singen in geradezu traumatisierender Art und Weise eingeschränkt bzw. untersagt werden musste. Die in Übertragungen gezeigten und zu Gehör gebrachten Musiken wurden deutlich sichtbar zu Konzertteilen.
Insbesondere tritt der Effekt hervor bei den notgedrungen vorgespielten Gemeindeliedern. Je perfekter sie musiziert werden, umso konzertanter ist ihre Wirkung. Gemeinsames Singen vor einem Bildschirm zu simulieren, führt die Situation ins Absurde. Sie entsteht immer dann, wenn Gemeinde zum Publikum wird.
Als Publikum singt man eben nicht mit, sondern hält sich ehrfürchtig zurück und hört zu. So erhellend es auch sein kann, einen Liedtext einmal eingeblendet mitzulesen, die Erfahrung des mit-Singens, eines gemeinsamen Singens –singular-plural – kann es nur schlecht stimulieren.
Dieser Zusammenhang, bzw. sein pandemiebedingtes Hervortreten, lenkt den Blick auf die schon von ihren technischen Grundlagen her medial affinere musikalisch-liturgische Praxis der sogenannten popularen Kirchenmusik. Ihr Bemühen, modernen musikalischen Stilen wie dem Song, Rock, Pop oder Jazz im gottesdienstlichen Kontext eine entsprechende Geltung zu verschaffen, führt zu weiteren Phänomenen, die bei medialen Übertragungen besonders sicht- und hörbar werden.
Sichtbar werden sie zunächst durch eine, meist von den örtlichen Gegebenheiten (Veranstaltungsbühne) angenommene Frontalstellung der agierenden Band. Sie macht ihren Auftritt fast automatisch zum Gig mit entsprechenden Tendenzen fürs agierende Personal.5 Vorbild und Modell dieser Form von Bandauftritt lässt sich am leichtesten erkennen, wenn man sie mit Showbands im Fernsehen vergleicht.6 Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass in derartigen settings Kirchenbands nicht nur so aussehen und agieren wie Showbands, sie klingen auch so. Das bedeutet zuerst einmal: professionell.
Auf den zweiten Blick ist zu erkennen bzw. zu hören, dass die kirchliche Popularmusik sich in ihrer historischen Genealogie auf die Protestmusik der nordamerikanischen Sklaven und ihre Befreiungsbewegungen bezieht, d.h. heißt auf die Tradition von Gospel und Spiritual. Natürlicher Weise dieser Tradition folgend schließt sie sich nun aber direkt und einzig an deren kommerziell hervorstechende Nachfolger an. Und das heißt, sie schließt weite Teile der protesthaften, subkulturellen, minderheitlichen musikalischen Praktiken und Stile der Popkultur aus. Um nur einige Stichworte zu nennen: Disko, Punk, Hip Hop, House, Independent …7
Hinzu kommt bei aller Differenz eine Gemeinsamkeit dieser Stile im Unterschied bzw. sogar im Gegensatz zu akademisch geprägter Musik, neu oder alt. Sie ist gekennzeichnet von einer Konzentration auf die musikalischen Mittel Rhythmus und Puls (groove) mit ihrer unmittelbaren Folge der Tanzbarkeit bis hin zu einer radikalen Reduktion auf diese Eigenschaften wie z.B. beim Techno oder Drum ’n‘ Bass.8
Das bei größtmöglichen Unterschieden stilbildenden Prinzip von Pop-Kultur besteht darin, aus allen möglich subkulturelle Zusammenhängen immer wieder neue musikalische Formen, Techniken und Praktiken hervorzubringen. Irgendwann erlangen diese Stile aus Kneipen, Tanzkellern, Garagen, Straßen oder verlassenen Industrieanlagen kommend eine über ihre subkulturellen Soziotope hinausgehende Popularität. Die kann dann von der Musikindustrie erfolgversprechend aufgegriffen und vermarktet werden. Von Anfang an ist Popkultur ein „Produkt der herrschenden Ideologie und Ausdruck absoluter Rebellion zugleich“9. Und ebenso von Anfang an ist Popkultur „eine Sache der Jugend“10.
Je mehr sie ihren Hintergrund von Jugend und Rebellion unsichtbar und unhörbar macht, verbirgt die kirchliche Popularmusik hinter ihrer technischen11 Professionalität eine kommerzielle Konformität. Das heißt zum einen: Es klingt alles irgendwie gleich. Und, was schlimmer ist: Es macht auch alles andere musikalisch gleich. Ob Choral, ob liturgischer Gesang, ob Meditationsmusik, ob sogenanntes „Neues Lied“, alles wird auf die gleiche Art gespielt und vorgeführt.12
Bei medial übertragenen Gottesdienstformaten wird dieser Effekt durch die Homogenisierung des Fernsehens weiter in Richtung Kaufhauspop gesteigert.13 Man könnte diese Entwicklung für zufällig, spontan halten oder auf Geschmacksfragen reduzieren, wäre sie nicht durch akademisierte Ausbildungsgänge, Produktions- und Vertriebsnetzwerke gestützt. Als (kirchen-) politische Entscheidung vertraut sie sich allein kommerziellen Prinzipien an. Diese drücken sich am deutlichsten in der homogenisierenden Tendenz ihrer musikalischen Praxis aus.
Eine klar sichtbare und hörbare Unterscheidung zwischen Konzert/Gig und Gottesdienst und eine klare Unterscheidung unterschiedlicher musikalisch-liturgischer Formen und Praktiken könnte aus dieser Sackgasse der Homogenisierung14 herausführen und gestalterisch variable Zwischenräume eröffnen.
Leitmotiv dieser Unterscheidungen sollte in Bezug auf gottesdienstliche Formen das Mitsingen bzw. die Mitsingbarkeit sein. Dieses Kriterium hat seine Pointe in der real zunehmenden Situation, dass es nicht genug Sängerinnen und Sänger in versammelten Gemeinden gibt, um präsentabel schön zu singen.15
In Bezug auf mediale Übertragungen von gottesdienstlichen Formen kommt die Frage hinzu, wie man Singen als aufgezeichnete analoge Form in dem anderen Analogen, was der Übertragung beiwohnt, rekonstruieren und es als Mitsingen bzw. gemeinsames Singen entwickeln kann.