Auf den ersten Blick mag es überraschen, Ostern als die Geschichte einer Frau zu bezeichnen. Aber blickt man genauer hin, ist sie dies im doppelten Sinne, als die Geschichte, die eine Frau erlebt und als die Geschichte, die eine Frau erzählt. Als solche ist sie zudem „eine Geschichte erregter Körperbewegung“1.
Wir folgen dem 20. Kapitel des Johannesevangeliums. Da spürt früh am Morgen des Tages nach dem Sabbat Maria Magdalena den Wunsch, dort fortzufahren, wo sie vorher aufgehört hatte. Sie geht zum Grab Jesu. Eine besondere Motivation wird nicht erwähnt. „Es ist die reine Anziehungskraft des Leichnams Jesu und der reine Antrieb dieser Frau.“2
Als sie am Grab ankommt, muss sie feststellen, dass sie nicht die erste ist. Jemand war ihr zuvorgekommen und hatte den Stein, der das Grab verschlossen hatte, weggenommen. Die politische Situation um Jesu Tod war äußerst angespannt: Raub? Bestürzt läuft sie zurück und benachrichtigt ihre Freunde: „Sie haben den Herrn weg genommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Petrus und Johannes laufen sofort los, um die Wette. Johannes ist schneller, kommt zuerst ans Grab, schaut hinein, sieht die Leinentücher liegen, geht aber nicht hinein. Petrus kommt heran, geht hinein und sieht ebenfalls nur die Leinentücher. Sie sehen und glauben der Nachricht der Maria Magdalena: Das Grab ist leer.3 Die beide Jünger gehen der Sache nicht weiter nach und kehren heim.
Maria bleibt dort draußen stehen. Sie kann es nicht fassen. Weinend blickt sie ins Grab hinein (20, 11). Dort, wo die anderen die Leinentücher liegen gesehen hatten, sieht sie „zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte“ (20, 12).
„Aber die aus den Tüchern aufgegangenen Engel sind hier nicht – wie in den anderen Evangelien – himmlische Boten, die die irdische Negation umgehend ins himmlische Positivum wenden: ‚Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden‘ (Mt 28, 6 par.). Sie bleiben Fragezeichen, die nur dazu dienen, dass der Grund der Trauer zur Sprache kommt.“4
„Und sie sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ (Joh 20, 13) Die Engel sind offenbar kein Trost in dieser Lage. Maria wendet sich ab und blickt aus dem Grab hinaus, „sieht den dastehen, den ihre Seele sucht, aber erkennt ihn nicht“5. Die Frage wiederholt sich: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ (20, 15). Maria sucht eine Leiche. Sie hält die fragende Person „für einen Gärtner, der den Leichnam umgebettet haben könnte und bittet ihn um Auskunft, um zu finden und sich zu holen, was sie vermisst. Aber sie erhält keinen Bescheid, sondern wird mit Namen gerufen: ‚Maria!‘, ist auf einmal die angesprochene Person, die die Stimme sofort erkennt, sich noch einmal dreht“6 und auf Hebräisch antwortet: „Rabbuni“, mein Meister (20, 16).
Maria „sucht einen Leichnam und sie findet eine Stimme, die Stimme dessen, den sie tot wähnte, und mit der Stimme eine Gestalt, die sie anrühren und umfangen möchte wie den toten Leib. Aber da entzieht sich ihr der, der sich ihr gerade zugeneigt hatte: ‚Noli me tangere‘“ (20, 17).7 Er schickt sie zu seinen Brüdern (20, 17).
An dieser Stelle kippt die Geschichte, die eine Frau erlebt hat, in die Geschichte, von der eine Frau erzählt. Maria wird hier die Botin, die in den anderen Evangelien die Engel waren. Sie wird die apostola apostolorum. Und sie rennt los.
Das ist etwas anderes, als es die Frauen in den anderen Evangelien tun. Sie ergreifen die Füße des Herrn und werfen sich vor ihm nieder. Maria Magdalena rennt los, und „verkündet den Jüngern: ‚Ich habe den Herrn gesehen‘ und was er zu ihr gesagt habe“ (Joh 18, 18). Dann verschwindet sie aus dem Blick des Evangelisten.
„Maria von Magdala ist eine komplexe Person. […] Der Kirchenvater Ambrosius (ca. 339-397) hat darum gemeint, es müsse sich da um zwei verschiedenen Marien aus Magdala handeln. Zweihundert Jahre später war für Gregor d. G. (um 540-604) die johanneische Maria Magdalena selbstverständlich identisch mit der, die nach den Synoptikern mit anderen Frauen bei der Kreuzigung und der Grablegung und am Ostermorgen zugegen ist. Und diese war nach Mt 16, 9 eben jene Frau, ‚aus der Jesus die sieben Dämonen ausgetrieben hatte‘, wovon Lk 8, 2 erzählt, dass sie solchermaßen geheilt, zusammen mit anderen Frauen Jesus und die Zwölf begleitete und mir ihrem Vermögen für sie sorgte.“8
In der ihr eigenen Art erinnert die römische Liturgie an das Verhältnis zwischen Jesus und Maria Magdalena, wie es in der johanneischen Ostergeschichte aufscheint. Zum Fest der Hl. Maria Magdalena wird aus dem Hohelied des Alten Testamentes gelesen:
„Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: ‚Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?‘ Als ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn und lies ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus, in die Kammer derer, die mich geboren hat.“ (Hohel 3, 2-4)
Auf dieser Folie gelesen markiert das Ende der „Magdalena-Geschichte des Johannesevangeliums“ die entscheidende Differenz, das Neue: „Ich hielt ihn und lies ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus“, und: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater“.
In der Lesung des Hoheliedes „endet die Suche in der Umarmung von Braut und Bräutigam im Cubiculum der Mutter. Im Johannesevangelium ist der Augenblick des Findens der der Trennung, des Abschieds aus der leiblichen Intimität. Dass nicht die Rückkehr in das Gemach der Mutter (und sei es der mater ecclesia) das glückliche Ende ist, sondern dieser Umsprung der irdischen Annäherung in die Entfernung von Himmel und Erden, ist nur nachzuvollziehen, wenn man nachliest, was Joh 14-16 über den Gang zum Vater und seinen Folgen für die Jüngerschaft schon geschrieben steht. Was Maria Magdalena den Jüngern auszurichten hat, ist die postmortale Ratifikation des in den Abschiedsreden Besprochenen.“8
Sollte Maria Magdalena den Jüngern die jesuanisch-johanneischen Abschiedsreden predigend in Erinnerung gerufen und auf seinen Satz: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ (Joh 20, 17) hin kommentiert haben? Ähnliches ist in Bezug auf Phoebe und den paulinischen Römerbrief anzunehmen.9 Konkretere Spuren dieser homiletischen Praxis sind zumindest so verwischt, dass man sie verloren glauben muss. Allerdings weiß die legenda aurea zu berichten, dass Maria Magdalena in der französischen Provence als Predigerin gewirkt hat: „Da verwunderte sich alles Volks der Schönheit ihres Angesichts und der Süßigkeit ihrer Rede“.10
Sehen und hören wir doch noch einmal genauer hin: Nachdem sich die Jünger, allen voran Johannes und Petrus vom Faktum des leeren Grabes überzeugt hatten, waren sie heimgekehrt. Dort sitzen sie abends noch, die Türen zu, eingeschlossen in die Furcht vor den Juden (Joh 20, 19). „Die abendliche Szene ist das genaue Gegenbild der morgendlichen: Dort die einzelne Frau, die offenbar ohne Angst, sich im Freien bewegt, hier das verängstigte Männerkollektiv. Dort der Stein schon weggewälzt, hier das verriegelte Verlies. Dort alles in suchender Bewegung, hier die eingeschnürte Stagnation der Geschichte.“11
Von Maria Magdalena ist keine Rede mehr. Keine Reaktion der Jünger auf ihre Worte ist geschildert. Was nun aber geschildert wird, passiert entweder gleichzeitig zu ihrer Nachricht, oder etwas später wie eine Erläuterung, Bestätigung oder Umsetzung ihrer Worte: Da kam Jesus und trat in ihre Mitte, sagt: „Friede sei mit euch!“ (Joh 20, 19) und zeigt seine Todeswunden. So erkannten ihn die Jünger „und wurden froh“ (Joh 20, 20), wie Maria Magdalena wenig vorher. Dann sagt Jesus nochmals: „Friede sei mit euch!“ Er fügt aber etwas hinzu, was er auch Maria Magdalena schon gesagt hatte, als er sie zu seinen Jüngern sandte und an die Abschiedsreden anknüpfte: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20, 21). Dann blies er sie an wie der Schöpfer seine Kreationen anblies und ihnen Leben einhauchte, und sagt: „Nehmt hin den Heilige Geist!“ (Joh 20, 22).
Zu diesen Gesten der Öffnung und Erneuerung der Schöpferkraft erklingt ein weiterer Satz: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (Joh 20, 23) Und dieser Satz ist ein Rätsel. Ähnlich wie: Noli me tangere. Liest man ihn nicht als Rätsel, landet man in der Kirchengeschichte, im Gemach der mater ecclesia.
Nach ihrer Erfahrung mit dem Noli me tangere mag der Rätselsatz Jesu in den Ohren der Maria Magdalena eine andere Szene wachgerufen haben. Wahrscheinlich ist sie sogar nahe dabei gewesen. Selbst wenn nicht, wird sie ihr als Erzählung der anderen sehr nahegegangen sein:
„Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. (Joh 8, 3-89)
„Selbstverständlich hat die Frau alleine Ehebruch begangen, und so sind die Männer sich einig: Sie muss gesteinigt werden. Die Gewalt innerhalb der Gruppe kehrt sich gegen das Individuum. Anders gesagt: Das Menschenopfer verbindet die Mörder untereinander. Bevor er antwortet und ihr vergibt, bückt sich Jesus, um etwas auf die Erde zu schreiben. Als wollte der Evangelist in seinem Bericht unter seine Schrift eine zweite, die Schrift Jesu, erkennen lassen, so wie ein Palimpsest einen Schriftzug zeigt und einen anderen unter ihm verbirgt. Müssen wir den einen wiederlesen, um den anderen zu entziffern?
Der Begriff Religion, sagen die Sprachwissenschaftler, hat zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere: relegere – ‚wiederlesen‘, ‚überdenken‘ – und religare – ‚verbinden‘, binden‘. [Wir müssen also] beharrlich die [alten] Texte lesen, um eines Tages vielleicht den einen wiederlesen zu können, den Jesus auf die Erde schrieb. Und […] jene zwei Bedeutungen zueinander in Beziehung setzen, wie es hier der Bericht des Johannes tut: Steht in ihm nicht zu lesen, dass Jesus, indem er dem Opfer vergibt, ohne die Henker zu richten, das Band löst, das die Männer in ihrem schändlichen Einverständnis miteinander verbindet?“12
Und sie rannten los. Maria Magdalena bis in die Provence. Und mit der Süßigkeit ihrer Rede wird etwas wohltuend Rätselhaftes gemeint gewesen sein, was eine öffnende und schöpferische Wirkung im Einzelnen zu entfalten vermochte.