Mit dem Titel „Laudato si‘“ erschien im Mai 2015 die zweite Enzyklika von Papst Franziskus. Mit ihr knüpft er ausdrücklich an die Enzyklika „Pacem in terris“ von Johannes XXIII. aus dem Jahr 1963 an, in der dieser sich erstmals an „alle Menschen guten Willens“ wandte. In „Laudato si‘“ lädt Franziskus „dringlich zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten. Wir brauchen ein Gespräch, das uns alle zusammenführt, denn die Herausforderung der Umweltsituation, die wir erleben, und ihre menschlichen Wurzeln interessieren und betreffen uns alle. […] Wir brauchen eine neue universale Solidarität.“[1]

Im zeitlichen Bezug zur UN-Klimakonferenz 2015 in Paris stellt Franziskus in sechs Kapiteln seine „Sorge für das gemeinsame Haus“ zur Diskussion. Im ersten Kapitel analysiert er die Situation von Umweltverschmutzung und Klimawandel und stellt ihre sozialen Folgen heraus. Darauf aufbauend entwickelt er ein „Evangelium von der Schöpfung“ und skizziert eine universale Ökologie, die der kulturellen Vielfalt der unterschiedlichen Völker unter Einbeziehung aller Wissenschaften und Traditionen Rechnung tragen müsse. Im dritte Kapitel nimmt er die menschliche Wurzel der ökologischen Krise genauer in den Blick und entwirft dann eine ganzheitliche Ökologie, zu deren Umsetzung das fünfte Kapitel konkrete Handlungsorientierungen bietet. Im sechsten Kapitel ruft Franziskus zu einer ökologischen Umkehr und zu einem neuen Lebensstil auf. Der Veröffentlichung der Enzyklika folgte eine Vielzahl von Reaktionen aus unterschiedlichsten Perspektiven und Initiativen, die bis heute andauern.[2]

Der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme hat In seinen Untersuchungen zur Geschichte der Rationalität seit langem auf deren ausgegrenzte, dunkle, fremde und andere Zonen hingewiesen und sie an verschiedenen Phänomenen aus Kunst und Kultur beschrieben.[3] Auf dieser Grundlage lässt sich auch seine „andere Theorie der Moderne“ aus dem Blickwinkel des Fetischismus lesen.[4] Das Verhältnis zwischen Rationalität (Vernunft) und ihrem Anderen (Natur) beschreibt Böhme jedoch nicht als eine Trennung, sondern „ein poetisches Begegnen“ [5]. Die „Formkraft der Natur“[6], ihre „Technik ohne Intention“[7] bleibt der Naturwissenschaft fremd, doch begegnet sie dem Menschen als Schönheit und findet ihren Niederschlag in der Kunst.

In seiner Lektüre[8] von „Laudato si‘“ problematisiert Hartmut Böhme zunächst den Universalitätsanspruch der Enzyklika und ihres Autors. Zwar bemerkt er die unterschiedlichen Referenzen, zu allererst die auf Franz von Assisi und die von ihm begründete „naturtheologische und armenfürsorgliche Tradition“, dann die auf die Päpste Benedikt XVI und Johannes-Paul II und die auf eine „breite Repräsentanz südamerikanischer Quellen“. Man spüre die Vertrautheit mit dieser der Theologie der Befreiung nahen Tradition. „Hier auch finden wir das Gebot der Bewahrung der Schöpfung verbunden mit der unmittelbar aus dem Wirken Christi abgeleiteten Zuwendung zu den Armen. Dies schließt den Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Reichen und Mächtigen ein. Auf diese Linie bringt Franziskus auch Romano Guardini, der in konservativen Kreisen hohes Ansehen genießt. Guardini knüpft an die scholastische, aber auch säkulare Philosophie an, aber auch an die Kultur- und Kapitalismuskritik des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Diese Referenzen dienen der innerkirchlichen Integration. Nach Außen richtet sich diese Integration trotz der von Franziskus erhobenen Anspruchs, sich an „an alle Menschen auf diesem Planeten“ zu richten, jedoch nicht. „Hier wären gehaltvolle Bezugnahmen etwa auf den Buddhismus (sein bemerkenswertes Desinteresse an Schöpfungsfragen, seine Lehre vom Nichts und von der Zerstörung als Umkehrpunkt neuer Welten) oder auf den Islam (seine starken Anleihen bei der jüdischen Schöpfungstheologie und die dem Menschen übertragene Sorge für die Pflege der Natur) angeraten gewesen. Für den Interreligiösen Diskurs wären auch solche nichtabendländischen Vorstellungen wichtig, die eine Trennung von Natur und Kultur nicht kennen oder die Umweltkrise auf Krisen des Ichs, letztlich also auf soziale Figurationen zurückführen (Zen-Buddhismus, Taoismus). Unverzichtbar für die Integration von nichtreligiösen Natur-, Wissens- und Ethikkonzepten ist der Dialog mit der Philosophie und Wissenschaft seit der Antike sowie mit NGO-Organisationen, welche neben engagierten Naturwissenschaftlern und Umweltpolitikern die Hauptlast an dem leisten, was Franziskus die kulturelle Evolution des Planeten Erde nennt.“

In Böhmes Analyse hat diese Schieflage ihre Pointe darin, dass, wenn die „universelle Geschwisterlichkeit“, wie Franziskus sie in Bezug auf die Natur fordert, nicht auf die „kulturelle[] und religiöse[] Mannigfaltigkeit“ erweitert wird, „das ohnehin zersplitterte Christentum zu einer Sinnprovinz“ verkümmert.[9]

Für „eines der stärksten Motive der Enzyklika“ hält Hartmut Böhme „die Verbindung der weltweiten Armutsprobleme mit der ökologischen Krise“.  Die ursprüngliche Erfahrung des Menschen gegenüber den übermächtigen Naturgewalten haben sich auf eigenartige Weise dahingehend verkehrt, dass „[n]icht die einzelnen Menschen selbst, wohl aber die Machteliten, die wirtschaftlichen Dynamiken und die Güterverteilung“ zu „einer Bedrohung des Planeten“ geworden sind. Der „rücksichtslose Raubbau“ zerstört nicht nur die Erde, sondern „untergräbt“ die „Lebenschancen der kommenden Generationen“, die Armen sind ohne Wasser und Nahrung in „ihr Elend eingeschlossen“ oder zur Migration gezwungen; hauptverantwortlich dafür sind die „hochentwickelte, reichen, industriellen und postindustriellen Gesellschaften“, sie haben die „ungerechte Verteilung der Güter“, die „überdrehte Konsumkultur“, die „brutalen Systeme der Agrarindustrie“, die „Zerstörung der Biodiversität“, die „undemokratische Konzentration von technologischem Wissen“ u.v.a.m. „ideologisch erfolgreich in Fortschrittsgewinne umgekehrt“ – so referiert Böhme die Enzyklika und fasst zusammen: „Das ist Missachtung der Natur durch eine Kultur, die in der Umweltzerstörung und der Pauperisierung der Massen ihren unfreiwilligen Ausdruck findet.“ Die Antwort darauf kann nur „Naturvertrag sein, der parallel zur Universalität der Menschenrechte entworfen wird und die Naturvergessenheit aller früheren Rechtsregularien überwindet“, dies dürfe man mit den Worten von Franziskus „eine kulturelle Revolution“ nennen.[10]

Und Böhme nimmt diesen Gedanken der Enzyklika nicht nur auf, er denkt ihn weiter, spitzt ihn zu im Sinne eines „kulturelle[n] Projekt[es] der Natur“. Kultur wäre dann als „technische Kultur“ verstanden, „in deren Rahmen auch Natur zu einem Projekt wird: die Natur, in der wir leben und die wir den Nachgeborenen hinterlassen ist eine zweite oder dritte, in jedem Fall: eine anthropogene Natur. Die Natur in diesem Sinn ist eine Kulturaufgabe.“ Im Laufe der Jahrhunderte hat der Mensch sein Verhältnis zur Natur, die ihn hervorgebracht hat und umgibt, verändert und dabei seinen Einfluss und Spielraum stetig vergrößert. Entwicklungen wie Gen-Technologie und künstliche Intelligenz beispielsweise zeigen Horizonte an, die sich von den „Naturbedingungen der Erde“ lösen und damit „das Projekt der Natur“ selbst in Frage stellen. Und diese Situation stellt klar, worum es bei der „kulturelle Revolution“ geht: „Wenn es in den Wissenschaften weder eine ethische noch eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist, dass die Entwicklung sich noch länger auf die Natur bezieht, dann wird diese Natur zu einer Frage des Entwurfs, wer wir in welcher Welt sein wollen oder sollen. Diese Provokation erste erlaubt das Durchdenken der Frage, was es heißt, sich als Menschheit im Oikos der Erde einzurichten. Von diesem äußersten Punkt her ist die ‚Ökologie des Menschen‘ zu bestimmen, oder, wie Papst Franziskus sagt: die ‚Humanökologie‘“[11]

Damit wird die globale Ökologie zu einer Angelegenheit der Kultur und zwar in dem Sinne, dass Kultur als „die vom Menschen verantwortete Ökologie der Erde“ verstanden werden muss und das in der aktuellen konkreten Situation: „Erst vom möglichen Grenzwert der Verwüstung her ist denkbar, was die Erde als Heimat sein könnte“. Als solche ist sie eben keineswegs gesichert, sondern steht immer noch aus. „Zukunftsoffenheit ist ein Effekt der Kultur, welche die Macht natürlicher Determination schrumpfen und den kulturellen Gestaltungsspielraum wachsen lässt.“ Dieses Unternehmen ist eines mit offenem Ausgang, der Mensch kann dabei sich selbst zerstören, die gesamte Erde gleich mit, oder es gelingt, die Zerstörungen der Erde aufzuhalten und technisch zu reparieren: „geo engineering wird zu Aufgabe des Menschseins.“  In dieser Aufgabe liegt aber die Versuchung zur „Hybris der totalen Machbarkeit“ bzw. ein „Fortschrittsfetischismus, der längst in Destruktion umgeschlagen ist“.[12]

Genau an dieser Stelle sieht Hartmut Böhme eine neue Bedeutungsmöglichkeit für die Religionen, insbesondere eine neue Funktion für den christlichen Schöpfungsbegriff: „“Die Funktion des christlichen Schöpfungsbegriffes könnte deswegen sein, eine praktisch-ästhetische Einstellung zur Erde zu entwickeln, die auch eine ethische Dimension enthält: Demut und compassio, Schonung und Pflege (das ist im Wortsinn cultura). Von hier aus liegt der Schritt zur Fusion von Ökologie und Armen-Politik nahe. Sie schützt davor, die Lösung der ökologischen Krise nur in technischen Antworten zu suchen. Ohne praktisch-politische Gerechtigkeit gibt es auch keine Lösung der ökologischen und sozialen Desaster. Dies ist eine der stärksten Überzeugungen von Franziskus.“[13]