Ausgehend von den Schilderungen des Körpers des Auferstandenen in den Evangelien stellt sich immer wieder die Frage danach, wie der auferstandene, verherrlichte Körper vorzustellen sei und was sich daraus für eine körperliche Praxis der Auferstehung folgern lässt.
Die mehrfach geschilderte erste Erfahrung mit dem Körper des Auferstandenen muss bestürzend, ja gespenstisch gewesen sein. Der Körper des Auferstandenen glich seinem irdischen Körper zu verwechseln auch in seinen Vollzügen: Gehen, Essen, Trinken, Sprechen…
In der Folge wurden sie identisch gedacht. Die auferstandenen Körper seien dieselben wie die irdischen Körper, nur eben unvergleichlich besser. Und dieses Besser – also der Unterschied – ließe sich geradezu ornamental beschreiben mit den Begriffen: „Leidensunfähigkeit (impassibilitas), Behändigkeit (agilitas), Feinheit (sublimitas) und Glanz (claritas)“1.
In seinen Forschungen zum Gebrauch der Körper bedeutet es für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben keine besondere Schwierigkeit, diese „Ornamente des verherrlichen Körpers“ aus der theologischen Tradition heraus zu beschreiben. Im Blick auf eine körperliche Praxis der Auferstehung müsse es aber vielmehr um die Frage gehen, „wie dieser Körper seine vitalen Funktionen ausübt, das heißt, ob man eine Physiologie des verherrlichten Körpers formulieren kann. Denn der Körper steht unversehrt wieder auf, mit allen Organen, die er während seines irdischen Daseins hatte.“2
Wie ist es also mit der Verdauung nach der Auferstehung, wie mit dem Wachstum, wie mit der Zeugung? Diese Fragen lösen bizarre Vorstellungen aus und wurden auch entsprechend behandelt. Aber es erscheint als „unmöglich, dass die entsprechenden Organe völlig nutzlos und leer sind, denn in der vollkommenden Natur gibt es nichts Nutzloses“.
Von hieraus gedacht, erhalten die Überlegungen eine neue Richtung. „Es geht darum, das Organ von seiner speziellen physiologischen Funktion zu trennen. Der Zweck der Organe, wie der jedes Werkzeugs, ist der ihrer Wirksamkeit; doch das bedeutet nicht, dass, wenn die Wirksamkeit schwindet, das Werkzeug nichtig wird. Das Organ oder das Werkzeug, das von seiner Wirksamkeit getrennt und sozusagen aufgehoben ist, erwirbt ebendeshalb eine ostensive Funktion, stellt die der aufgehobenen Wirksamkeit entsprechende Kraft zur Schau.“3
Dieser ausgestellte Leerlauf ad maiorem Dei gloriam ermöglicht einen neuen Gebrauch. „Einen Körper zu gebrauchen und sich seiner als eines Werkzeugs zu bedienen ist nämlich nicht dasselbe.« Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine nichtssagende Zweckfreiheit, sondern es geht darum, »eine zielgerichtete Tätigkeit außer Kraft zu setzen, um sie auf einen neuen Gebrauch einzurichten, der den alten nicht abschafft, sondern auf ihm beharrt und ihn zur Schau stellt«. Wie bei einem Tänzer, »der die Ökonomie der Körperbewegung desorganisiert und zerstört, um sie intakt und zugleich transfiguriert in seiner Choreographie wiederzufinden.“4
Eine solche körperliche Praxis, versetzt den Körper eines Menschen „nicht in eine höhere, edlere Realität“, sondern entdeckt erstmals seine eigene körperliche Wahrheit. Beispielsweise wird „der Mund – wenn er sich zum Kuss öffnet – wahrhaft Mund, die intimsten und geheimsten Teile zum Ort eines geteilten Gebrauchs und Genusses“, und auf diese Weise die alltäglichsten Gesten zu einer unlesbaren Schrift, deren verborgene Bedeutung der Tänzer für alle entziffert“.5
Doch die „Menschen in der christlich-abendländischen Kultur“ sind „keine tanzenden Menschen“.6 Körper werden einzig als Objekte von Herrschaft und Eigentum behandelt und entsprechend zugerichtet. Der französische Rechtshistoriker und Kulturwissenschaftler Pierre Legendre sieht dafür die christliche Morallehre und ihrem notorischen Ausfall gegen das Begehren in der Verantwortung. Der gesetzgebende Text „bemächtigte“ sich der vor allem als sündig wahrgenommenen Körper, „zerstückelte“ sie und „regelte“, reglementierte ihre öffentlichen Bewegungsabläufe für Liturgie, Exerzierplatz und klassisches Ballett.7
Erst der moderne Tanz wendet sich gegen die Spaltungen dieses Gesetzes, befreit die Körper und erforscht sie seither grundlegend neu.8 Auf diese Weise führen Choreografinnen und Choreographen mit ihren Tanzensembles auf ihre eigene Art die oben skizzierten Ansätze über den Gebrauch und die Praxis der Körper als ein „Denken in Bewegung“9 konkret fort; weit außerhalb von Theologie und kirchlicher Praxis.
Die Choreographin Sasha Waltz begann mit ihrer Trilogie „Körper“, „S“ und „noBody“ im Jahre 2000 an der Berliner Schaubühne eine „Recherche, die nach den Bedingungen des menschlichen Lebens und des menschlichen Körpers fahndete.“10
„Der Körper ist immer das Material und das Darstellungsmittel des Tänzers: Was ihn ausmacht, was er bedeutet, bevor er mit Geschichten und Identitäten besetzt wird, was von ihm überhaupt denkbar und vorstellbar ist, außerhalb von sozialen Beziehungen, war eine der Fragen, den die Choreographin in der Trilogie verfolgte und damit eine anthropologische Perspektive anlegte.“11
Der materiale Blick auf den Körper abstrahiert zunächst von der Sexualität und dem Begehren, um den „bloßen Menschen“ ins Zentrum zu stellen. Der erste Teil der Trilogie „Körper“ stellt diesen zunächst „sachlich aus und nach. Die Organe werden bezeichnet und mit Preisen versehen, von vielen Händen übereinander gehaltene Teller zeichnen die Wirbelsäule nach, Wasser läuft in und aus den Körpern der Tänzer, in die Haut wird gegriffen und Tänzer daran gepackt, als wären sie ein Sack…“12
Ein solches „Theater der Bilder“ weckt nicht nur vielfach Assoziationen, es stellt auch Fragen. Sie sind in unserem Zusammenhang überraschend konkret und aktuell:
„Warum man zum Beispiel mit dem eigenen Körper so wenig vertraut ist; wo die Grenzen der Sprache liegen, die ihn zwar benennen kann, aber nur wie ein Ding von außen; warum Krankheiten so unbegreiflich sind; warum vieles von dem, was dem Körper Genuss und Entspannung verspricht, was seine Leistung erhöhen oder seinen Zustand verbessern soll, so oft ins Gegenteil umschlägt und sich aggressiv gegen ihn richtet?“13
Auch „Bilder von Sport und Konsum“ werden „aufgerufen“. Sie spitzen die Fragen zu: „Warum eigentlich tun wir uns das an? Wäre ein anderes Leben möglich, ein anderes Verhältnis zum Körper, das weniger materialistisch und mehr von einer spirituellen Energie geprägt ist?“ „Gigantische Märkte“ sind entstanden, um den Körper zu pflegen „in der Pharmazie, in der Medizin, im Wellnessbereich und im Sport, in der Mode und in der Pornoindustrie. Aber macht uns das glücklich oder auch nur zufriedener mit den Körpern, die wir haben?“14
Vor diesem Hintergrund erscheint der zweite Teil der Trilogie, „S“, wie „ein utopisches Stück, weil es die Fragen nach einem anderen Leben stellt: Was möglich wäre jenseits der festgefügten Rollenmuster, zum Beispiel von Mann und Frau, aber auch jenseits aller anderen Zuordnungen und sozialen Hierarchien, wie sie sich unter anderem über die Codes der Kleidung definieren.“
„S“ geht von der Oberfläche des Körpers aus, „der Kommunikation der Haut, der Bedeutung von Berührung und Nähe“, so dass dieses Stück „neben dem Augensinn auch im Zuschauer ganz neue Rezeptoren anspricht und mit ganz großer Sanftheit sprichwörtlich unter die Haut geht“: „Nackt liegen die Tänzer auf der Bühne, in großer Langsamkeit entfaltet sich über die Berührung eine Erkundung ihrer Körper. Ihre Nacktheit ist so weit entfernt vom sexualisierten Blick der Massenmedien, so anders als die gewohnte Nacktheit in Fotografie und Film, mit der Erotik und Sexualität fast immer zur Ware werden.“15 Hier erscheint Nacktheit mit paradiesischer Unschuld verbunden.
Im dritten Teil „noBody“ tritt ein weiterer Fragenhorizont hinzu: „Denn oft glaubt man, weniger einzelnen Figuren, als vielmehr der Gesellschaft einer Stadt zuzusehen, wie sie sich in Ritualen der Gemeinschaften formt. Etwas geschieht, etwas unerklärliches, nicht Verstehbares, etwas Bedrohliches bricht herein, Sündenböcke werden gesucht, Opfer werden gefunden. Einzelne werden ausgestoßen. […] Manchmal ist das Muster, nach dem sich die Vielheit der Tänzer zum Bild einer Einheit zusammenfügt, auch viel sanfter und der Naturpoesie abgeschaut, wenn Bewegungen und Energie durch die dichtgedrängt stehenden Körper läuft, wie der Wind durch ein Feld.“16
Einzelne Szenen handeln von der „Unbegreifbarkeit des Todes“. Ein Tänzer zwängt sich in das Kostüm eines anderen Tänzers, der leblos erscheint, hinein. Ersterer schleudert den Leblosen wie eine Puppe herum, „wie einen siamesischen Zwilling“ und bringt doch „kein Leben mehr in ihn“ zurück…17
Tanzen ist die Art der Körper, in der Welt zu sein, so könnte man einen Ausspruch der belgischen Tänzerin und Choreographin, Anne Teresa De Keersmaekers, abwandeln. Das ist ganz direkt gemeint: „Tanzen ist immer noch das Einfachste, Natürlichste, was der Körper kann.“18 Und: „Sich zu drehen war für mich die natürlichste Art zu tanzen“.19
My walking is my dancing ist De Keersmaekers berühmter Ausgangspunkt: Gehen „ist die Basis der menschlichen Bewegung, wir haben eine vertikale Aufrichtung des Skeletts und zwei Füße. (Steht auf und geht durch den Raum.) Es ist die Verbindung zur Erde. Gehen hat mit der Schwerkraft zutun. Man kann tanzen auch sehen als den Versuch, die Schwerkraft herauszufordern. Gehen organisiert auch meine Zeit. Es ist die einfachste Weise, mein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu organisieren.“20
Der Übergang vom Gehen ins Tanzen ist fließend: „Ich betrachte das Gehen als den Tanz im Reinzustand. Das Gehen ist die einfachste Bewegung, jeder kann es, man kann es zusammen machen. Es ist immer der Ausgangspunkt eines möglichen Tanzes. Es organisiert den Raum und die Zeit. Gehen regiert auch unseren sozialen Raum. Zum Beispiel kann ich mich von Ihnen entfernen. Und ich kann es sehr schnell oder langsam tun. Ich habe ein parametrisches Denken: wenn ich eine Choreographie entwerfe, bringe ich einen der Parameter in Bewegung um die Schönheit dieser oder jener Bewegung zu steigern, indem ich sie lebendiger oder befremdlicher mache. Zum Beispiel wenn ich mit dem Parameter „Zeit“ arbeite, spiele mit extremer Beschleunigung oder mit extremer Verlangsamung.“21
Eine besondere Rolle im Verhältnis zur Bewegung der Körper, die man Tanz nennt, spielt die Musik, wenngleich der Tanz der „Musik ein autonomer Partner bleiben“ muss und „sich niemals von ihr versklaven oder in ihren Bann schlagen lassen“ darf.22
Insbesondere in der Musik Bachs lassen sich nach Anne Teresa De Keersmaekers „Erfahrungen erkennen, die ins Gedächtnis jedes einzelnen menschlichen Körpers eingeschrieben sind: Freude, Wut, Trost, Verachtung, Rache, Mitleid, Vergnügen, Schmerz, Melancholie, Ekstase… […] Seine Musik bewegt aber nicht nur emotional, sie berührt einen auch körperlich.“23 „Bach unterschrieb seine Partituren immer mit Soli Deo Gloria. Seine Musik strebt ganz klar danach, die göttliche Ordnung, die im Universum sichtbar wird, widerzuspiegeln – sie drückt ein unbändiges Verlangen nach Harmonie aus. […] Ich empfinde sie als Architektur in Bewegung, die einerseits an der horizontalen Achse des Kontrapunkts und der vertikalen Achse der Harmonie ausgerichtet ist.“24
Von hier aus wird deutlich, inwiefern im modernen zeitgenössischen Tanz die Spuren für die Erforschung einer Praxis auferstandener Körper gesehen werden können. Die Dringlichkeit, eine neue Theorie und Praxis der Körper innerhalb des Christentums zu erfinden und zu leben wird umso deutlicher, seit in den letzten Jahren immer mehr geschundene, missbrauchte und vergewaltigte Körper laut des Wort ergreifen und ihren Schmerz herausschreien, der unzweifelhaft dem Schrei am Kreuze gleicht. Dies ist der Horizont des berühmten Satzes von Pina Bausch:
„Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“