Es lässt sich manches zur Rechtfertigung dieser Haltung sagen, ethisch: man will dem Schicksal nicht in die Räder greifen; innere Berufung und Kraft zum Handeln schöpft man erst aus dem eingetretenen Ernstfall; man ist nicht für alles Unrecht und Leiden in der Welt verantwortlich und will sich nicht zum Weltenrichter aufwerfen; psychologisch: der Mangel an Phantasie, an Sensitivität, an innerem Auf-dem-Sprunge-sein wird ausgeglichen durch eine solide Gelassenheit, ungestörte Arbeitskraft und große Leidensfähigkeit. Christlich gesehen, können freilich alle diese Rechtfertigungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier entscheidend an der Weite des Herzens mangelt. Christus entzog sich solange dem Leiden, bis seine Stunde gekommen war: dann aber ging er ihm in Freiheit entgegen, ergriff es und überwand es. Christus – so sagt die Schrift – erfuhr alles Leiden aller Menschen an seinem Leibe als eigenes Leiden – ein unbegreiflich hoher Gedanke! –, er nahm es auf sich in Freiheit. Wir sind gewiss nicht Christus und nicht berufen, durch eigene Tat und eigenes Leiden die Welt zu erlösen, wir sollen uns nicht Unmögliches aufbürden und uns damit quälen, dass wir es nicht tragen können, wir sind nicht Herren, sondern Werkzeuge in der Hand des Herrn der Geschichte, wir können das Leiden anderer Menschen nur in ganz begrenztem Maße wirklich mitleiden. Wir sind nicht Christus, aber, wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, dass wie an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus der Angst, sondern aus der befreiende und erlösenden Liebe Christi zu allen Leidenden quillt. Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen. Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden. (Dietrich Bonhoeffer, aus: Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943: Nach zehn Jahren, in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft.) |
9. April 2020
LABORa – Andacht
LABORa
„Als man aufhörte zu übersetzen, hörte man auf zu bewahren.“
(Bruno Latour)
LABORa ist das liturgische Werkstattformat der Stiftung St. Matthäus Berlin und des Zentrums für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur.
Einmal im Quartal arbeiten Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Disziplinen direkt mit an einer provisorischen gottesdienstlichen Form. Von einem konkreten Ausstellungsprojekt in der St. Matthäuskirche ausgehend werden die althergebrachten Formen der Liturgie in ungewohnte räumliche Zusammenhänge gestellt und öffnen neue Erfahrungsmöglichkeiten.
Konzeption und Leitung:
Hannes Langbein
Dr. Dietrich Sagert