Als das Christentum zum ersten Mal raus auf die Straßen einer Großstadt ging, reklamierte es sein Recht zu erscheinen, eine bisher vernachlässigte Art der Epiphanie.
Das Besondere dieser Aktion, die man auch Demonstration oder Versammlung nennen könnte, besteht darin, dass ihre öffentlichen und damit politischen Bedeutungen „nicht nur durch den – geschriebenen oder gesprochenen – Diskurs aufgeführt werden, sondern dass sich dort Körper versammeln“1. Was da geschieht, kann man „verkörperte Handlung“ nennen. Sie tun etwas, was „weder diskursiv noch vordiskursiv ist“2.
„Mit anderen Worten, Versammlungen haben schon vor und unabhängig von den spezifischen Forderungen, die sie stellen, eine Bedeutung. Stille Zusammenkünfte, zu denen auch Mahnwachen und Beerdigungen gehören, haben häufig eine Bedeutung, die jeden schriftlichen oder mündlichen Bericht darüber, worum es bei ihnen geht, übersteigt.“3
Die amerikanische Philosophin Judith Butler nennt diese Formen „plurale Formen der Performativität“4. In ihnen agieren Formen „sprachlicher Performativität“ mit Formen „leiblicher Performativität“. „Sie überschneiden sich; sie sind nicht völlig verschieden; sie sind freilich auch nicht identisch.“ Manchmal ist das, „was man mit seinen Ausdrucksmitteln zu erkennen gibt, etwas ganz anderes als das, was als eigentliches Ziel des Sprechakts explizit zugegeben wird.“5
Hier öffnet sich ein beweglicher Zwischenraum, ein Spielraum „pluraler Formen des Handelns und sozialer Widerstandpraktiken“6, der den öffentlichen Raum zugleich beansprucht und hervorbringt7.
Ganz gleich ob in Bewegung oder in Ruhe, ich parke meinen Körper „inmitten der Handlung eines anderen“. Und diese Handlung „ist weder meine noch deine Handlung“. Sie ist etwas, „das aufgrund der Beziehung zwischen uns geschieht“. Sie ist etwas, „das aus ebendieser Beziehung hervorgeht“ und dabei „zwischen dem Ich und dem Wir laviert“. Dies Geschehen bringt den „generativen Wert einer Doppeldeutigkeit“ hervor, den es „zugleich zu bewahren und zu verbreiten sucht“.8
Eine solche Situation des sich gegenseitigen Aussetzens und Gefährdens lässt sich noch anders und weitergehend beschreiben mit dem Begriff des Gefüges.
„Die Ökologen haben sich diesem Begriff zugewandt, um die mitunter starren und eng umgrenzten Konnotationen der ökologischen ‚Gemeinschaft’ zu umgehen. Die Frage, wie sich die verschiedenen Arten in einem Arten-Gefüge – wenn überhaupt – gegenseitig beeinflussen, ist nie letztgültig zu entscheiden. Manche behindern (oder fressen) einander; andere arbeiten zusammen, um zu überleben; wieder andere befinden sich einfach zufällig am gleichen Ort.
Gefüge sind offene Versammlungen. Der Begriff gestattet es, nach gemeinschaftlichen Wirkungen zu fragen, ohne sie vorauszusetzen. Gefüge lassen uns möglichen Geschichtsprozessen beiwohnen.
Mir geht es jedoch nicht nur um Organismen im Sinne von sich versammelnden Elementen. Vielmehr möchte ich begreifen, wie Lebewesen – und nichtlebende Seinsweisen – zusammenkommen. Wie menschliche Seinsweisen wandeln sich auch nichtmenschliche Seinsweisen im Lauf der Geschichte. Was die Lebewesen anlangt, ist die Artenidentität ein Anfang, aber sie reicht nicht aus: Seinsweisen sind emergente Effekte von Begegnungen. Das wird deutlich, wenn man über Menschen nachdenkt. Auf Pilzsuche zu gehen, ist eine Lebensweise; es ist aber kein allen Menschen gemeinsames Charakteristikum. Das gilt auch für andere Arten. Kiefern finden Pilze, die ihnen helfen, menschengemachte offene Flächen in Beschlag zu nehmen.
Gefüge versammeln nicht nur verschiedene Lebewesen, sie bringen sie hervor.
In Gefügen zu denken lässt uns fragen: Wie können Ansammlungen zu ‚Ereignissen‘ werden, das heißt, mehr als die Summe ihrer Teile? Wenn Geschichte ohne Fortschritt unbestimmt ist und in viele Richtungen geht, können uns dann Gefüge die ihnen innewohnenden Möglichkeiten aufzeigen?
In Gefügen entwickeln sich Muster absichtsloser Koordination. Um solche Muster wahrnehmen zu können, muss man das Zusammenspiel zeitlicher Rhythmen und Größenordnungen in den sich ansammelnden, divergierenden Lebensweisen beobachten.
Überraschenderweise zeigt sich damit eine Methode, die sowohl der politischen Ökonomie als auch der Umweltforschung neue Impulse zu geben vermag. Gefüge binden politische Ökonomie in die Umweltforschung ein – und das nicht nur im Hinblick auf die Menschen.
Großflächig angebaute Nutzpflanzen haben ein anderes Leben als ihre unkultivierten Geschwister; Zugpferde und Jagdrösser gehören der gleichen Art an, nicht aber der gleichen Lebensweise. Gefüge können sich nicht vor dem Kapital und dem Staat verbergen; sie sind Orte, an denen zu beobachten ist, wie politische Ökonomie funktioniert. Wenn der Kapitalismus keine Teleologie hat, müssen wir verstehen, was wie zusammenläuft – nicht nur Vorgefertigtes, sondern auch im einfachen Nebeneinander.“9
Die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing, deren Überlegungen wir hier folgen, übernimmt den Begriff Gefüge (assemblage) aus den Sozialwissenschaften, in denen er unterschiedliche Bedeutungen haben kann, etwa die von Diskursformationen oder die von Netzwerken. Gilles Deleuze verwendet ebenfalls den Begriff Gefüge (agencement) und hat „damit Bestrebungen angestoßen […], das ‚Soziale‘ zu öffnen.“10
Anna Tsing erklärt ihr Verständnis des Begriffes Gefüge mit der Charakterisierung „polyfonisch“ und erweitert damit das Feld noch einmal und nimmt zugleich die o.g. plurale Form wieder auf: „Mit Polyfonie wird Musik bezeichnet, in der selbstständige Melodien miteinander verwoben sind. In der westlichen Musik sind das Madrigal und die Fuge Beispiele für Polyfonie. Weil diese Formen durch eine Musik verdrängt wurden, in der ein einheitlicher Rhythmus und einförmige Melodien die Komposition zusammenhalten, wirken sie für viele moderne Hörer fremd und archaisch. In der klassischen Musik, die an die Stelle der barocken trat, was Einheitlichkeit das Ziel; das ist ‚Fortschritt‘ […]: eine vereinheitlichende Koordination der Zeit. Im Rock ‘n‘ Roll des zwanzigsten Jahrhunderts erreichte diese Einheitlichkeit die Form eines starken Beats, der den Herzschlag des Hörers andeutet. Wir sind es gewohnt, Musik mit einer einzigen Perspektive zu hören. Als ich das erste Mal mit Polyphonie in Berührung kam, war das eine Höroffenbarung. Ich war gezwungen, verschiedene, simultan ablaufende Melodien voneinander zu unterscheiden und zugleich auf die harmonischen und dissonanten Momente zu achten, die aus ihrem Zusammenspiel hervorgingen. Genau diese Art der Wahrnehmung ist nötig, will man die verschiedenen zeitlichen Rhythmen und Trajektorien eines Gefüges würdigen.“11
In einem solchen Gefüge – und damit kommen wir auf den Palmsonntag und die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem zurück –, mitten in dieser „Polyphonie des Lebens“12 schickt sich nun eine Stimme oder Stimmgruppe an, wenigstens für eine Zeit lang zum cantus firmus zu werden und einen alten Psalmvers auszurufen. Wie immer man sich dieses Ausrufen konkret vorstellen muss, gerufen, geschrien, gesungen oder alles zusammen, es hat den Charakter einer „sprachlichen Performativität“ (s.o.).
Zu diesem cantus firmus gehört ein contrapunctus in Form einer „leiblichen Performativität“, die man sich am besten als eine szenische Ausprägung des choreographischen Grundgedankens der belgischen Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker: my walking is my dancing, vorstellen kann. Aus dem Gehen innerhalb einer größeren Versammlung von Menschen bildet sich die Szene um den auf einem Esel reitenden Landstreicher heraus und stabilisiert sich für eine Zeit lang.
Diese Szene ist das Gegenbild des klassischen Einzugs eines Herrschers. Und dies nicht nur deshalb, weil das Reittier kein Pferd, sondern ein Esel und der Herrscher weder wie ein Herrscher gekleidet, noch mit den Insignien einer Herrschaft ausgestattet ist. Auch die Menge der die Szene umgehenden Menschen wird nicht zum Platzmachen von Sicherheitskräften gestoppt, auseinandergetrieben oder geteilt und zu Unterwürfigkeitsgesten gezwungen. Das Gefüge bleibt polyphon.
Christentum erscheint auf der Straße.
P.S.
Was in dieser Geschichte des Einzugs in Jerusalem noch nicht abzusehen ist, ist deren historische Folge: das Hinausziehen in die Schlacht an der Milvischen Brücke und in ihrer Folge die konstantinische Ausprägung des Christentums. Man vergisst, dass diese die weitere Kirchengeschichte dominierende Verbindung von Christentum und Herrschaft aus Geist und Praxis des Krieges entstanden ist. Bis in unsere Tage wird das Christentum diesen Geist, trotz augustinischer Differenzierungsversuche, nicht los. Eine Neubewertung der theologie- und ideengeschichtlichen Topoi, die aus dieser Verbindung heraus entstanden, müsste eine denkerische Geste aufnehmen, den man „minderheitlich-werden“ nennen kann…