In der Spiegelung der Taufe auf das Vaterunser-Lied, nehmen wir das Thema aus vielen vorausgegangenen Teilen dieses Zyklus von Kommentaren zum Kleinen Katechismus Martin Luthers wieder auf: Das Wechselspiel zwischen einem Ich, einem Du und einem Wir…

In der Zufälligkeit der Spiegelung (in unserem Sinne von Spiegelung Kleiner Katechismus // Katechismuslieder) von Taufe und Vaterunser-Lied öffnet sich eine überraschende Perspektive. Sie besteht darin, dass sie die gewohnte und historische liturgische Kombination von Taufe und Credo – von „Du bist mein geliebtes Kind“ und seiner Antwort: „Ich glaube“ – was seinen Antwortteil betrifft, ändert in die Antwort: „Vaterunser“.[1]

Die poetische Kraft der musikalischen und textlichen Gestaltung dieser Antwort in Form des Liedes von Martin Luther von 1539 zeigt sich besonders eindrücklich, wenn man alle seine Strophen singt – das Lied also ernst nimmt – und sich damit der (zumindest im protestantischen Bereich) selten ausgeübten Praxis der Wiederholung überlässt. 

Zugleich realisiert sie in der Anrede und der Praxis des Singens direkt den Horizont einer Gemeinschaft. Dies jedoch könnte man auch in der Zuordnung des Glaubensliedes zur Taufe finden. Wir kommen darauf zurück.

Ein entscheidender Unterschied besteht in der Form der Antwort, nämlich der des Gebetes. Und diese Feststellung lohnt einen Exkurs:

Englische Literaturwissenschaftler, Philosophen, Bibelwissenschaftler und andere fragten den französischen Philosophen Jacques Derrida auf einem Podium in der Universität Glasgow, was er denn damit meine, wenn er von sich schreibe, er sei ein Mann des Gebetes und der Tränen und bete allezeit: »Zu wem beten Sie? Von wem erwarten Sie Antwort auf Ihre Gebete? «

Sich vorsichtig an eine Antwort herantastend – mit einem Gebet – beginnt Derrida zu antworten: Er bittet dafür um Verzeihung, dass er zu antworten versucht zu einem Thema, zu dem er nicht kompetent ist, er sei weder Judaist, noch Theologe, noch Bibelwissenschaftler …

Wenn es jedoch Gebet gibt und wenn er, Derrida, betet, dann ist Gebet etwas absolut Geheimes. Natürlich gibt es öffentliche, gemeinschaftliche Gebete. Aber selbst bei einem Gebet in Gemeinschaft wäre sein Gebet ein stilles, geheimes Gebet, das immer auch etwas in der Gemeinschaft unterbricht. Ein Gebet ist also eine Mischung von etwas singulärem Geheimen und etwas rituellem Gemeinsamen, das den Körper einbezieht in kodierten Gesten: knien, stehen, mit einem Buch oder ohne, gehen …

Wenn es für Derrida Gebet gibt und wenn er betet, dann erwachen in einem und demselben Moment des Gebetes mehrere Alter. Das erste Alter ist ein kindliches, archaisches. Wenn man betet, ist man immer ein Kind. In diesem Alter versammeln sich kindliche Bildwelten: Gott als der Großvater, der strenge, aber unerbittlich gerechte Großvater mit einem Bart; zugleich ist da die Mutter, die von der Unschuld des Kindes überzeugt ist und ohne Bedingungen bereit ist, zu vergeben.

 Ein anderes Alter ist das kulturelle Alter. Hier kommen die kritische Kultur, der Zweifel, das Wissen der Religionskritik, Feuerbach, Marx, Nietzsche usw. zum Zuge: die Erfahrung des Nichtglaubens. In dieser Altersschicht findet Derrida einen Weg der Meditation darüber, wer betet und zu wem er betet. Diese Art denkenden Betens ist ein Weg, Fragen zu stellen. Das In-der-Schwebe-Halten der Gewissheiten, des Wissens, ist Teil des Gebetes. Jede Antwort auf diese Fragen, jede Erwartung, jede Sicherheit würde das Gebet sofort beenden und würde es zu einer Bestellung machen, wie das Bestellen einer Pizza.

Gebet gibt also alle Erwartung und jegliche Sicherheit im Verhältnis zu dem oder der, denen ein Gebet adressiert wird, auf, wenn es ein Gebet ist. Jenseits aller Erwartung, jeglicher Sicherheit, jeder Berechnung und Ökonomie, findet sich ein Gebet einer fast hoffnungslosen Situation ausgesetzt vor.

Aber in dieser Wüste der Hoffnungslosigkeit – selbst wenn kein Gott ist, der das Gebet empfängt oder ihm antwortet – bleibt die Erfahrung, dass sich durch den Akt des Betens – außerhalb der Liebe – etwas im Betenden selbst verändert: er/sie wird für sich besser, versöhnter mit sich selbst und damit auch liebevoller für andere Menschen und für alles, was sie/ihn umgibt. Darin besteht ein Rest von Berechnung fort, in dem das Kindsein im alten Manne wiederkehrt (eine weitere Altersschicht) und der nun das Unberechenbare einschließt, ein Rest, der nicht ganz aufgegeben werden kann.

In ein und demselben Moment bilden diese befremdlich unterschiedlichen Erfahrungen eine Welt, »in der meine Gebete beten«, manchmal zu einer konkreten Tageszeit, manchmal zu jeder Zeit, zum Beispiel jetzt.[2]

Das Glaubensbekenntnis aber – Ende des Exkurses – ist kein Gebet. Das ist schon daran ersichtlich, dass es keinen Adressaten hat. Dieser fundamentale Unterschied wird bis hin zu offiziellen Internetauftritten z.B. der EKD übersehen, indem man Gebet und Bekenntnis gemeinsam rubriziert. Auch in der liturgischen Praxis des gemeinsamen Sprechens[3] wird beides bis zur Ununterscheidbarkeit aneinandergerückt. Dafür gibt es keinen Grund.

Der quellenmäßige Unterschied ist eindeutig. Das Vaterunser ist das neutestamentliche Gebet Jesu. Das Credo, ganz gleich ob Apostolikum oder das seltener gesprochene Nicäno-Konstantinopolitanum ist Kirchengeschichte. Um genau zu sein – und das wird im Zusammenhang von 1700 Jahren Konzil von Nizäa historisch genauer zu analysieren und offen zu legen sein – ist das Credo in Sprache und gedanklicher Architektur Ausdruck der Kombination von Christentum und Herrschaft wie es sich im Zuge der sogenannten konstantinischen Wende entwickelt hat.

Diese Entwicklung – wie auch immer man sie im Einzelnen beurteilt – neigt sich heute ihrem Ende zu. In ihrem minderheitlich werden, werden die Kirchen vielleicht eine andere Sprache für ihren Glauben erfinden und die alten Bekenntnisse nur noch selten sprechen etwa, um die Verbindung zu ihren Geschichten zu pflegen und ihrer vielfältig zu gedenken.[4]

Wie das genauer aussieht, wird sich zeigen. Das Entscheidende jedoch kommt schon im Antwortwechsel unserer Spiegelung zum Ausdruck und es wird pointiert deutlich in einem Gedanken von Jean-Luc Nancy. Der Philosoph schildert in einem Gespräch wie ihm anhand der Frage eines kleinen Mädchens, die ihm nach einer Vorlesung für Kinder über das Thema Liebe gestellt wurde, folgendes aufging. Die Frage lautete: „Warum hat man solche Angst davor, das erste Mal ‚Ich liebe Dich‘ zu sagen?“ Und seine Antwort: „Man hat derartige Angst davor, eben weil man weiß, dass man nicht weiß, was man sagt.“[5]

Dieser Modus des Sagens von etwas, von dem man weiß, dass man nicht weiß, was man sagt lässt sich bei einem Gebet leicht nachvollziehen – Paulus zum Beispiel spricht von Stammeln. Das er aber auch der angemessene Modus eines Bekenntnisses ist, bleibt neu zu entdecken und zu gestalten. [6]

In diesem Sinne könnte es sein, dass die oft beklagte Tatsache, dass man das Credo nicht (mehr) verstehe, eine zukunftsweisende Dimension hat, Man spricht es zwar gemeinsam in den Gottesdiensten, sagt dabei aber etwas, obwohl man nicht (mehr) weiß, was man sagt. Im Sich-bewusst-Werden dieser Praxis[7] läge bereits etwas Zukunftweisendes, Öffnendes.

In dieser Spure wäre eine Gemeinschaft in der, in die hinein oder aus der heraus etwas gesagt wird im Modus des nicht Wissens, was man sagt, eine Gemeinschaft, die sich dessen „bewusst wäre, dass sie keine gemeinsame Substanz hätte, dass sie eben keine Sache gemeinsam hätte, keine Rasse, keine Nation, nicht einmal ein Aggregat, aber ein Teilen (partage), eine Zirkulation, ein Teilen von Sinn (sens).“[8]