Der junge Dominikanermönch Eckhart ist Magister an der Universität in Paris.1 Zu Beginn des Semesters 1293/94 hatte er einen Vortrag zur Einleitung seines Kommentars über die berühmten Sentenzen des Petrus Lombardus gehalten und sich darin nicht lange bei den üblichen Schulweisheiten aufgehalten, sondern direkt zu Beginn Bibelauslegung mit Naturforschung kombiniert und überragende Wissenschaftler anderer Religion zu Worte kommen lassen: den arabischen Astronomen Alfraganus und den jüdischen Gelehrten Moses Maimonides.
Ostern beginnt Eckhart seine Predigt über den ersten Korintherbrief des Paulus: »Christus ist als Osterlamm geschlachtet. So lasst uns denn ein Mahl halten« (5,7) ähnlich spektakulär. Nachdem er erklärt hatte, dass mit dem Mahl in Paulus‘ Text das Abendmahl dieses Ostergottesdienstes gemeint sei, zitiert er Cicero als den Rhetoriker, den Augustinus immer empfohlen habe.
Cicero hält unter den Kriterien einer guten Rede fest, »dass Unerwartetes, Unglaubliches und Ungewohntes die Hörer am meisten fasziniere«. 2 Eine Rede müsse »den Hörer direkt betreffen – tua res agitur –; sie muss Unglaubliches, also Wunderbares enthalten; sie muss Neues, also Ungewohntes sagen«. Sie muss etwas Großes ansprechen, was über die Natur hinaus geht.3
Und eben dies geschehe jetzt in der »österliche[n] Aufforderung, ein Freudenmahl zu halten. Denn hier werde uns Gott, die ›unbegreifliche intelligible Kugel‹, sphaera intelligibilis et incomprehensibilis, deren Zentrum überall und deren Peripherie nirgends ist, in der Form des Brotes als Speise angeboten«.4
Mit seiner Gottesbeschreibung griff Eckhart auf die zweite Definition der vierundzwanzig Philosophen zurück, auf jenen geheimnisvollen Text, der wahrscheinlich aus dem 12. Jahrhundert stammt und einer der wirkungsvollsten philosophischen Texte des Mittelalters ist.
»Deus est sphaera infinita cuius centrum est ubique, circumferencia nusquam.
Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.«5
Ohne sich in den spekulativen Interpretationsmöglichkeiten dieses Satzes zu verlieren, stellt Eckart in seiner Osterpredigt »das Abendmahl dar als die ideale Erfüllung der rhetorischen Regeln Ciceros wegen der staunenerregenden unbegreiflichen Präsenz der unendlichen Einheit in einem Stück Brot«.6
Dieser älteste erhaltene Text von Meister Eckhart ist ein brillantes Zeugnis experimenteller Homiletik, die rhetorische Theorie und gottesdienstliche Praxis für einen Moment zusammenfallen lässt.
– Als der amerikanische Komponist John Cage im Jahre 1982 von jungen Komponisten nach einer Empfehlung gefragt wurde, antwortete er ihnen: »Meister Eckhart lesen!«. Für junge Predigende heute sollte man ergänzend hinzufügen: John Cage hören.