Der deutsche Literaturwissenschaftler und Romanist Erich Auerbach verfasste in seinem amerikanischen Exil, in dem er bis zu seinem Tod 1957 lebte, eine Studie zum sermo humilis. Darin beginnt Auerbach mit der Lektüre einer Predigt von Augustinus und stellt fest, dass „diese rhetorische Art des Ausdrucks im ganzen und alle ihre Formen […] der antiken Schultradition“ entstammen. Zu Augustins‘ Zeiten um 400 war „die ungebildete oder halbgebildete Ausdrucksweise, für antike Ohren peinlich ungriechische oder unlateinische Ausdrucksweise der urchristlichen Literatur“ nicht mehr bestimmend.
Die christliche Predigt hatte sich den Hörgewohnheiten ihrer Zuhörer angepasst. Sie wurde eine „Art pädagogischen Theaters“. Als Beispiel nennt Auerbach neben Augustinus für den Westen auch Johannes Chrysostomos, „den berühmten Prediger des Ostens“2.
Augustinus war nicht nur ein glänzender Rhetoriker. In seinem Werk De doctrina christiana hat er sich auch zu den Fragen des Verhältnisses von Rhetorik und Predigt geäußert. Hierbei griff Augustinus vor allem auf Cicero zurück. Diese rhetorische Tradition „ist auf der Anschauung von den Rede- und Dichtungsarten aufgebaut, in welcher, nach Stufen der Würde, die Gegenstände mit der Ausdrucksweise übereinzustimmen habe; somit war es wesentlich, auch die Gegenstände nach ihrer Würde zu ordnen“.3
Über niedere Gegenstände sprach man im niederen Stil, über mittlere Gegenstände im mittleren und über erhabene Gegenstände im erhabenen Stil. Augustin übernahm und begründete dies Prinzip in der jeweils „verfolgten Absicht“ der Rede4. Den Bezug auf die Gegenstände weist er jedoch zurück.5
„Das ist eine so bedeutende Abweichung von der rhetorischen und überhaupt literarischen Tradition, dass es nahezu die Zerstörung ihrer Grundlagen bedeutet“6, interpretiert Auerbach. Im christlichen Zusammenhang verlieren die niederen, alltäglichen Gegenstände ihre Niedrigkeit und höchste Gegenstände des Glaubens können in niederer Ausdrucksweise jedem verständlich vorgetragen werden.
Um diese rhetorische Besonderheit der christlichen Predigt (und Literatur) zu beschreiben, erfindet Erich Auerbach den Begriff des sermo humilis neu. „Humilis hängt zusammen mit humus, Erdboden, und bedeutet im wörtlichen Verstande niedrig, niedrig gelegen, klein gewachsen.“7 Der übertragene Sinn von humilis entwickelte sich in verschiedene Richtungen: wertlos, gering, sowohl im Einzelnen als auch um Verhältnis zu etwas; im sozialen und politischen Sinne niedrige Herkunft, geringe Bildung, Armut, keine Macht; im moralischen Sinne unwürdiges Handeln, Unterwürfigkeit. Verschiedene Aspekte können vermischt auftreten. In der Rhetorik wurde sermo humilis zur gebräuchlichsten Bezeichnung des niederen Stils. Andererseits wurde humilis „zum wichtigsten Eigenschaftswort für die Bezeichnung der Inkarnation“ und drückt auf diese Weise „die Atmosphäre und Höhenlage des Lebens und Leidens Christi aus“.8
Ein ursprünglich abwertend gebrauchtes Wort verschob seine Bedeutung und wurde „unmittelbar auf Christus selbst“ bezogen. Dabei betont es die „Körperlichkeit Christi auf Erden und nach der Auferstehung“.9 Es bezieht sich zugleich auf die „soziale und geistige humilitas derjenigen, an die sich die Lehre wendet und denen sie zugänglich ist“.10 Zudem bezieht es sich auf „die humilitas des Stiles der Heiligen Schrift“.11
Ziel und „Charakter dieser Demut oder Niedrigkeit des Stils ist Allgemeinzugänglichkeit“.12 Die Niedrigen sollen sich angesprochen fühlen. Damit ist aber der Inhalt der Schrift nicht niedrig und auch nicht immer einfach. Manches klingt dunkel und verborgen. Doch auch das Dunkle soll nicht einschüchtern oder abschreckend vorgetragen werden. Dabei geht es nicht nur um Stilformen der Rede. Mit ihnen kann man elastisch verfahren. Auerbach nennt diese Verfahrensweise polar – die Rede pendelt stilistisch mit weitem Ausschlag zwischen dem Niedrigen und dem Erhabenen – und bringt Beispiele aus Augustins‘ De Trinitate und aus einer der frühesten Märtyrerakten (Passio SS Perpetuae et Filicitatis).
Bei allen unterschiedlichen Stilmitteln, die z.B. bei Augustin vielfältige Verwendung finden und denen sich die Märtyrerakten ganz enthalten, ist das Hauptmerkmal des sermo humilis seine allgemeine Zugänglichkeit. Jede/r sollte lesen und verstehen können. Das schließt eine „caritativ sich [n]eigende“ Geste, ebenso wie eine Diskretion fürs „Erhabene“ und die Offenheit für „Gemeinschaftliche[s]“ ein.13
Bis hierhin meint Auerbachs Untersuchung zum sermo humilis die Lateinischen Sprache als Sprache des Christentums. Mit historischen Veränderungen der Lateinisch sprachigen Kulturen änderte sich auch die Sprache. Das Lateinische wurde weniger „antikisch“ (Auerbach). Das zog Veränderungen des christlichen Sprachgebrauchs nach sich. Im Zweiten Teil seiner Untersuchung verfolgt Erich Auerbach die Entwicklung des sermo humilis in das sogenannte Frühmittelalter. Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die um 1300 virulent wurde.
Die Gesellschaften hatten sich diversifiziert und individualisiert. Die Volkssprachen drängten in die dem Lateinischen angestammten Bereiche, wie Gerichte, Universitäten usw. „Dieser Prozess lief in mehreren Sprachgebieten fast gleichzeitig: Raimundus Lulus (gest. 1316) bewirkte ihn fürs Katalanische wie Meister Eckhart (gest. 1328) fürs Deutsche, Dante (gest. 1321) fürs Italienische. […] Sie wollten dem Stadtpublikum, das vernünftige Erklärungen verlangte, die Wahrheit des Christentums zeigen.“14
Ein sermo humilis musste erfunden werden, wie es Dante in seiner Commedia tat und Meister Eckhart in seinen deutschen Predigten. Mit der Verurteilung von Meister Eckhart (1329) erlitt die deutsche Entwicklung einen deutlichen Rückschlag. Erst Martin Luther wagte den Durchbruch mit seiner Bibelübersetzung.
Luther und Dante waren ausgiebige Kenner und Leser der Schriften des Augustinus. Luther verstärkte Augustinus‘ dunkle Seite (s.o.). Dante jedoch widersprach ihm15. Sollten wir bei Dante, dem „Dichter der irdischen Welt“ (Erich Auerbach), das Instrumentarium zu einer „Befreiung vom Augustinismus“ finden?