Dante hatte sich entschlossen, seine Commedia divina im volgare zu verfassen. Er erfand ein sermo humilis, der verschiedene Sprachebenen nebeneinander stehen ließ1. Für aufmerksame Klassiker unter seinen Lesern, bot dies durchaus Anlass zu Kritik2. In seiner neuen Sprache begann Dante nicht nur seinen literarischen Ausdruck zu verändern, er las die Wirklichkeit neu:
Als Dante das Paradies durchwandert, gelangt er schließlich in den zehnten Himmel, das Empyreum, das ist „der unräumliche Raum Gottes und der Seligen“. Man hat die überwältigende Darstellung des Gustave Doré vor Augen, zumindest erinnert man sich sofort, wenn man sie wieder sieht:
Pura luce:
Luce intellectual, piena d’amore;
Amor di vero ben, oien di letizia;
Letizia che trascende ogne dolzore. 3
Dante trinkt aus dem Lichtfluss, einem „leuchtende[n] Fluten, goldrot glänzend“ und betrachtet die himmlische Architektur einer Rosenblüte. Bernhard von Clairvaux erläutert ihm die himmlische Sitzordnung. Auf den Blütenblättern der Rose sind die Sitze der Seligen angeordnet „je nach der Seite, von der ihr Glaubensblick auf Christus fiel“. Auf der einen Seite die, „die an den kommenden Christus glaubten“, auf der anderen Seite die, die auf den Christus blickten, der gekommen ist“.4 Dort erblickt Dante auch Augustinus. Und Bernhard erläutert ihm die „hohe göttliche Voraussicht“, über die er, Dante, „im stillen zweifelt“5: „In den frühesten Zeiten genügte, um das Heil zu erlangen, die Unschuld zusammen mit dem Glauben der Eltern; später, als die ersten Zeiten vollendet waren mussten männliche Wesen beschnitten werden, damit ihr unschuldiges Gefieder Kraft gewann; aber seit die Zeit der Gnade kam, blieben Kinder ohne die vollkommene Taufe Christi auf dort unten beschränkt.“6
Diese augustinische Frage der Gnadenwahl ist für Dante nicht nur eine theoretische. Als Höllenfahrer nach Aeneas und Paulus, wird Dante vom Römischen Dichter Vergil geführt. Allein diese Konstruktion birgt einen auf der Wanderung mehrfach diskutierten Konflikt mit den theologischen Theorien des Augustinus. Denn Vergil war nicht getauft, konnte nicht getauft sein. So musste er in der Hölle zurückbleiben.7 Das schmerzte Dante tief.
Dante kannte vor allem die Confessiones von Augustinus – das der Commedia zugrunde liegende alte Motiv des Aufstiegs zum Guten hat einen Echoraum in der „Unruhe des Herzens“, die erst in Gott zur Ruhe kommt – aber auch De Civitate Dei und De Trinitate. Er übernahm von Augustinus „die Lehre von Gott als dem Guten in allem Guten (bonum omnis boni), die Analyse der drei Funktionen des menschlichen Geistes (mens) als Erinnern, Einsehen und Lieben und er entwickelte Augustins Metaphysik der Liebe in seinem Sinne weiter“; Dante hat Augustinus aber auch in mehr als einer Hinsicht widersprochen.8
Dante empfindet Vergils Verbleib in der Hölle nicht nur als unrechtmäßig. Er erscheint Dante als „Unbegreiflichkeit des göttlichen Beschlusses“ und somit als dessen Mangel. „Der humane und weise Vergil bleibt für immer vom Paradies ausgeschlossen, dies erzeugt einen Schmerz, den Dante dem Leser [seiner Commedia] bis zum Ende nicht abnimmt. Er akzeptiert den Mangel an Rationalität und Gerechtigkeit der Erbsünden- und Gnadentheorie, lässt ihn aber bis zum Ende als Kontrast erscheinen zur Überzeugung von der Weisheit als der Tochter Gottes, die weiß, dass Gott ein Gott der vernünftigen und guten Ordnung ist.“9
Dante belässt es nicht nur beim Kontrast. Er arbeitet ihn heraus und unterwandert ihn erfinderisch. An Aristoteles anschließend sieht er den Menschen als auf der Suche nach Glückseligkeit und konkretisiert diese Suche im Sinne einer „von unserem Geist immer gesuchte[n] Wahrheit“ als „die Totalität der Ideen im Geist Gottes“. Diese Sehnsucht nach der Wahrheit „modifiziert sich nach dem Status dessen, der diese Sehnsucht hat und ihr folgt. Im irdischen Leben ist sie unvollkommen. Gesättigt wird der Geist nur, wenn die Gnade hinzukommt. Gnade heißt hier: Neidlose Mitteilung, Menschenfreundlichkeit Gottes, nicht willkürliche Auswahl einzelner aus der Sündenmasse. Die volle Glückseligkeit ist nur im Himmel zu erreichen, für Getaufte und Erwählte, aber die natürliche Weisheit ist wirkliche Seligkeit und Gottesnähe. Daher kennt Dante ein zweifaches Glück. Daher dichtet er in der Commedia ein irdisches und ein himmlisches Paradies“.10
Ein weiterer Kontrast zwischen Dante und Augustin öffnet das Feld der Gnadenwahl ins Politische. Wie an anderen Stellen nimmt sich Dante die Freiheit, historische Konstellationen sub specie paradisi aufzuschließen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn er Thomas von Aquin seinen historischen Gegner Siger von Brabant oder auch Bonaventura seinen Gegner Joachim von Fiore ausdrücklich wert schätzen lässt. Von der zentralen Bedeutung des Römischen Dichters Vergil in unserem Zusammenhang war schon die Rede.
Ein anderer Römer ist Cato. Der römische Politiker Cato hatte sich nach dem Sieg Caesars und der Abschaffung der republikanischen Freiheiten das Leben genommen. „Augustin hat den Suizid streng verworfen; auch Dante sah ihn als Verstoß gegen die Natur an, aber hier stellt er diese Bewertung zurück und macht Cato zum Aufseher über das Purgatorio. Er preist ihn: Cato hat den Wert der Freiheit vorgelebt, und als die verloren ging, verweigerte er das Weiterleben.“ Dante sieht in Cato‘s Selbsttötung einen politischen Protest gegen die Tyrannei. Er ist kein Christ, aber als Heide ist er „im Besitz der natürlichen Tugenden, deren Wert im Purgatorio anerkannt und um die Ethik der Bergpredigt erweitert ist.“11 Doch die Wertschätzung Cato‘s hat noch einen weiteren Aspekt. Dante plädiert gegen Augustin für die Anerkennung der Verdienste des Römischen Reiches im Sinne einer Rechts- und Friedensmission. Augustin hatte dem Römischen Reich nicht einmal den Status einer civitas zugestanden, „da es auf Unrecht beruhe, nämlich auf der Verehrung falscher Götter. Augustin sah in den heidnischen Göttern nicht Produkte der Volksphantasie, sondern real existierende Dämonen“. 12 Für Augustin war das Römische Reich, wie alle Reiche dieser Welt nichts „als große Räuberbanden, magna latrocinia“13. Dante hingegen schätzt natürliche Verdienste nicht nur wert sondern begründet sie durch den natürlichen Menschen, nicht etwa als ein durch die Kirche oder den Papst verliehenes Recht. Dante wollte die Rolle des Papstes auf eine „geistliche Vaterrolle“ 14 beschränkt sehen. Er wollte eine arme Kirche.
In der Welt zwischen 1250 und 1350 hatte der „wachsende Reichtum der mittel- und norditalienischen, der französischen und rheinischen Städte eine wachsende Armut zur Folge. Es entstand eine neue Sensibilität für Not, Leiden, Armut. Franz von Assisi hat die Empfindlichkeit für die Not der Armen und Kranken gefördert: Man erinnerte sich, dass Jesus arm gewesen war. Das apostolische Leben war ein armes Leben; der Jesus des Neuen Testaments hatte klar gesagt, der Menschensohn habe nichts, wohin er sein Haupt legen kann. Seine Jünger sollten, wenn sie unterwegs seien, kein Geld dabei haben. Abaelard hatte in seiner Theològìa die Quellen antik-philosophischer Armutsideen ausgegraben und mit denen des Neuen Testaments synthetisiert. Weder die Idee der Armut noch die Kritik an Hybris oder superbia ist erst auf christlichem Boden entstanden, und darauf insistierte Abaelard. In der Macht- und Geldkirche des 13. Und 14. Jahrhunderts löste das zugleich antik-philosophische wie neutestamentliche Konzept freiwillig besitzlosen Lebens gewaltige Spannungen aus. Das Verlangen nach einer ecclesia spiritualis durchzieht die Commedia“…15
Auch für diesen Gedanken sind Stichworte wie Intellekt (nous) und Glückseligkeit (eudaimonia) von ausschlaggebender Bedeutung. Sie zeugen von einer Rezeption des Aristoteles um 1200 die Augustinus quellenmäßig (und sprachlich) nicht möglich war und die auf arabische Quellen, Wissenschaftler und Kommentatoren wie Avicenna und Averroes zurückgingen. Diese neu zugänglichen Quellentexte und Kommentare waren nicht unumstritten und entfalteten eine sehr lebendige philosophische Debatte mit weitreichenden theologischen Folgen.16
Diese Debatte jenseits historischer Verurteilungen in ihrer Vielfalt erneut aufgeschlossen zu bedenken und nach zu verfolgen ist eine Herausforderung für die heutige Lektüre Augustins und seiner Rezeption durch die Reformatoren, die ihrerseits unklar bis auf uns gegenwärtig ist.
Schließlich werden alle Beteiligten einer solchen Arbeit am „evangelischen Plasma“ mit Dantes Worten sagen müssen: „Aber dazu reichten meine Flügel nicht, doch mein Geist war erschüttert von einem Lichtblitz, in dem er sein Glück fand.“17
Daraus kann nur eines folgen: Or movi 18– Los jetzt!