Im Nachvollziehen der Bewegungspuren in den einzelnen Stationen des Kirchenjahres haben wir bemerkt, dass zum linearen heilshistorischen Ablaufgedanken des Kirchenjahreskreises weitere Bewegungsmodi hinzugetreten sind. Sie unterbrechen den linearen Ablauf und verziehen ihn nach oben und unten. Dabei kann offenbleiben, ob es sich um realräumliche Verschiebungen handelt oder um imaginär-räumliche bzw. innenräumliche, wie sie in der frühchristlichen Formel sursum corda verdichtet sind.
Bis zur Himmelfahrt waren die Bewegungen mit der Person Jesus Christus verbunden, der niemals aufhört, „sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er uns zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt.“1
Pfingsten nun tritt ein neuer Akteur in diese Bewegungen ein: der Tröster, der Heilige Geist, der creator spiritus. Mit ihm bzw. ihr öffnet sich die Bewegung noch einer weiteren Dimension. Sie wird im lineare Konzept der Kirchenjahres Pfingsten als nächste Station am Fest Trinitatis dargestellt und spätestens hier ahnt man, dass das lineare Kreiskonzept des Kirchenjahres an seine Grenzen gestoßen ist.
Führen wir uns die Bewegungen noch einmal vor Augen: Eine Bewegung mündet in ein Weg, die andere in ein Kommen. Wenn das Weg seinen hiesigen, sichtbaren Vorlauf in der Abfolge Schritt, Sprung, Flug hat, so hat das An seinerseits einen Vorlauf:
„Die Bewegung geht vom linken Fuß des rechten Engels aus, setzt sich in der Neigung seines Kopfes fort, geht auf den mittleren Engel über und zieht unwiderstehlich den Kosmos in sich hinein: den Fels, den Baum, und löst sich in der aufrechten Position des linken Engels auf, wo sie Ruhe findet […].2
So beschreibt der orthodoxe Theologe Paul Evdokimov die Bewegung auf der Ikone der Heiligen Dreifaltigkeit von Andrej Rubljow. Diese gemalte Bewegung ist eher ein innertrinitarischer Tanz, der sich Pfingsten öffnet. Er hat auch bildperspektivisch die Besonderheit, sich zusätzlich zu seiner Kreisbewegung mit Ruhepunkt, auf die Betrachterin, den Betrachter der Ikone zuzubewegen. Denn in „der umgekehrten Perspektive ist der Fluchtpunkt gleich dem Beobachtungspunkt insofern, als dass die Linien nicht vom Betrachter aus an einem Punkt hinter dem Bild situiert sind, sondern im Gegenteil vom Bild ausgehend auf den Betrachter zulaufen“3.
Diese Position des Fluchtpunktes auf den Betrachter erlaubt es außerdem, „die Elemente des Bildes zu dissoziieren und die verschiedenen Bildteile so zu betrachten, als würde man jedes Mal einen besonderen Blickwinkel einnehmen und somit die eigenen Horizont vervielfältigen“4. Auf diese Weise öffnet sich ein „polyperspektivischer Raum“5, der dem tendenziellen Selbstbezug (solipsisme) linearer bzw. zentraler Perspektive entgegen steht.6
Nimmt man nun den biblischen Befund des Johannesevangeliums hinzu, der Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten zusammenfallen lässt7, so muss man die in diesem Ereignis generierte Bewegung als eine geöffnete Drehbewegung, einen Strudel bezeichnen.
Als solche wird die Bewegung zum Indiz dafür, dass das Kirchenjahr nicht nur als Phänomen der Geschichte, also in der linearen Kontinuität historischer Einflüsse, Epochen und Kulturen, „in seiner Zeit“ zu beschreiben ist, sondern auch „gegen seine Zeit“ als ein „Ensemble verschiedener Zeiten“, die „voneinander entfernt“ sind, „diskontinuierlich und dennoch benachbart“. In diesem Sinne ist die Bewegung anachronistisch, sie montiert heterogene Zeiten und drückt auf diese Art und Weise zugleich eine „lange Dauer der Erinnerung“ bzw. eines Nachlebens und eine „Diskontinuität der historischen Zeit“ aus.8
Der zumindest nach außen rauschhaft wirkende rhetorische Akt, von dem die Apostelgeschichte zu Pfingsten berichtet, hätte sich in unterschiedliche Register der Bewegung vervielfältigt, bzw. lässt sich als Teil eines Ensembles von Bewegungen verstehen. Die Form, in der die Bewegung sich in der Liturgie fortsetzen könnte, müsste in elementarer Einfachheit auch so etwas wie Tanz sein.9
„Tanzen ist immer noch das Einfachste, Natürlichste, was der Körper kann“10, sagt die belgische Tänzerin und Choreographin Anne Teresa De Keersmaekers. Und um direkt auf den oben beschriebenen Bewegungsmodus zu kommen: „Sich zu drehen war für mich die natürlichste Art zu tanzen“.11
Ausgangspunkt des Tanzes ist das Gehen: Gehen „ist die Basis der menschlichen Bewegung, wir haben eine vertikale Aufrichtung des Skeletts und zwei Füße. (Steht auf und geht durch den Raum.) Es ist die Verbindung zur Erde. Gehen hat mit der Schwerkraft zutun. Man kann tanzen auch sehen als den Versuch, die Schwerkraft herauszufordern. Gehen organisiert auch meine Zeit. Es ist die einfachste Weise, mein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu organisieren.“12
Der Übergang vom Gehen ins Tanzen ist fließend: „Ich betrachte das Gehen als den Tanz im Reinzustand. Das Gehen ist die einfachste Bewegung, jeder kann es, man kann es zusammen machen. Es ist immer der Ausgangspunkt eines möglichen Tanzes. Es organisiert den Raum und die Zeit. Gehen regiert auch unseren sozialen Raum. Zum Beispiel kann ich mich von Ihnen entfernen. Und ich kann es sehr schnell oder langsam tun.“13
De Keersmaeker spricht von einem „parametrischen Denken“, wenn sie choreographisch arbeitet. D.h. sie bringt dann „einen der Parameter in Bewegung um die Schönheit dieser oder jener Bewegung zu steigern, indem ich sie lebendiger oder befremdlicher mache. Zum Beispiel wenn ich mit dem Parameter „Zeit“ arbeite, spiele mit extremer Beschleunigung oder mit extremer Verlangsamung.“14
Auf welche Art und Weise und wie immer zurückhaltend elementar Bewegung im Zusammenhang liturgischer und homiletischer Gestaltung auch ausfällt, sie ist ein vergessenes Charakteristikum von Pfingsten und betrifft den Menschen und die Schöpfung als Ganze in allen ihren Einzelheiten. Paulus spricht von einer neuen Schöpfung, die sich zeigt.