Bei seinen Untersuchungen der Quellentexte des alten Griechenland beobachtete Friedrich Nietzsche, dass Literatur zunächst gar nichts mit „litterae oder Lettern“ zu tun hatte. Zumindest bis Euripides, von dem überliefert ist, dass er zu den wenigen Athenern zählte, die eine Bibliothek besaßen, waren nämlich griechische Denker keine Schreiber. Denn ihre Verse fanden als „rhapsodischer Vortrag, lyrischer Tanzgesang oder dramatische Inszenierung grundsätzlich mündlich“ statt.
In der Folge bestand auch das Publikum nicht aus Leserinnen und Lesern, sondern aus Hörerinnen und Hörern. Und selbst das Lesen war ein lautes Lesen, das „den ganzen Körper und eine laute Stimme brauchte. Die fälschlich so genannte Literatur der Griechen war also eine wesentlich mündliche Körpertechnik“1.
Erst mit Sokrates und Euripides werden „all diese Sprechhandlungen in ein sogenanntes Denken überführt“, das „Nietzsche jedoch medienhistorisch als Schreiben entziffert“2. Von da an beruhen auch Rezeption und Interpretation nicht mehr auf einem Erlebnis, einer Erfahrung, sondern auf Lektüre.3
Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen für das Sprechen, die Sprache und das Denken. Sie schlägt sich konsequenterweise in Nietzsches eigenen Schriften nieder. Der Theaterregisseur Einar Schleef war ein leidenschaftlicher Leser und auch Sprecher von Nietzsches Texten. Seine Erfahrungen insbesondere mit „Zarathustra“ (1883/84) und „Ecce homo“ (1888) haben homiletische Implikationen, ja sie rütteln an der landläufigen homiletischen Praxis.
Obgleich beide Schriften jeweils aus vier Teilen bestünden, ließe sich jedoch keine durchgängige Art der Konstruktion erkennen, dafür aber der Einsatz von zwei Sprachen. Einer „Sprech-Sprache“ und einer „Schrift-Sprache“. Die Sprech-Sprache sei eine prophetische Sprache, die Schrift-Sprache beschreibende oder erzählende Prosa.
Der Schlüssel zur Unterscheidung beider Sprachen ist für Einar Schleef das laute Lesen:
„Beim Lautlesen fallen Abweichungen und Vernachlässigung in den 2 verwendeten Sprachen deutlich auf, da sie sich einer schnellen Artikulation, somit einer schnellen Interpretation verwehren, den Lese- und Verständnisfluss dämmen und verlangsamen. Nur das Lautlesen eröffnet den Zugang zu beiden Sprachen, da für Nietzsche die laut gesprochene Formulierung und Verfolgbarkeit eines geordneten Denkvorgangs eng beieinanderliegen, seine Vorbilder sind nicht nach der Antike ausgerichtete theoretische Schrift-Texte, sondern der mündliche akademische Vortrag, die protestantische Predigt, wie sehr er sich auf dagegen wehrt, der pastorale Ton ist die Rettung der vertracktesten Argumente, erst durch dieses Pathos, den erhobenen Zeigefinger, nicht lehrerhaft dümmlich, sondern alttestamentarisch, wird jede Fehlinterpretation abgeriegelt, werden widersinnigste Formulierungen geradegerückt.“4
Der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann kommentiert Einar Schleef: „Es ist deutlich: hier ist die Sprache radikal als das Medium der Anrede, der Überwältigung, der überfließenden Geste des Berührens gefasst, als An-Sprache, Zu-Sprache – und zwar durchaus im Sinne seine Vorbilds Nietzsche zur Rhetorik der alten Griechen bzw. im Sinne von Nietzsches eigener Sprachauffassung. Ihr zufolge ist ‚die Sprache ursprünglich nicht gemacht, die Wahrheit zu sagen‘, sie ‚will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung und Annahme auf andere übertragen‘“.5
Zur Schrift-Sprache wird eine solche Sprech-Sprache durch „Harmonisierung“, einer „Streckung“ als „Erziehungsprozess mit bösartigen Folgen“. „Sprachstreckung heißt hier das Einbringen von Füllworten, das künstliche Aufbereiten der Verstehbarkeit des Textes, die Herausarbeitung seiner gedanklichen Klarheit, die sich schließlich als Inhaltsleere herausstellt.“6
Sprachstreckung ordnet die Sprech-Sprache dem „Diktat einer urban herrschenden Schrift-Sprache“ unter. In Nietzsches Texten könne man den „Widerstand“ gegen diese Schrift-Sprache genau beobachten: „Selbst beim Lautlesen können häufig Inhaltssprünge nicht mitvollzogen werden, so dass man sich mit künstlichen Pausen behelfen muss, bis die jeweilige Wendung inhaltlich durchdacht und von den Sprechwerkzeugen formuliert werden kann. Feststeht, dass sich Inhalt nur über die laute Formulierung, sowohl für den Sprechenden als auch für den Zuhörer, aufschließt.“7
Was für die Sprechenden und für die Hörenden gilt, betrifft auch den Autor selbst, denn Schleef fährt fort: „[D]er eigene Text [wird] auch für den Autor [erst] verstehbar, indem er hörbar wird“, als würde „das laute Sprechen“ dem Autor, der Autorin „den eigentlichen Gedanken, der ihnen beim Schreiben nicht gegenwärtig war, zurückführen“ und so erst „handhabbar“, als „Wunsch nach dem Echo der eigenen Gedanken in der anderen Stimme […] erst nachträglich verständlich“.8
Nietzsche rückte die Sprache, das laute Sprechen, und in der Folge Rhetorik und Homiletik, wieder in die Nähe der Tragödie, jenem „Theater der Grausamkeit“ (Antonin Artaud), das aus der Notwendigkeit kommt, erfahrenen Schmerz umzuwandeln, um nicht an ihm zugrunde zu gehen.
Konsequenter Weise müsste auch das Ziel des Sprechens, der Rhetorik oder Homiletik, etwas anderes sein als Überzeugung persuasio. Das klingt zu sehr nach Belehrung, vermeintlicher Wahrheit, nach Sprachstreckung und Abschließen.
Die Erkenntnis der Tragödie ist denn auch weniger Belehrung oder Überzeugung, sondern anagnorisis, Wiedererkennung. Sie ist überraschender Weise in der aristotelischen Poetik eine „eigentümlich vernachlässigte Kategorie“9.
Aristoteles bezeichnet mit anagnorisis einen „Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis mit der Folge, dass Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind“.10 Dabei lassen sich mehrere Arten der Wiedererkennung unterscheiden, etwa ob diese an einen Gegenstand oder eine Person gebunden ist. Sie ist allerdings ein Erkennen, das „nicht allein ein neues Wissen, sondern zugleich eine affektive Reaktion beim Zuschauer“ auslöst.11 Hier spielt das „Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine ‚Zeugenschaft‘, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet“.12
Als Beispiel bringt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehman folgende Stelle aus Sophokles‘ „König Ödipus“: „Ja, Du bist es Orest! Gott, ich selbst bin es, Ödipus, der den König tötete!“13 Diese Stelle erinnert sehr an den Erkenntnismodus von Stellen aus den Evangelien, wo z.B. Petrus sagt: Du bist Christus!14
Anagnorisis bedeutet also: „Ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert. Mit einem Mal ist nicht nur eine Identifizierung vorgenommen, sondern die gesamte dramatische Situation offenbart sich neu. Das vorher nur bewusstlos Registrierte, nicht im Zusammenhang erkannte erweist sich als Zusammenhang, als bislang verborgene, nun offenbar gewordene Logik der Geschehnisse, zeigt sich dadurch erst als Gestalt, als Szene. Er ist als ob bei der Ausarbeitung dieser Kategorie der theaterferne Logiker Aristoteles bauchrednerisch doch aus einer Erfahrung des Theaters heraus gesprochen hätte. Oder diese aus ihm.“15
Nun arbeitet die anagnorisis auf dem Theater in sehr unterschiedlicher Weise. Die Wiedererkennung kann schon zu einer „Wiederverkennung“ werden: „Zwei Fremde stehen einander gegenüber und reden aneinander vorbei“.16 Über der Wiedersehensfreude kann die Handlung regelrecht ins Stocken geraten und sich zu einem „Konflikt zwischen Handeln und Nichthandeln“17 auswachsen. Oder einer der beiden Personen „gibt sich nicht zu erkennen, weil er sich nicht zu erkennen geben will“18, er traut der sich dadurch eröffnenden Handlungsmöglichkeit nicht. In anderem Zusammenhang ist die anagnorisis ein Prozess, der sich aus verschiedenen Erkenntnismomenten zusammensetzt und einer „realen Vergegenwärtigung“19 gleichkommt.
In jedem Falle meint anagnorisis nicht ein „ein für allemal erworbenes Wissen“. Sie weist auf „einen Moment“ der Erkenntnis hin, „eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht“. Der nicht identifizierte und Pseudo-Longinos genannte Autor, dessen Schrift „Über die Erhabenheit“ im Allgemeinen auf die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts datiert wird, macht auf diesen „performativen Kern“ der antiken Rhetorik aufmerksam. Der Redner überzeuge seine Zuhörer weniger, als dass er sie überwältige, sie wie ein Blitz träfe und etwas mit ihnen tue.20
Das Lautlesen zeigt die Sprechsprache in der Schriftsprache an. Es öffnet Texte für ihre impliziten Erfahrungen, ihre fortwährenden Möglichkeitsräume. Es geht um das „Spiel der Plötzlichkeit von Einsichten, die im nächsten Moment schon wieder dahin sein können“21, die Hörenden aber verändert zurücklassen.