Im Vergleich zur Sehnsucht der ersten großen Fastenzeit des Kirchenjahres, dem Advent, gestaltet sich die zweite, die Passion, wie ein Entzug. Als Mimese der Leidensgeschichte Jesu zeichnet sie den Menschen in dieser Perspektive: „Memento, homo“ 1, bedenke, Mensch.
Diese Formel geht zurück auf das „seit dem 7. J[ahr]h[undert] übliche Ritual der Büßeraustreibung“2 und wurde seit dem 10./11. Jahrhundert „kommunalisiert“3, also auf alle übertragen.
„Auf den Kopf zu wird da jedem gesagt und mit Asche besiegelt, dass dieser Schädel ein künftiger Totenschädel sein wird, dass er, der jetzt noch denken kann, dies nicht vergessen, sondern sich in Erinnerung rufen möge. Mit diesem Bedenksatz wird die Aschenbestreuung ein persönliches Memorial, nicht Gedenken der Toten, wie Allerseelen, sondern Gedenken des eigenen, künftigen, unentrinnbaren Todes, Memento mori.“4
In der Bezeichnung durch ein Aschekreuz auf die Stirn am sogenannten Aschermittwoch, lässt sich eine lange Tradition von Trauer- und Bußgebräuchen, die auf das Alte Testament zurückgehen, finden. Dabei kann sich die „Entstellung des körperlichen Aussehens“ als „Selbstdemütigung“ vor Gott und den Menschen „mit dem Entzug von Nahrung verbinden“5. Was in heutiger kirchlicher Fastenpraxis häufig mit moralisierendem Zeigefinder als Lebensstil auf Zeit proklamiert wird, findet sich radikaler, also seiner Wurzel näher, und aus der Kirche ausgewandert, in Praktiken der Jugend-, Pop- und Trashkultur wieder, wie bei Punks an Bahnhofsaufgängen in westlichen Großstädten oder – hier wider Willen – bei den vom Leben auf der Straße gezeichneten Menschen aller Erdteile.
In der Welt wird mehr als genug sichtbar, was sich im Zeichen der Asche verdichtet: „Seitdem die Menschen mit Feuer hantieren, ist ihnen zur Hand, was Asche ist, ein Rest, das, was übrig bleibt von dem, was sie an pflanzlichem oder tierischem Stoff in die Flammen geworfen haben, flüchtige Mineralien der Erde. Die Einäscherung von Menschen führt als Todesritual drastisch vor Augen, dass sie, auch sie zu dieser organischen Natur gehören. Die Kirche hat den kurzen Prozess der Kremation, die den Menschen im Nu zu einem Häuflein Asche in der Urne macht, lange Zeit verpönt, weil Leichenverbrennungen propagandistisch mit materialistischer Ideologie verbunden wurden. Am Resultat ändert die kirchliche Option für die Erdbestattung nichts. Der langsame Prozess der der Erde überlassenen organischen Verwesung endet, wenn er auch auf den Eingriff menschlicher Technik verzichtet, gleichfalls in einer Mineralisierung.“6
Zielt die vorweihnachtliche Fastenzeit auf das Ereignis einer Geburt, so zielt die vorösterliche Fastenzeit auf das Ereignis eines Todes. Beiden gemeinsam ist die Zeitstruktur, wobei die „horizontale Aufeinanderfolge der vorübergehenden Gegenwarten den Todeslauf aufzeichnet“. Diese horizontale Aufeinanderfolge entspricht dem chronologischen Ablauf von Zeit. Nun entspricht aber „jeder Gegenwart [auch] eine vertikale Linie“. Diese verbindet jede Gegenwart „in der Tiefe mit ihrer eigenen Vergangenheit“. Das geschieht ebenso „mit der Vergangenheit der anderen Gegenwarten“. Untereinander bilden alle diese vergangenen Gegenwarten „ein und dieselbe Koexistenz“, d.h. „ein und dieselbe Gleichzeitigkeit“. Diese ist nun eher als „das ‚Internelle‘ als das Ewige (l’éternel)“ zu verstehen. In dieser Gleichzeitigkeit als einer „reinen Erinnerung sind wir ‚gleichzeitig‘ mit dem Kind, das wir gewesen sind, so wie der Gläubige sich ‚gleichzeitig‘ mit Christus fühlt.“7
Diese Gleichzeitigkeit konkretisiert sich liturgisch in der Taufe als Taufe auf den Tod Christi, wie Paulus es im Römerbrief schreibt (Röm 6,3). Daher der besondere Sinn eines Aschekreuzes auf der Stirn eines Menschen: Es ist „als ob der Tod außerhalb von ihm [ihr] von nun an nur auf den Tod in ihm [ihr] stoßen“8 könnte. Diese Erfahrung erzeugt ein „Gefühl von Leichtigkeit“, das schwer zu übersetzen ist: „[V]om Leben befreit? Das Unendliche, das sich öffnet? Weder Glück noch Unglück, auch nicht die Abwesenheit von Furcht und vielleicht schon der Schritt jenseits“?9
Das Ereignis des Todes des Gottessohnes, „hat dann nichts mehr gemeinsam mit dem Raum, der ihm als Ort dient“, also das Kreuz auf Golgatha, „noch mit dem vorübergehenden gegenwärtigen Aktuellen“, also der Gegenwart vor 2000 Jahren. „[D]ie Zeitspanne des Ereignisses endigt, bevor das Ereignis endigt, das Ereignis wird dann eine andere Zeitspanne einnehmen.“ In dieser neuen Zeitspanne des Ereignisses ereignet sich nicht Neues, diese Zeit ist eine „leere Zeit“. In diese leere Zeit lösen wir das vorübergegangene gegenwärtige Aktuelle auf und versetzen „die einmal gebildete Erinnerung“ hinein. Auf diese Weise entdeckt man „eine dem Ereignis innerliche Zeit, die sich aus der Simultaneität“ verschiedener „Gegenwarten zusammensetzt“10, selbst dann, wenn sie flüchtig ist.
… „Was macht‘s. Einzig bleibt das Gefühl von Leichtigkeit, das der Tod selbst ist, oder um es genauer zu sagen, der Augenblick meines Todes fortan stets in der Schwebe.“11
Memento, homo!