Folgen wir dem Prinzip der Spiegelungen, so kommt zum Aspekt des Klangraumes des entsprechenden Katechismus-Liedes zu seinem Paragraphen im Kleinen Katechismus noch der Aspekt eines Wechselverhältnisses zu dem gespiegelten Paragraphen hinzu und öffnet sie gegenseitig.
Im zweiten Gang finden sich dann das Glaubenslied und das Abendmahl einander gegenüber vor. Diese Spiegelung eröffnet überraschende Reflexionen. Zunächst gilt es festzustellen, dass Martin Luther das Glaubenslied „Wir glauben all an einen Gott“ direkt für den liturgischen Gebrauch geschrieben hat. Für seinen drei strophigen Text hat er auf die ältere Melodie eines lateinischen Credoliedes zurückgegriffen. Diese Melodie ist von hoher ästhetischer Qualität und nicht leicht zu singen, so dass sie in der realen Praxis häufig vereinfacht wurde.
Luthers Text widmet jede Strophe einer der drei göttlichen Personen, wobei er auf die Formulierungen der altkirchlichen Überlieferungen (Nizänum, Apostolikum) zurückgriff, diese jedoch behutsam aber entscheidend ergänzte. So fügte er z.B. der dem Gottvater gewidmeten ersten Strophe „genuin lutherische Aussagen über die Vatergüte und Fürsorge Gottes“ hinzu, betonte in der zweiten Strophe den Aspekt des Glaubens in Bezug auf das Heilshandeln Christi und übersetzt in der dritten Strophe catholica mit „ganz Christenheit auf Erden“.[1]
Diese Technik der behutsamen Veränderung wendete Luther immer wieder bei der Rezeption altkirchlicher Traditionen an, so z.B. bei der Bearbeitung eines Fronleichnamliedes zu einem seiner Abendmahlslieder „Gott sei gelobet und gebenedeiet“.[2] Worin besteht das Besondere dieses lutherischen Vorgehens? Es gibt Acht auf das „Verbindende“ (Michel Serres) gegenüber der Tradition und ist gleichzeitig Ausdruck eines praktischen minderheitlich-werdens in ihrer Aneignung.
Inhaltlich folgen die Veränderungen der reformatorischen Betonung der Gnade. Im Lichte der Gnade kann man nun auch der historischen Fragilität dogmatischer Texte wie dem Credo auf die Spur kommen. Sie stellen sich nur bedingt als letztgültigen Texte heraus, sondern eher als „irdene Gefäße“, in die Gnade eben erst gegeben werden muss.
Es ist eine Logik der Gnade, wie sie in Luthers Arbeit am Credo zur Praxis kommt. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beschreibt eine solche Logik folgendermaßen: „Die Gnade, das ist die Gunst, das heißt zugleich die Erwählung, die begünstigt und das Vergnügen oder die Freude, die so gegeben ist. Die Gnade ist gratis, ein Geschenk (gratia übersetzt charis, zeigt Beneviste, und hat gratis und gratuitas ergeben). Es ist die Gratuität des Vergnügens, das um seiner selbst willen gegeben wurde.“[3]
Eine Pointe dieser Logik ist die, dass im Unterschied zur einer Logik des Mangels, des Neides oder des Verzichts die Logik der Gnade „vom Genießen herrührt“ als einem „Begehren und Vergnügen als Empfänglichkeit für die Gabe.“ Diese Empfänglichkeit ist ihrerseits eine Hingabe oder Aufgabe und muss der Gabe selbst „an Gratuität gleichkommen“.[4]
In derartiger Praxis einer wechselseitigen Gratuität öffnet sich der Horizont dafür, wie das Abendmahl direkt als eine Praxis der Gnade verstanden werden kann. Luther hatte in seinem Liedtext zu Beginn das lateinische credo von der ersten Person Singular in die erste Person Plural erweitert. In den Zusammenhang des Abendmahles gespiegelt konkretisiert sich diese Erweiterung als „singulär plural sein“ wie Jean-Luc Nancy es beschreibt.
Zur Erinnerung[5]:
„Être singulier pluriel: diese drei hintereinander gereihten Worte ohne bestimmte Syntax – être ist Verb oder Hauptwort, singulier und pluriel sind Hauptworte oder Adjektive, alles lässt sich [im Französischen] kombinieren – markieren zugleich eine absolute Äquivalenz und ihre offene Artikulation, die sich unmöglich zu einer Identität verschließen lässt. Das Sein ist Singular und Plural (bzw. Singular und plural) zugleich, ununterschiedener- und unterschiedenermaßen. Es ist auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär.“[6]
Was diese Denkfigur konkret für einen Begriff von Gemeinschaft im Sinne einer Abendmahls-Praxis der Gratuität meint, ist in den konkreten Gemeinschaften bisher kaum sichtbar. Theologisch provokant und politisch hoch aktuell ist allerdings die von Nancy markierte Unmmöglichkeit des Verschließens in einer Identität. Wenn er an anderer Stelle von Gemeinschaft als Mit-sein schreibt[7] kommt der Bindestrich als ein „Indiz des Abstandes im Herzen der Nähe und der Intimität“[8] ins Spiel.
Sollte Gemeinschaft in diesem Zusammenhang eher etwas mit Aufmerksamkeit für Abstand zu tun haben als mit unbekümmerter Nähe?