There ist nothing in heaven as the suffering of the humans lives (Patti Smith)
Glaubt man dem Bildgedächtnis der Christenheit, ist Körperwerden die Hölle. Ihre grundlegende Praxis besteht in einer verworrenen Kombination von Lust und Strafe. Sie verherrlicht dabei eine einzige körperliche Praxis, die Qual.
Wie sehr und auf welche Weisen dies geschieht und kulturprägend wirkt, lässt sich exemplarisch in Dantes „Göttlicher Komödie“ nachlesen und auf den Bildern eines Hieronymus Bosch ansehen, sobald man beide als „Dichter [bzw. Maler] der irdischen Welt“ (Erich Auerbach) betrachtet.
Zielsicher in seinem blasphemischen Furor hat der französische Theatermann Antonin Artaud den Grund für dieses Körperwerden als höllische Praxis in einer wahnhaft ausgeprägten Vorstellung des Gottesgerichtes ausgemacht. Folgerichtig trägt eine seiner letzten Schriften den Titel: „Schluss mit dem Gottesgericht“1.
Früh war Artaud – darin Aby Warburg ähnlich – zu Menschen in Weltgegenden gereist, die außerhalb des Bannstrahles dieses Gerichts lebten. Auf der Suche nach einem anderen Menschenbild machte Artaud bei mexikanischen Indianern Erfahrungen, die den Gedanken des Gottesgerichts im Körper selbst festmachten und dort zu überwinden trachteten.
In der europäischen, also christlich – mit Artaud gottesgerichtlich – geprägten Anthropologie gehört der Körper „der Dimension des Angeborenen oder des Spontanen (der ‚Natur‘) an“. Als solcher ist der Körper das Resultat einer „‘konventionalisierenden‘ Operation der Symbolisierung“.2
Das Gegenstück des Körpers ist hier die Seele. Sie gehört einer „konstruierten Dimension“ an, insofern sie „die Frucht einer ‚differenzierenden‘ Operation der Symbolisierung“ ist. Die Symbolisierungen der Seele spezifizieren und konkretisieren die konventionelle Welt der Körper, „indem sie radikale Unterscheidungen vornimmt und ihre Individualitäten umreißt“.3
Man kann diese grundlegende europäische Praxis als ein „Seelenmachen“ bezeichnen und als ein „Differenzieren von Kulturen“ beschreiben, das „von einem gegebenen körperlich-materiellen Grund (der Natur) ausgeht“.4
In großem Unterschied dazu wird in den indigenen Welten „die Seele ‚als eine Manifestation der allen Dingen implizierten konventionellen Ordnung erfahren‘. Hier ist es die Seele, die die „‚Art und Weisen‘“ zusammenfasst, „‘auf die ihr Besitzer anderen [Dingen] ähnlich ist, und zwar noch vor den Arten und Weisen, auf die er sich von ihnen unterscheidet‘“.5
In der Folge gehört der Körper „zur Sphäre dessen, was in der Verantwortung der Akteure liegt; er ist eine der fundamentalen Figuren, die es gegen den angeborenen und universellen Grund einer ‚immanenten Menschlichkeit‘ zu konstruieren gilt.“6
So kann man die grundlegende indigene Praxis als ein „Körpermachen“ bezeichnen und als ein „Differenzieren von Spezies“ beschreiben, das von „einem ‚von jeher‘ gegebenen sozio-spirituellen Kontinuum“ ausgeht.7
Derartige Erfahrungen des Körpermachens nimmt Antonin Artaud von seinem Aufenthalt bei den mexikanischen Tarahumara mit und in seiner Schrift „Schluss mit dem Gottesgericht“ auf. Artaud „beginnt damit, den krebsbefallenen Körper Amerikas zu verfluchen, den Körper des Krieges und des Geldes“8, schließlich erklärt er „den Organen den Krieg“ und fordert einen „Körper ohne Organe“, einen organlosen Körper.
Was meint Artaud mit diesem monströsen Bild des organlosen Körpers? Gilles Deleuze und Félix Guattari greifen das Bild auf: Der organlose Körper ist „keineswegs das Gegenteil der Organe“, sie „sind nicht seine Feinde“. „Der Feind ist der Organismus. Der organlose Körper widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt.“ Der Organismus, also die „Organisation von Organen, die man deshalb Organismus nennt“ ist „ja bereits dieses Gottesgericht“, „das System des Gottesgerichtes, das theologische System“, „die Vorgehensweise Dessen, der einen Organismus schafft“, einen Macht- bzw. einen Unterwerfungsapparat.9
„Dieser Organismus ist keineswegs der Körper, der organlose Körper“.10 Der organlose Körper „ist im Gange, sobald der Körper genug [hat] von den Organen und sie loswerden will oder gar verliert“.11 Vor allem ist er [der organlose Körper] kein Begriff oder Konzept, er ist vielmehr eine Praktik, ein ganzer Komplex von Praktiken. Den organlosen Körper erreicht man nie, man kann ihn nicht erreichen, man hat ihn immer angestrebt, er ist eine Grenze. Man sagt: was ist ein organloser Körper? Aber man ist bereits auf ihm, man kriecht wie ein Ungeziefer, tastet wie ein Blinder herum oder rennt durch die Gegend wie ein Verrückter, wie ein Reisender in der Wüste oder ein Nomade in der Steppe. Auf ihm schlafen wir, auf ihm wachen wir auf, wir schlagen uns auf ihm, schlagen uns und werden geschlagen. Auf ihm suchen wir unseren Platz, haben ungeahnte Glücksgefühle und erleben ein sagenhaftes Scheitern. Wir dringen in ihn ein und werden von ihm durchdrungen. Auf ihm lieben wir uns.“12
Die Grenze oder Grenzhaftigkeit des organlosen Körpers gegenüber dem Organismus verdeutlichen Deleuze und Guattari mit vier Körperpraktiken- bzw. Erfahrungen: dem „hypochondrischen Körper, dessen Organe zerstört sind, dessen Zerstörung bereits gelaufen ist, bei dem nichts mehr läuft“, dem „paranoischen Körper, dessen Organe unaufhörlich von äußeren Einflüssen angegriffen werden, die aber auch von äußeren Energien wiederhergestellt werden“, dem „Schizo-Körper, der einen aktiven inneren Kampf anstrebt, den er selber um den Preis der Katatonie gegen die Organe führt“ – der experimentelle Fall eines solchen Körpers ist der „drogensüchtige[] Körper“ – und dem „masochistischen Körper“, den man „vom Schmerz aus nicht richtig verstehen“ kann, sondern eher von seiner sadistischen Seite.13
„Wozu nun aber diese schaurige Kohorte von […] Körpern, wenn der organlose Körper doch auch voller Fröhlichkeit, Ekstase und Tanz ist? Warum also diese Beispiele?“, fragen Deleuze und Guattari. Und sie beantworten die Frage sogleich mit dem Hinweis darauf, dass der organlose Körper ein Experiment sei, ein Experiment der Grenze, was sich am ehesten von grenzwertigen Erfahrungen her verstehen lasse: „Warum nicht auf dem Kopf gehen, mit den Stirnhöhlen singen, mit der Haut sehen, mit dem Bauch atmen, die einfachste Sache, Entität, voller Körper, auf der Stelle reisen, Anorexie, sehende Haut, Yoga, Krishna, Love, Experimentieren. Wo die Psychoanalyse sagt: Halt! Findet euer Selbst wieder! müsste man sagen: Gehen wir noch viel weiter, wir haben unseren organlosen Körper noch nicht gefunden, unser Selbst noch nicht genügend abgebaut. Ersetzt Anamnese durch Vergessen und Interpretation durch Experimentieren. Findet euren organlosen Körper, findet heraus, wie man ihn macht, das ist eine Frage von Leben und Tod, von Jugend und Alter, von Traurigkeit und Fröhlichkeit. Und eben da spielt sich alles ab.“14
Vom Organismus muss man sich nur genügend „bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmerung neugestalten kann; und man braucht kleine Vorräte an Signifikanz und Interpretation, man muss auf sie aufpassen, auch um sie ihrem eigenen System entgegenzusetzen, wenn die Umstände es verlangen, wenn Dinge, Personen oder sogar Situationen euch dazu zwingen; und man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muss so viel davon aufheben, dass man auf die herrschende Realität antworten kann.“15
Der organlose Körper aber „ist so beschaffen, dass er nur von Intensitäten besetzt und bevölkert werden kann. Nur Intensitäten passieren und zirkulieren“. Trotzdem ist der organlose Körper „kein Schauplatz, kein Ort und nicht einmal ein Träger, auf dem etwas geschehen wird. Er hat nichts mit einem Phantasma zu tun, es gibt nichts zu interpretieren. Der organlose Körper lässt Intensitäten passieren, er produziert sie und verteilt sie in einem spatium, das selber intensiv ist und keine Ausdehnung hat. Er ist weder ein Raum, noch im Raum, er ist Materie, die den Raum bis zu einem bestimmten Grad besetzen wird – der jeweilige Grad entspricht den jeweiligen Intensitäten. Er ist heftige und nicht geformte, nicht stratifzierte Materie, eine intensive Matrix, die Intensität = 0, aber an dieser Null gibt es nichts Negatives. Es gibt weder positive noch negative Intensitäten. Materie gleich Energie. Produktion des Realen als intensive Größe, die bei Null beginnt.“16
Ein Beispiel für die Erfahrung eines organlosen Körpers und seine Intensitäten sticht bei Deleuze und Guattari heraus. Es ist das Beispiel der „höfischen Liebe“. „Die höfische Liebe liebt nicht das Ich, ebenso wenig wie sie das gesamte Universum einer himmlischen oder religiösen Liebe liebt. Es geht darum, einen organlosen Körper zu schaffen, auf dem sich Intensitäten bewegen und bewirken, dass es kein ich und keinen anderen mehr gibt, und zwar nicht um Namen einer höheren Allgemeinheit oder einer größeren Ausdehnung, sondern aufgrund von Singularitäten, die man nicht mehr als persönlich bezeichnen kann. Das Immanenzfeld ist dem Ich nicht immanent, und es kommt auch nicht aus einem äußeren Ich oder Nicht-Ich. Es ist vielmehr so etwas wie das absolute Außen, das keine Form von Ich mehr kennt, weil Inneres und Äußeres gleichermaßen Bestandteil der Immanenz sind, in der sie verschmolzen sind. Das ‚Vergnügen‘ der höfischen Liebe, der Austausch der Herzen, ‚assay‚ oder Probe: alles ist erlaubt, was dem Begehren nicht äußerlich ist, seine Ebene nicht transzendiert und über diese auch nicht im Inneren der Person steckt. Die kleinste Zärtlichkeit kann genauso stark wie ein Orgasmus sein; der Orgasmus ist nur ein Faktum; im Verhältnis zum Begehren, das sein Recht fordert, ist er eher langweilig. Alles ist erlaubt: er zählt allein, dass die Lust ein Strömen des Begehrens selber ist.“17
Im Unterschied zum Begehren des Gottesgerichtes, wie wir es von Augustin kennen und Begierde nennen, ist dies Begehren ein Werden, und zwar ein Werden in zweierlei Hinsicht: ein Werden dessen, „was man begehrt“ und ein Werden dessen „wodurch man es begehrt“. So geht es nicht darum „die falschen Begehren [zu] kritisieren, sondern im Begehren [zu] unterscheiden“, „zu entscheiden, was [auf einer Ebene] zusammensetzbar ist und was nicht“. Das ist eine Frage des „Umgangs im Einklang“18, eines neuen Gebrauches: Wagnis des Werdens.