Unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie kommt Frère Alois von Taizé auf die Enzyklika „Laudato si‘“ zurück. Fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung betont er ihre Aktualität und Dringlichkeit. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise mache „auf einen Schlag deutlich, wie empfindlich der Planet Erde, unser gemeinsames Haus, ist“[1].

Trotz der Unannehmlichkeiten der allgemeinen Maßnahmen gegen die Pandemie, die das praktische Leben der Gemeinschaft sehr direkt betrafen, entdeckt Frère Alois in ihnen jedoch eine andere Seite, die es zu überdenken lohnt: „Die Einschränkungen und drastischen gesundheitspolitischen Maßnahmen, die einem Großteil der Weltbevölkerung in diesem Zusammenhang auferlegt wurden, haben gezeigt, dass es trotz der dramatischen ökologischen Situation noch möglich ist, im Bereich von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft umzusteuern. Immer mehr Menschen fordern, dass wir die Gelegenheit zu einem grundsätzlichen Nachdenken nützen, anstatt einfach auf den bisherigen Weg zurückzukehren.“[2]

Nicht zuletzt im Austausch mit den meist jungen Menschen, die die Communauté besuchen und zu denen sie den Kontakt auch während der Pandemie nicht abreißen ließ, wuchs bei Frère Alois die Sensibilität für die Dringlichkeit eines solchen Umdenkens, denn die jüngeren Generationen würden direkt von den Folgen des Klimawandels betroffen sein. Ihrer Sorge folgend, ermutigte die Gemeinschaft nicht nur die jungen Menschen in ihrem Engagement, sondern ließ sich selbst von ihnen hinterfragen: „Den Erwartungen der Jugendlichen folgend, versuchen wir in Taizé, in den verschiedenen Bereichen konkrete Schritte zu unternehmen: Wasser, Recycling, Kompost, Energie, Gebäudeisolierung usw. Wir werden unseren Lebensstil weiter überdenken, um zu vereinfachen, was vereinfacht werden kann.“[3]

Seit den frühen Jahren der Communauté de Taizé leben unterschiedlich große Gruppen von Brüdern der Gemeinschaft in sogenannten Fraternitäten[4] für unterschiedlich lange Zeit unter den Ärmsten dieser Welt. Das macht sie im alltäglichen Leben konkret aufmerksam für einen entscheidenden Aspekt der Enzyklika, auf den Frère Alois unter dem Eindruck der Pandemie zurückkommt: „Nachdem das gesellschaftliche Leben mit seiner enormen Geschwindigkeit auf einen Schlag fast zum Stillstand gekommen ist, besteht nun die Gefahr enormer sozialer Verwerfungen. Darunter würden in erster Linie die Allerärmsten leiden – sowohl Einzelne als auch gesamte Länder. Werden wir neue Beziehungen der Solidarität aufbauen müssen und den Wert wiederentdecken, der im Füreinander-Dasein liegt, so wie viele es in den vergangenen Wochen erfahren haben?“[5]

„Neue Beziehungen der Solidarität“ legen oft unerwartete, mitunter gern verschwiegene Verhältnisse bloß, die ihrer Aufarbeitung harren. So begegnete Frère Rudolf, der 30 Jahre in der Fraternität von Taizé in Alagoinhas im Nordosten Brasiliens lebte, einem ekklesiologischen Phänomen, dass seine Neugier weckte.

Nachdem die traditionell starke katholische Kirche in Brasilien sich Ende der 60er Jahre in ihrer Option für die Armen der Realität anzupassen versuchte[6], musste vierzig Jahre später lakonisch festgestellt werden, dass die Armen ihre Option für die Pfingstkirchen ausgesprochen hatten[7]. Auch die Bewegung der sogenannten Basisgemeinden hatte nicht die erhoffte nachhaltige Wirkung. Der Glaube der Ärmsten zeigte sich vielmehr in kleinen „evangelischen (evangelical) Spontankirchen“.[8] 

Dies Phänomen war nicht leicht zu verstehen. Es handelt sich hierbei nicht um pietistische Gruppen, wie man sie innerhalb der lutherischen oder anderen protestantischen „mainline“ Kirchen Europas kennt, die sich als Erneuerungsbewegungen innerhalb der historischen Kirchen verstanden und verstehen. Ebenso wenig handelt es sich um charismatische Gemeinschaften, wie man sie in Europa oder Amerika kennt, die sich auf traditionelle dogmatische Werte wie theologische Buchstäblichkeit stützen und sich ebenfalls als Erneuerung bestehender kirchlicher Strukturen verstehen.[9] Schließlich handelt es sich auch nicht um sogenannte „Prosperity-Churches“, mit denen sie weder in theologischer noch in organisatorischer Hinsicht vergleichbar sind, denn diese Kirchen sind groß, arbeiten profitorientiert und suchen nach wirtschaftlichem und politischem Erfolg und Einfluss.[10]

„Was sind spontane Kirchen dann? Sie haben keine besondere Leitungsfigur, keinen gemeinsamen Gründer, wie es bei vielen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen der Fall ist, die z.B. auf Martin Luther oder Johannes Calvin zurückblicken. Die spontanen Kirchen entstehen außerhalb der bestehenden Strukturen der historischen Kirchen. Sie sind einfach Orte, an denen Menschen sich Gott zuwenden können. Sie sind Orte des Weinens, des Klagens vor Gott, an denen Gott um Hilfe angerufen wird, Orte an denen für Gott gesungen wird als dem einzigen sicheren Halt im Leben. Menschen, die an solche Orte kommen, finden in erfahrener Nachbarschaft, gemeinsamem Singen, Beten und Bibellesen Hilfe, meist die einzige Hilfe in hoffnungslosen Situationen.“[11]

Die Brüder der Fraternität von Taizé in Alagoinhas in Brasilien entdeckten diese Spontankirchen in ihrer Nachbarschaft. Zum Teil berührten sich ihre sozialen Aktivitäten[12] und so kam man in Kontakt. „Es gibt keinen anerkannten Namen für diese Arten von Kirchen. Sie entstehen spontan, als Antwort auf die dringenden Bedürfnisse der Menschen. Die meisten Menschen in der Nachbarschaft leben in tiefer Armut. Sehr viele sind Opfer von Drogenhandel, von kriminellen Banden und von Prostitution. Gewalt ist allgegenwärtig: jedes Jahr starben zwischen 20 und 40 Teenager und Jugendliche, die wir persönlich aus unserer Nachbarschaft kannten, als Opfer von Verbrechen mit Drogenbezug. Menschen in derart hoffnungslosen Situationen suchen nach einem Weg heraus aus ihrer Verzweiflung. Und oft finden sie ‚Glaubende‘ aus diesen Kirchen, die ihnen beistehen, sie anleiten zu einer persönlichen Konversion, die als eine Begegnung mit Jesus erfahren wird, die Erlösung in einem sehr buchstäblichen Sinne bietet. ‚So spricht der Herr: Ich wohne… bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen‘. (Jes, 57, 14-15). Derartige persönliche Konversionen, die mit ‚Jesus annehmen‘ (accepting Jesus) beschrieben werden, sind oft gegründet in einer lebendigen spirituellen Erfahrung einer Begegnung mit der Liebe Christi. Von solch einer Begegnung wird erwartet – und oft führt sie tatsächlich dazu –, dass sich der Lebensstil der betroffenen Person ändert, einschließlich der Aufgabe von Alkohol, Drogen und kriminellen Aktivitäten. Wenn derart Konvertierte dann zur Kirche kommen, drücken sie ihre Veränderung im Leben oft mit einer Veränderung ihrer Kleidung aus: ‚respektable‘ Kleidung wie Anzug und Krawatte sind häufig bevorzugt. Oft hat eine Konversion Auswirkungen auf den familiären Zusammenhalt der Betroffenen. Häufig findet eine Frau zuerst den Weg zu einer spontanen Kirche. Wenn sie dann ihren Partner mitbringt, ist das meist der Beginn einer familiären Restrukturierung.  Einige dieser Menschen fühlen das innere Bedürfnis, die gute Nachricht ihrer Bekehrung zu teilen und beginnen, zusammen mit ihren Nachbarn in der Bibel zu lesen. Stück für Stück entsteht so eine neune ‚spontane‘ Kirche, zuerst in ihrer Wohnung, dann vielleicht in einer Garage oder vor dem Haus mit Stühlen, die jedes Mitglied der neuen Gruppe mitbringt. Selbst die kleinsten derartigen Versammlungen werden Igrejas, Kirchen, genannt. Einige von ihnen verschwinden nach einer Weile, andere organisieren sich und bauen zusammen einen kleinen Gebetsraum.“[13]

Fragt man nach den historischen Wurzeln dieser ekklesiologischen Entwicklung, so macht man eine erstaunliche Entdeckung, die in ihrer Fragestellung weit über ihr aktuelles Phänomen hinausgeht und tief in die Geschichte der historischen Kirchen hineinragt. Denn die Gründe der Entfremdung zwischen der Katholischen Kirche in Brasilien und den heutigen Armen geht zurück auf die Zeit der Sklaverei:

„Die meisten der heutigen Armen stammen von Menschen ab, die versklavt und dann von Afrika aus ‚importiert‘ wurden; und diese Sklaven und ihre heutigen Nachfahren wurden getauft, aber ihnen wurde nur wenig Zugang zu den anderen Sakramenten gewährt. Aus Afrika kommend wurden die versklavten Menschen nicht gefragt, ob sie getauft werden wollten oder nicht. Insofern es nur Christen erlaubt war, portugiesische Territorien zu betreten, war die Taufe obligatorisch für alle bevor sie den Fuß auf den Boden einer portugiesischen Kolonie setzen konnten. Die Taufe bestand in einer lateinischen Formel und Wasser; die Sklaven konnten den Sinn dieser Handlung nicht verstehen; es wurde nichts unternommen, um sie ihnen zu erklären oder sie auf die Taufe vorzubereiten. Faktisch war die Taufe in den Prozess der Versklavung integriert, bei dem die Afrikaner nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihren eigenen Namen, ihre Familien, ihre Kultur und ihre Identität für immer verloren. Auf diesem Wege wurden im Laufe der Jahrhunderte fünf Millionen Afrikaner unfreiwillig zu Christen, ohne in das Evangelium eingeführt worden zu sein (evangelization). Erst im Jahre 1888 wurde die Sklaverei in Brasilien offiziell abgeschafft; es war das letzte Land, in dem das geschah. Das ist noch nicht so lange her. „Als ich“ – so berichtet Frère Rudolf von Taizé weiter – „dort ankam, war das Gesetz, das man stolz das ‚Das goldene Gesetz‘ nannte, noch nicht einmal einhundert Jahre alt. Ich traf also in Alagoinhas bald nach meiner Ankunft jemanden, der mir die Ketten zeigte, die sein Großvater getragen hatte. Außerdem bedeutete das plötzliche Ende der Sklavenzeit, dass die frisch entlassenen Menschen über Nacht ohne Vorbereitung oder Übergangszahlungen oder Starthilfen auf den Straßen landeten. Hierin liegen die Gründe für die fortwährende Abhängigkeit und Ausbeutung ihrer Nachfahren bin heute. Einige katholische Theologen sprachen sich individuell gegen die Brutalität der weißen Sklavenhalter aus, aber insgesamt haben die Autoritäten der Kirche in Brasilien die Institution der Sklaverei nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern blieben ihre Komplizen. Solange Priester Mitglieder der höchsten sozialen Klasse eines bis in die Hausarbeit hinein auf Sklaverei beruhenden Landes sind, ist es nicht überraschend, dass Priester selbst Sklavenhalter und Herren in einer Sklavenhaltergesellschaft waren. Alle Sklaven wurden getauft. Dennoch gibt es nicht einen Beweis für die Konfirmation eines Sklaven und nur sehr wenige für Eheschließungen – wenn Besitzer Sklaven die Eheschließung erlaubten, konnten ihre Besitzrechte über ihre Sklaven leicht davon betroffen werden. Niemals konnten Sklaven Priester werden. Bis auf den heutigen Tag haben schwarze Menschen in unserem Kirchenbezirk Schwierigkeiten, wenn sie z.B. Paten werden wollen, weil sie häufig nicht konfirmiert sind. Trauerfeiern finden gewöhnlich nicht in der Kirche, sondern zu Hause statt. Die Menschen werden sehr schnell nach dem Tod beerdigt, so dass die Vorbereitungen zwischen Familie und Freunden stattfinden. Mit wenigen Ausnahmen sind offizielle Repräsentanten der katholischen Kirche nicht anwesend. Menschen, die in Nachbarschaften wie der unseren leben, beerdigen sich gegenseitig, aber diejenigen, die ‚Jesus angenommen haben‘ (accepted Jesus) oder ‚Glaubende geworden sind‘ (become  believers), werden von den Pastoren ihrer ‚spontanen‘ Kirche zum Friedhof begleitet. Rassentrennung wurde aus der Kirche erst in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbannt. Die 1707 Verfassungen der Erzdiözese Bahia – die Magna Charta der Kirche dieses Landes im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert – verboten es farbigen Menschen, Priester zu werden, es sei denn sie hatten eine päpstliche Erlaubnis (indult). Und es waren nicht die kirchlichen Autoritäten, sondern die staatliche Verwaltung, die die Gleichheit aller Menschen erzwang. Erst 1960, neun Jahre nach der Unterzeichnung des Afonso Arinos Gesetzes (1951), das jeglichen Akt der Rassendiskriminierung unter Strafe stellte, ließen die Seminare und religiösen Kongregationen in ihren Statuten und internen Regularien von den Artikeln und Klauseln ab, die den Eintritt von farbigen Menschen in das religiöse Leben verboten. In den frühen neunziger Jahren lernte ich noch den ersten von drei schwarzen Bischöfen kennen, den ersten nach mehr als 500 Jahren offiziellen Christentums: Dom José Maria Pires. Er was ein Champion für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Schwarze Menschen in Brasilien hatten keine religiösen Führer, die ihre Rechte und die Würde ihres schwarzen Erbes verteidigten, wie es im nordamerikanischen Protestantismus der Fall war, wo schwarze Pastoren sich für die Rechte der Gläubigen einsetzten, ihre Kultur und Erbe fortzuführen. Die Katholische Kirche in Brasilien hat keine Figuren hervorgebracht wie z.B. Rev. Martin Luther King, den protestantischen Verteidiger der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Auf der Lateinamerikanischen Kirchenversammlung von Mexiko 2021 hielt Schwester Maria Suyapa Cacho Álvarez, eine schwarze Ordensschwester, eine gut aufgenommene Rede über ‚The Black Voice in Latin America‘. Sie warnte vor der Verachtung und dem Desinteresse, denen die schwarze Bevölkerung dieser Weltgegend in den Kirchen ausgesetzt sind. ‚Als ich mich auf diese Versammlung vorbereitete‘, erzählt Maria Suyapa, ‚bin ich durch viele Garifuna-Dörfer gefahren und viele Menschen sagten mir: Wir sind Kinder der Kirche, und doch benimmt sie sich uns gegenüber so, als ob wir nicht ihre Kinder wären! Schwarze Menschen in Lateinamerika fühlen sich nicht so willkommen wie sie sind. Die Kirche ist wie eine Mutter, die ihre Kinder dafür ablehnt, unterschiedlich zu sein (being different)‘, erklärt sie.“[14]

Schrei der Erde – Schrei der Armen – Neue Beziehungen der Solidarität: Es bleibt nur „Hoffen über alle Hoffnung hinaus“[15] (Frère Matthew, Taizé).    

P.S.

Was kann das praktisch bedeuten?[16] Nach der persönlichen Erfahrung von Frère Rudolf in der Fraternität von Taizé in Brasilien gehören die „historischen Kirchen und die Christen der spontanen evangelischen Kirchen zur selben Kirche Jesu Christi. Wie können wir aber zusammenkommen? Die neuen, ‚spontanen evangelischen‘ Christen fühlen, dass sie Jesus nicht in den historischen Kirchen finden und sind deshalb bereit, sie zu verdammen. Andererseits beurteilen die historischen Kirchen die neuen spontanen Kirchen oft als sektenhaft oder illegitim. Wenn wir an das Gebet Jesu für die Einheit seiner Jünger in Johannes 17 denken, sind beide Reaktionen skandalös.“[17] Frère Rudolf (1936-2024) selbst verhielt sich folgendermaßen: „Viele Mitglieder der spontanen Kirchen hatten an den Aktivitäten [der Brincadera[18]] als Kinder oder Teenager teilgenommen; so vertrauten sie mir, denn sie kannten die kleine Gemeinschaft, aus der ich kam. Dieses Vertrauen war ein Schlüsselelement unserer täglichen Zusammenarbeit. So nahm ich recht häufig an ihren Gottesdiensten teil. Ich wollte unseren Nachbarn dabei helfen, zu verstehen, dass ich, wie sie, Jesus ‚akzeptiert‘ hatte für mein ganzes Leben. Es ist wahr, dass ich mich nicht sehr wohl gefühlt habe mit dem sehr lauten Musikstil, mit der Art Gott zu preisen und auch nicht mit der Länge der Predigten [in ihren Gottesdiensten]; das alles war so verschieden von dem, was ich aus der lutherischen Kirche in Deutschland und in den gemeinsamen Gebeten in der Gemeinschaft von Taizé zu leben gewohnt war. Aber was sind schon kulturelle Konflikte, wenn es um Gemeinschaft im Glauben geht?“[19]