Wie kommt einer der bedeutendsten Anthropologen dazu, von seiner Wissenschaft „als mindere Wissenschaft“ zu sprechen? Die Spur der Antwort auf diese Frage findet sich im Haupttitel des Veröffentlichungsprojektes, deren Untertitel die „Anthropologie als mindere Wissenschaft“1 bezeichnet. Der Haupttitel heißt: „Anti-Narziss“ und die Antwort wie folgt:
„Das Hauptanliegen des „Anti-Narziss“ ist es – ich sollte wohl eher schreiben: ‚wäre es‘, aber entlehnen wir meiner Disziplin doch hier einmal das ethnologische Präsens –, auf folgende Frage zu antworten: Was ist die Anthropologie den Völkern, die sie erforscht, in begrifflicher Hinsicht schuldig?
Die Implikationen dieser Frage werden zweifelsohne viel deutlicher hervortreten, wenn wir uns dem Problem von der anderen Seite aus nähern. Die Frage lautet dann: Lassen sich die Differenzen und die Veränderungen der anthropologischen Theorie vor allem – und aus historisch-kritischer Sicht sogar ausschließlich – anhand der Strukturen und Konjunkturen der Machtgefüge, der ideologischen Debatten, der intellektuellen Felder und der akademischen Kontexte erklären, denen die Anthropologen jeweils entstammen?
Sollte das etwa die einzige theoretisch relevante These sein?
Oder können wir nicht vielmehr eine Umkehrung der Perspektive vornehmen, die zeigen würde, dass die interessantesten Begriffe, Probleme, Entitäten und Akteure, die von anthropologischen Theorien hervorgebracht werden, in der Vorstellungskraft gerade jener Gesellschaften selbst wurzeln, die durch sie erklärt werden sollen? Läge nicht gerade hier die Originalität der Anthropologie: in dieser stets doppeldeutigen, oft aber eben auch furchtbaren Allianz zwischen Vorstellungen und Praktiken aus den Weiten von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘?
Die axiale Frage des ‚Anti-Narziss‘ ist also eine epistemologische, das heißt: eine politische. Wenn wir uns alle mehr oder weniger einig sind, dass sich die Anthropologie – obwohl der Kolonialismus eines ihrer historischen Apriori darstellt – heute auf die Schließung ihres karmischen Zyklus zubewegt, müssen wir auch akzeptieren, dass es an der Zeit ist, den Rekonstruktionsprozess der Disziplin zu radikalisieren und ihn bis zu seinem Ende zu führen. Die Anthropologie ist dazu bereit, sich nun vollständig ihrer wahrhaften Mission zu widmen: Theorie und Praxis der permanenten Dekolonialisierung des Denkens zu sein.“2
Und das bedeutet eben konkret, im Anderen nicht immer nur die Maske zu entdecken, hinter der wir selbst stecken, sondern in ihr/ihm ein Bild zu sehen, in dem wir uns nicht erkennen. Somit bietet „jede Erfahrung einer anderen Kultur die Gelegenheit zum Experiment mit unserer eigenen Kultur“.3
Neben zahlreichen weiteren Implikationen spielt für den brasilianischen Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro in Bezug auf sein spezielles Forschungsgebiet eine Veränderung der anthropologischen Vorgehensweise im Zentrum, für die er gemeinsam mit anderen den Begriff des „amerindianischen Perspektivismus“ vorschlug.4 Aus der Perspektive der amerikanischen Indigenen würden sich auch die Perspektive unseres eigenen Denkens verändern können.
Für unseren Zusammenhang verbirgt sich in diesem Perspektivwechsel die antinarzisstische Kritik eines der zentralen christlichen Sakramente und trifft dabei ausgerechnet auf eines der übelsten Vorurteile, das diesem Sakrament je entgegengebracht wurde.
Doch zunächst bereiten wir diese Kritik vor und folgen den Lektüreschneisen des Philosophen und Biologen Cord Riechelmann5 durch das Buch Viveiros de Castros in zwei Schritten. Der erste betrifft den Körper.
Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss erzählte zweimal in seinen Werken eine Geschichte aus den Zeiten der Entdeckung Amerikas. Zur Zeit der Reformation also schickten die Spanier eine Untersuchungskommission auf die Antillen, die herausfinden sollte, ob die sogenannten Eingeborenen eine Seele besäßen. Unter anderem kam dabei heraus, dass die Europäer nie daran gezweifelt hatten, dass die Indigenen einen Körper besaßen, denn Tiere hatten ja auch einen, wogegen die Indios nie einen Zweifel daran hatten, dass die Europäer eine Seele besaßen, denn die Tiere und die Totengeister bzw. die Götter hatten ja auch eine.6
Lévi-Strauss schlussfolgerte daraus unter anderem, dass „bei gleicher Unkenntnis auf beiden Seiten, das letztere Verhalten gewiss menschwürdiger“ war.7
Viveiros de Castro wechselt die Perspektive, wenn er zu denken vorschlägt, dass „in diesen indigenen Welten die Beziehung zwischen diesen beiden Anderen der Menschlichkeit, zwischen Animalität und Göttlichkeit“ eben „eine völlig andere wäre als die, die wir vom Christentum geerbt haben“.8
„Der große Unterschied betrifft den Körper.“9 In der europäischen Anthropologie gehört der Körper „der Dimension des Angeborenen oder des Spontanen (der ‚Natur‘) an, jeder Dimension, die das gegenerfundene Resultat einer ‚konventionalisierenden‘ Operation der Symbolisierung ist, während andererseits die Seele der konstruierten Dimension angehört, insofern sie die Frucht einer ‚differenzierenden‘ Symbolisierung ist, die ‚die konventionelle Welt spezifiziert und konkretisiert, indem sie radikale Unterscheidungen vornimmt und ihre Individualitäten umreißt‘. In den indigenen Welten hingegen wird die Seele ‚als eine Manifestation der allen Dingen implizierten konventionellen Ordnung erfahren‘, sie ‚fasst die Arten und Weisen zusammen, auf die ihr Besitzer anderen [Dingen] ähnlich ist, und zwar noch vor den Arten und Weisen, auf die er sich von ihnen unterscheidet‘. Der Körper hingegen gehört zur Sphäre dessen, was in der Verantwortung der Akteure liegt; er ist eine der fundamentalen Figuren, die es gegen den angeborenen und universellen Grund einer ‚immanenten Menschlichkeit‘ zu konstruieren gilt. Kurzum kann man sagen, dass die europäische Praxis im ‚Seelenmachen‘ (und Differenzieren von Kulturen) ausgehend von einem gegebenen körperlich-materiellen Grund (der Natur) besteht; die indigene Praxis hingegen besteht im „Körpermachen“ (und Differenzieren von Spezies) ausgehend von einem ‚von jeher‘ gegebenen sozio-spirituellen Kontinuum“.10
„Und genau an diesem Punkt“, so beschreibt Cord Riechelmann unseren zweiten vorbereitenden Schritt, „kommt die Praxis der Kannibalen ins Spiel: […] Es handelte sich im Kannibalismus im ein elaboriertes System aus Gefangennahme, Hinrichtung und zeremoniellem Verschlingen von Feinden. Die Kriegsgefangenen durften dabei bis zu ihrem Tod noch lange auf dem Dorfplatz mit ihren Feinden zusammenleben. Sie wurden gut behandelt, es war üblich, ihnen Frauen aus der Gruppe als Gattinnen zu geben. Die Gefangenen wurden also in Schwäger transformiert – Feind und Schwager wird in allen Tupi11 -Sprachen durch dasselbe Wort bezeichnet.
Für Viveiros zeigte sich im Kannibalismus und in der damit verbundenen indigenen Art der Kriegsführung ‚eine paradoxale Bewegung der wechselseitigen Selbstbestimmung vom Standpunkt des Feindes‘. Der Standpunkt des Feindes wurde durch die Einverleibung eine vitale Bedingung der Selbstbeschreibung.
Und aus dieser Bewegung entwickelte Viveiros die Idee, dass das Innen des gesellschaftlichen Körpers vollständig durch die Vereinnahmung symbolischer Ressourcen von außerhalb – Namen und Seelen, Personen und Trophäen, Wörter und Erinnerungen – konstituiert wird.12
Mit den Worten Viveiro de Castros: „Indem er als Prinzip die Einverleibung feindlicher Attribute wählt, gelangt der armerindianische Sozius dahin, sich eben nach diesen Attributen zu ‚definieren‘, zu bestimmen.13
Im Sinne eines „Experimentierens mit der eigenen Kultur“ setzt hier die antinarzisstische Kritik eines der zentralen christlichen Sakramente, nämlich des Abendmahles, ein und trifft dabei ausgerechnet auf eines der übelsten Vorurteile, das diesem Sakrament je entgegengebracht wurde, den Kannibalismus.
Wird die Praxis des hoc est corpus meum und des hoc est sanguis meum auf der Folie der amerindianischen Praxis des Kannibalismus gelesen, so müssen der corpus meum und das saguis meum als symbolische Ressourcen eines Außerhalb verstanden bzw. gegessen und getrunken werden. Die antinarzisstische Pointe dieses Gedankens besteht in einer doppelten Herausforderung, im corpus meum und im sanguis meum nicht nur nicht uns selbst, sondern einen Anderen, einen Fremden zu erkennen und uns über diese selbst zu bestimmen.
Die aktuelle politische Brisanz dieser Perspektive wir deutlich, wenn man Viveiro de Castros Konsequenzen dieses Gedankens sieht: „[D]ie primitive Gesellschaft als eine Gesellschaft ohne Innen, die allein außerhalb ihrer selbst ist. Ihre Immanenz koinzidiert mit ihrer Transzendenz.“14
Damit betrifft eine antinarzisstische Kritik des Abendmahles nicht nur die persönliche Praxis der Christinnen und Christen, sondern auch die daraus folgenden, bzw. unmittelbar damit verbundenen Gemeinschaften, die Kirchen.
„Für Viveiros liegt in diesem Verhältnis der Indigenen Südamerikas zum Anderen ein nichttotales Verständnis ihrer Gesellschaften begründet. Gegen Émile Durkheims Vorstellung, dass der Glaube des Stammes zugleich der Glaube an den Stamm, das Sein und die Erhaltung des Seins des Stammes in seiner ausschließenden Totalität sei, erkennt Viveiros im Selbstverständnis der ‚Wilden‘ Südamerikas eine grundlegende Unzulänglichkeit in ihrem Selbstverständnis als Stamm.
Zu bezweifeln, dass die Wilden dieses Götzenbild der Totalität ihres Stammes verehrten, bedeutet zugleich, die Vorstellung von der Gesellschaft als einer reflexiven und identitären Totalität, die sich durch die grundlegende Geste des Ausschlusses eines Äußeren begründe, in Zweifel zu ziehen, schreibt Viveiros.“15
Cord Riechelmann resümiert seine Lektüre des Buches „Kannibalische Metaphysiken“ von Eduardo Viveiros de Castro wie folgt:
„Aus der Konzeption der indigenen Gesellschaften als vor allem unvollständige und damit auch unabgeschlossenen Gebilde folgt aber wesentlich mehr als nur ein an den Rändern durchlässiges Modell von Stamm oder Gesellschaft. Ihre Gesellschaftsform kannte keine Totalität, sie setzte keine identitäre Monade oder Blase voraus, die obsessiv ihre Grenzen festlegt und das Äußere nur als Spiegel für eine Bewegung mit sich selbst benutzt.“16
Das europäische Christentum zog mit der Geste der Unterwerfung in die Welt. Vielleicht liegen dort nun die Schlüssel zu seinem heutigen Überleben, zu seinem minderheitlich-Werden.