Wofür interessiert sich jemand, wenn sie/er sich für eine produktive experimentelle Praxis, in der „sich das Manuelle nicht von den Ideen trennen lässt“1, interessiert?
Sie/er interessiert sich für Hände, Hände als „Bewusstsein einer Handlung“2.
Albert Flocon war 1933 aus Deutschland nach Paris emigriert und hatte sich nach 1945 auf die Kupferstecherei konzentriert. Ende der vierziger Jahre versammelte er eine Gruppe von Graveuren um sich und bereitete mit ihnen eine Ausstellung in einer kleinen Galerie auf der Pariser Ile St. Louis vor. Die ausgestellten Gravuren kommentierend wollte Flocon einige Texte von Gaston Bachelard zitieren und nahm dazu mit ihm Kontakt auf. Bachelard, der eigenwillige Philosoph und Wissenschaftshistoriker, versprach einen eigenen Beitrag. Der gab schließlich auch den Titel der Mappe ab, die die sechzehn dem Handmotiv gewidmeten Drucke der Künstlergruppe beinhaltete: À la gloire de la main – Zum Ruhm der Hand.
„Das Buch wurde 1949 im bekannten Atelier von Georges Leblanc, 147 rue Saint Jacques, ‚auf Kosten eines Liebhabers‘ gedruckt. Flocons Gravur zeigt seine eigene Hand – ‚meine Hand‘. Sie hält einen Stichel und ist dabei, ihrerseits eine Hand zu gravieren – eine Hand also ‚bei der Arbeit‘ an einer Hand. In dieser setzt sich die Folge von Stufen der De- und Transformation fort: von der körperlichen Hand, welche die Konturen einer weiteren Hand in die Kupferplatte ritzt, in deren Teller sich noch einmal eine Hand, nun in abstrahierter Form einer geometrischen Skizze abzeichnet. Und noch eines zeigt das Kupfer: Die Geste des Stechers ist in ein und derselben Bewegung nicht nur einschneidend, sondern auch aushebend. Sie verläuft in den Grund und die die Höhe zugleich.“3
Die Aktivität einer Hand ist von sich aus nicht auf den „ziel- und nutzengerichteten Wert der Produktion eines Gegenstandes“ gerichtet, sondern sie ist „vor allem die Erfahrung und das Experiment einer Beziehung“. Form und Ergebnis diese Prozesses ist „nie wirklich ‚vorher-sehbar‘: sie ist immer problematisch, unerwartet, unsicher, offen“4.
Nicht nur bei der Arbeit eines Kupferstechers organisiert sich die „Dynamik der Hand“ um einen „blinden Fleck“, einen „Kern von Blindheit“, und damit auf die gleiche Weise wie sich die Sprache um einen „asemischen Kern“ organisiert.5 Folgerichtig taucht die abschließende Frage des Beitrages von Paul Valéry in der Mappe „Zum Ruhm der Hand“ – nämlich ob die Hand nicht ein „Organ des Möglichen“6 sei – im Zusammenhang der Rede wieder auf.
„Die seltsame und bemerkenswerte Rolle der Hand während der Rede – eine begleitende Ausdrucksfunktion – könnte eine verstümmelte Reminiszenz an irgendeine alte Zeichensprache sein. Die Hand spricht also – sie bietet an, kneift, schneidet ab, stößt zurück, fügt zusammen, ruft heran, schlägt zu, weist hinauf usw. Sie exponiert vor allem die Verben. Sie verstärkt aber auch (vgl. die Hand eines Sängers) und skandiert = legt Unterbrechungen fest – grenzt die Chrono-Sätze ab. Die Hand – Repräsentationsapparat – Raum.“7
Gegen Ende seines Musiktheaterstückes „Max Black“ (1998), unterlegt der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels diesen Text mit einem elektronisch generierten Pulsschlag. Nach jedem genannten Verb erklingt das Geräusch einer Drehrassel, aus deren Geräusch, vom Schauspieler (André Wilms) live gemacht, sich ein elektronischer Rhythmus entwickelt. Er ist mit weiteren Samples von Musikteilen – Klavier, Orchester, Beats, Maschinengeräusche, wiederholte Basslinien etc. – versetzt. Sie lassen den musikalischen Kosmos des gesamten Stückes akustisch noch einmal Revue passieren, was seinen besonderen Reiz darin hat, dass fast alle Musik sich aus Geräuschen, Tönen und Samples zusammensetzt, die der Schauspieler mit eigenen Händen auf seiner Laborbühne hergestellt hat.
„Die Hand – sie segnet, kratzt die Nase oder Schlimmeres, dreht den Wasserhahn auf, erhebt sich zum Schwur, gebraucht die Feder oder den Pinsel, schlägt nieder, erwürgt, drückt die Brust, reißt ab, streichelt, liest beim Blinden, spricht beim Stummen, beschwört, droht, nimmt entgegen, trommelt, gibt zu essen oder zu trinken, macht sich zum Zähler, Alphabet, Werkzeug, streckt sich dem Freund entgegen oder dem Feind; und abwechselnd instrumental, symbolisch, rhetorisch, mystisch, geometrisch, arithmetisch, prosodisch, rhythmisch. Universalakteur, Generalagent, Initialinstrument.“8
Kurz bevor sich die Rhythmen und Samples um die einzelnen Wörter und Wortgruppen herum erneut in eine zuvor im Stück erklungene Drum & Bass Intensität steigern, bricht der Sound ab; lediglich der uhrenhafte Puls geht weiter. Der Schauspieler wechselt ins Englische und spricht viel ruhiger, nachdenklicher:
„Wie beurteilt einer, welches seine rechte und welches seine linke Hand ist? Wie weiß ich, dass mein Urteil mit dem der Andern übereinstimmen wird? Wie weiß ich, dass diese Farbe Blau ist? Wenn ich hier mir selbst nicht traue, warum soll ich dem Urteil der Andern trauen? Gibt es ein Warum? Muss ich nicht irgendwo anfangen zu trauen?“
Daraufhin fährt er auf dem Puls von wiederkehrenden Basslinien und vereinzelten Klaviertönen begleitet fort:
„Denn nimm an, du führst einem Blinden die Hand und sagtest, indem du sie deiner Hand entlang führst, ‚Das ist meine Hand‘; wenn er dich nun fragte ‚Bist du sicher?‘ oder ‚Weißt du das?‘, so würde das nur unter sehr bestimmten Umständen Sinn haben. Aber anderseits: Woher weiß ich, dass das meine Hand ist? Ja, weiß ich auch nur genau, was es bedeutet zu sagen, es sei meine Hand? – Wenn ich sage ‚Woher weiß ich’s?‘, so meine ich nicht, dass ich um mindesten daran zweifle. Es ist hier eine Grundlage meines ganzen Handelns. Aber mir scheint, sie ist falsch ausgedrückt durch die Worte ‚Ich weiß…‘“9
Reden die Hände bei einer Rede mit, dann arbeiten sie an einer Art Werkstück aus Luft, das den Aspekt einer Rede darstellt, dem man sich mit den Worten „ich weiß“ nur unzureichend annähern kann. Sie gestalten den vor-zeichenhaften Kern der Rede, ihren immer problematischen, unerwarteten, unsicheren, offenen Anteil. Sie markieren den experimentellen Charakter einer (rhetorischen) Erfahrung, ihr Unvorhersehbares.
Doch das geschieht nicht im luftleeren Raum. Die Hände sind Akteure eines kleinen Theaters der Gesten, wie es im Austausch zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht diskutiert wurde. Schon vor seiner Begegnung mit Brecht hatte Benjamin über ein proletarisches Kindertheater geschrieben und dabei die Bedeutung der Geste betont, die „schöpferische Innervation der Hand“. Über Brechts episches Theater schreibend bestimmt er die „Geste als sein Material“ und übernimmt die Brechtsche Formulierung über das „oberste Gebot“ dieses Theaters, dass nämlich „‚der Zeigende‘ – das ist der Schauspieler als solcher – ‚gezeigt werde‘“.10
Dieses Prinzip des „Allen Haltungen sollte die Haltung des Zeigens zugrunde liegen“11, bedeutete ein ästhetischen Postulat zur Sichtbarkeit: Scheinwerfer sollten sichtbar sein, Auftritte, Bühnenelemente, Umbauten, Materialien, Konstruktionen, die Haltungen der Schauspieler bis hin zum Effekt der Verfremdung…12
Brecht betonte vor allem zwei Aspekte des Gestischen. Der Schauspieler zeigt zum einen „Gesten, welche sozusagen die Sitten und Gebräuche des Körpers sind“13 – damit öffnet Brecht die Geste einer Politik der Körper. Zum anderen unterbricht die Geste blitzartig die lineare szenische Abfolge und somit den einfühlenden „Assoziationsmechanismus“ im Betrachter.14
Brecht selbst hat seine „Technik der Geste nicht zuletzt der Rhetorik der biblischen Sprache abgeschaut“15, insbesondere der lutherischem Bibelübersetzung. Wenn zum Beispiel Luther übersetzt: „Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!“ und nicht „Reiße das Auge aus, das dich ärgert.“, kommentiert Brecht: „Der erste Satz enthält die Annahme, und das Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall voll ausgedrückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat“.16
Die Geste des Zeigens mit der Hand führt bei Walter Benjamin allerdings noch auf eine andere Spur. Folgende Notate finden sich im Protokoll zu Benjamins Haschischversuchen, aufgezeichnet vom befreundeten Arzt Wissing: „B. liegt, meistens mit geschlossenen Augen, völlig ruhig. […] Ca. ¼ Stunde nach Einsetzen der Wirkung hält er den Zeigefinder der l[inken] Hand steil in die Höhe, dies mindesten eine Stunde beibehaltend“.17 Diese Geste erscheint als bewusst eingenommen und willentlich aufrechterhalten. Ein späteres Notat im Protokoll: „V[ersuchs] P[erson] liegt noch in genau gleicher Lage, den Zeigefinger immer noch steil emporgestreckt, und deutet mir an, dass ich sehr viel versäumt hätte.18 Das Versäumte steht nicht im Protokoll. Doch bei allen Haschischversuchen im Frühjahr 1931 behält Benjamin diese Position bei. Es ist eben der Zeitraum, in dem er sich auch mit dem epischen Theater Brechts auseinander setzt und den seinerzeit unveröffentlichten Essay „Was ist das epische Theater. Eine Studie zu Brecht“ verfasst. Zumindest in dieser Hinsicht sind Benjamins Versuchsanordnungen ein „echtes Experiment, ein Testlauf von Brechts Modell unter Extrembedingungen, und im Medium des Witzes!“.19
Später (1933/34) kommt Walter Benjamin im Zusammenhang von sprachtheoretischen Studien im Umkreis des mimetischen Vermögens20 darauf zurück. In das Verhältnis von Wort, Ding und Schrift führt Benjamin als vermittelnde physische Aktivität die Gebärdensprache ein, also mit Brechts Worten das Gestische.
Dabei erscheint Benjamin die Hand als das „wichtigste Vehikel“ der Gebärdensprache und die Sprache der Hand die „älteste, auf die wir stoßen“. Das zeigten ethnologische Studien, die Benjamin diskutiert. Noch vor der „artikulierten Lautsprache“, besaß der Urmensch mit der Hand ein „angepasstes Werkzeug“ des Zeigens, was ihn von der übrigen Tierwelt unterschied. Die Hand, bzw. die Hände waren „die Zunge des Menschen“. Anders gesagt stellten „Handbewegungen, Minenspiel“ und Körperbewegungen überhaupt, die ersten sprachlichen Mittel des Menschen dar. Die Geste des Zeigens als „Arm- und Fingergeste des Menschen, der unser Zeigefinger den Namen verdankt“, hätte demnach nicht nur eine „zeitlich genetische, sondern eine strukturbestimmende Bedeutung im Sprachgeschehen“. Die Sprache selbst entstünde „im Schnittpunkt“ einer „Intelligenzkoordinate“ und einer „gestischen Koordinate“. Letztere setzt sich aus Hand und Laut zusammen. Sprache ist somit an die Gebärde/Geste gebunden. Das „phonetische Element“ der Sprache, „ist Träger einer Mitteilung, deren ursprüngliches Substrat eine Ausdrucksgebärde war“, fasst Benjamin zusammen.21
Das kleine Theater der Hände aus rhetorischem Zusammenhang auszuschließen heißt demnach, das ursprüngliche Substrat der Ausdrucksgebärde aus dem Reden ausschließen, bzw., schlimmer noch, die Verbindung zwischen Denken und Körper zu kappen. Darin hat nicht zuletzt die homiletische Praxis der christlichen Kirchen eine lange Tradition mit verheerenden Folgen bis auf den heutigen Tag. Ihr kann nur mit einer Befreiung begegnet werden. Eine solche beginnt wiederum mit einer Geste der Hände, dem uprising.22
Unter diesem Titel: Soulèvements/Uprisings hat in jüngster Zeit Georges Didi-Huberman eine Ausstellung im Pariser Museum Jeu de Paume erarbeitet (2016/17). In der zweiten Abteilung der Ausstellung spürt er der Geschichte der Gesten bei Aufständen nach, von alten Malereien, über De Goyas Revolutionsbilder, bis zu heutigen Kunstwerken und Dokumenten von Demonstrationen in aller Welt. In ihrem Zentrum steht das protestierende Erheben der Hände. Noch vor jeder konkreten Aktion ist das Erheben der Arme und Hände eine einfache Geste, die eine Last von sich wirft. Diese einfache Geste bricht mit der Gegenwart und streckt „die Arme einer Zukunft entgegen, die sich öffnet“. Sie ist ein „Zeichen der Hoffnung und des Widerstandes“.23
Von hier aus erhellt gestisch das liturgische sursum corda aus der eucharistischen Liturgie seinen homiletischen Sinn: Erhebet die Hände! und öffnet dem jesuanischen Psalmzitat: in manos tuas, pater… seine eigentliche Perspektive: einen häretischen Imperativ… 24