Die Entstehungsgeschichte von Hölderlins Roman „Hyperion“ gibt einen Blick auf die Einschätzung vermehrter Lesepraxis gegen Ende des 18ten Jahrhunderts frei, der uns Heutige erstaunt. Er lässt uns eher an Fragen des Umgangs mit Computerspielen und sozialen Medien denken.
„Tatsächlich wurden gegen Ende des Jahrhunderts in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen so viele Romane gelesen, dass Pädagogen, Kulturkritiker und Kirchenleute über den befürchteten Kontrollverlust zu klagen begannen. Was geht nicht alles im Lesenden vor! Da gibt es Erregungen, Phantasien im Verborgenen. Das lesende Frauenzimmer auf dem Sofa, Romane verschlingend, überantwortet es sich nicht verhüllten Exzessen? Und die lesenden Gymnasiasten, nehmen sie nicht teil an Abenteuern, von denen ihre Erziehungsberechtigten sich nichts träumen lassen?
Zwischen 1750 und 1800 verdoppelte sich die Zahl derer, die lesen konnten. Ein knappes Viertel der Bevölkerung gehörte am Ende des Jahrhunderts zum potentiellen Lesepublikum. Es vollzog sich auch ein Wandel im Leseverhallten: Man las nicht mehr ein Buch mehrmals, sondern viele Bücher ein einziges Mal. Die Autorität der großen, wichtigen Bücher – die Bibel, Erbauungsschriften, Kalender –, die mehrfach gelesen und studiert wurden, schwand, man verlangte nach einer größeren Masse von Lesestoff, nach Büchern zum Verschlingen.“1
Die Zahl der erschienenen Bücher stieg rasant und rief neben den Vielschreibern auch Vielleser auf den Plan. Dies geschah nicht nur zum Verdruss von Autoren wie Goethe, die durchaus auf der Erfolgsseite dieser Entwicklung standen, sondern auch von Kritikern wie Friedrich Schlegel. Ein Erfolgsautor wie Jean Paul parodierte die Situation in seinem „Schulmeisterlein Wutz“, der die Bücherkataloge studiert und von den Ankündigungen ausgehend im Handumdrehen selbst die Romane verfasst.2
Auch Hölderlin wollte durchaus von dieser Welle profitieren, schon um sein fragiles Dichterleben finanziell zu grundieren. So griff er die populäre Form des Romans auf, um sie zugleich entscheidend zu öffnen und zu überschreiten. Nach Hölderlin gibt es „zwei Ideale unseres Daseyns“. Der eine ist der „Zustand der höchsten Einfalt, wo unsere Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zutun, gegenseitig zusammenstimmen“3.
Dieser Zustand der Einfalt ist der Zustand der „Nicht-Entfremdung“ weder von sich selbst noch von der Natur. Es ist ein Zustand der „unmittelbaren Natürlichkeit ohne störendes Bewusstsein“.4
Der andere ist der „Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind“. Hölderlin nennt diesen Zustand „die exzentrische Bahn“.5
Dieser Zustand führt vom Zentrum der Einfalt als “vollkommener Übereinstimmung“ weg. Er ist eine Art „exzentrischer Selbstentfremdung“, eine „Dissonanz“, eine „Nichtübereinstimmung unserer Kräfte“, von „Zerrissenheit und innere[r] Gegensätzlichkeit“ bestimmt.6
In diesem Sinne beschreibt Hölderlins Roman „Hyperion“ den Menschen als ein „exzentrisches Wesen“ (Helmut Plessen) und damit als ein modernes Wesen, „das ohne hinreichende Instinktsteuerung seine Mitte und damit seine Selbstzentrierung immer aufs Neue erringen muss“.7
Dieses Konzept eines Romans als „Geschichte eines exzentrischen Lebensversuches“ entsprach und entspricht bis heute weder der Vielschreiberei noch der Vielleserei, in deren historischen Kontext er entstand. Entsprechend schwer hatte es Hölderlins „Hyperion“. Am ehesten fordert es eine Lesart, wie sie der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman in einem anderen Zusammenhang beschrieben hat, nämlich anlässlich seiner Rede zur Eröffnung der neuen Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts, Institut National d’Histoire de l’Art (INHA), in Paris.
Darin beschreibt er die Bibliothek als „ein Dispositiv, um Ideen hervorzubringen“ (un dispositiv d‘engendrement d‘idées) oder als „eine Maschine, um Wissen zu erfinden“ (une machine à inventer des savoirs). Will heißen: „eine Bibliothek ist viel mehr als die Summe ihrer Bücher“. Sie ist ein offener Raum für tausende Artikel, Thesen, Bücher verschiedenster Disziplinen, die noch kommen werden (à venir).8
Die Lektüre gleicht dann eher einem Komponieren. Zum empfangenen, im Lesen vorgefundenen Wissen kommt das Herstellen von Konfigurationen und neuen Ideen, das Erfinden von neuen Inhalten und neuen Formen des Wissens hinzu.9
Die philologische Identifikation und das Studium der Quellen ist nur der Ausgangspunkt für eine wichtigere, riskantere Forschung. Es geht nicht nur darum, die Quellen zu scheiden und abzugrenzen, sondern sie ins Fließen (fluer) zu bringen, sie sich einander beeinflussen (influer) zu lassen.
Georges Didi-Hubermans Entwurf einer Bibliothek und des ihr folgenden Lesens ist von Aby Warburgs berühmter „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ geprägt. Darin hat Warburg die Grenzen zwischen den Disziplinen geöffnet und dem Phänomen der stilistischen, ikonographischen und gedanklichen Wanderungen (migrations) besondere Aufmerksamkeit geschenkt.10
Was Hölderlin in Bezug auf seinen Roman exzentrisch nannte, nennt Didi-Huberman in Bezug auf Bibliotheken zentrifugal (centrifuge).11
„Von einem Buch zum anderen gehen auf eine vielleicht sogar desorientierte Art und Weise, zentrifugal; und mehr noch, die Bücher sich gegenseitig begegnen lassen in einem Arbeitszusammenhang: das nennt man Montage, eine experimentelle heuristische Praxis, die darauf gerichtet ist, bei geöffneten Büchern zu arbeiten und zu sehen, was sich daraus ergibt, sie in Bewegung gebracht zu haben; sie von ihren angestammten Plätzen zu lösen, so dass sie einander Antworten geben.“12
Auf die Spitze getrieben – und mit den Worten Walter Benjamins – heißt Lesen bei geöffneten Büchern: „Lesen, was nie geschrieben wurde“ (Lire, ce qui n’a jamais été écrit)13. Und man müsste hinzufügen: und was doch im zu lesenden bzw. gelesenen Text steht.
Der Witz dieser zugespitzten Formulierung findet sich in Walter Benjamins Pauluslektüre. Paulus lesend entdeckt Benjamin ein „hermeneutisches Prinzip“ des Lesens, „das das genaue Gegenteil des gängigen Prinzips ist, wonach jedes Werk zu jedem Augenblick einer unendlichen Interpretation unterzogen werden kann (unendlich in doppelten Sinn als Interpretation, die sich nie erschöpft und die unabhängig von ihrer zeitlich-historischen Situation möglich ist)“.14
Nach Benjamins Prinzip trägt zwar jeder Text einen „historischen Index“ in sich, der seine „Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche anzeigt“. Dieser historische Index besagt aber auch, dass jeder Text „an einem bestimmten historischen Augenblick“, seine „Lesbarkeit“ erlangt. Walter Benjamin nennt diesen Augenblick das „Jetzt der Lesbarkeit“ eines Textes.“15
Das Jetzt der Lesbarkeit ist zugleich das Jetzt der „bestimmten Erkennbarkeit“ eines Textes: In einem solchen Jetzt, „ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. (Dies Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit zusammenfällt.) Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft“, sondern […] „das Gewesene“ tritt „mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation“ zusammen. Darin besteht der kritische[], gefährliche[] Moment[], welcher allem Lesen zugrunde liegt“.16
Führt Lesen über ein solches Jetzt „ins Offene“, in das Hölderlin seine Leserinnen und Leser ruft?17