In Andrej Tarkowskijs Film „Opfer“ von 1986 blättert der Protagonist Alexander, gespielt von Erland Josephson, in einem Bilderbuch und sagt: „Das ist wie ein Gebet.“1 Angesichts der Bilder in diesem Buch – es sind Ikonen – verwundert diese Bemerkung nicht. Dennoch fügt Alexander unmittelbar hinzu: „Und dann ist all das verloren gegangen. Jetzt können wir nicht mehr beten.“2
Als ob er seinem Filmprotagonisten widersprechen wollte3, versteht Tarkowskij selbst das Hervorbringen oder Schaffen von Kunst als so etwas wie Gebet. In seinem Falle müsste man es ein Gebet in, mit oder durch Bilder nennen. In seiner künstlerischen Praxis meint das allerdings nie ein Zeigen von Betenden, also Menschen im Gebet.
Mit einer Ausnahme. In einem entscheidenden Moment im genannten Film „Opfer“ betet Alexander. Er spricht das „Vater unser“ und fügt ihm ein sehr persönliches Gebet hinzu, in dem er Gott direkt mit „Du“ anspricht, ihm ein Versprechen gibt und ihn um Hilfe bittet.
Was sieht man?
„Der Raum ist in dunkel-bläuliches Licht getaucht. Alexander steht an seinem Schreibtisch, trinkt aus einem Glas, geht langsam in den Raum, bleibt vor der Leonardo-Reproduktion4 stehen. […] Er geht in der Mitte des Zimmers in die Knie, lässt sich auf dem Boden nieder, stellt das Glas ab. […] Er blickt nach oben, dann wieder vor sich. Die Kamera nähert sich von oben Alexanders Gesicht. […] Alexander richtet sich halb auf, kriecht auf allen vieren zum Sofa, streckt sich, den Rücken zum Betrachter, darauf aus. Dunkelheit und Stille. (Geräusche: ein übers Parkett rollender Gegenstand, der sich schließlich totläuft. In der Ferne singende Stimme.)“5
Die gängigen Übertragungen von Gebeten, sei es im Fernsehen oder über mediale Plattformen, zeigen allermeist Menschen beim Gebet, direkt gefilmt. Sprachlich werden dann Deklarationen oder Statements formuliert, die der oder dem, die oder der als „Gott“ angesprochen wird, Handlungsempfehlungen geben. Sie werden meist direkt in die Kamera gesprochen und sollen zu Gebeten umgeformt werden durch einen gesprochenen oder gesungenen Gebetsruf. Eine andere Variante, auch meist in die Kamera gesprochen, formuliert Gebetsanliegen in Form einer erläuternden Moderation: „Wir beten für…“, die dann im gesprochenen oder gesungenen Gebetsruf aktiviert werden. Die diskreteste Variante filmt nicht die Betenden, sondern zeigt eine Kerze oder ein Kreuz. Ähnlich ist die Bildpraxis beim Beten des „Vater unser“. Dabei dominiert meist die Stimme der oder des Zelebranten als Vorsprecherin das gemeinsame Sprechen des Gebetes.
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beobachtet in seinen Untersuchungen „Am Grund der Bilder“6, dass, „[j]e ungehemmter die Verbreitung von Bildern ist, je machtvoller ihre Wirkung, desto stärker ist auch der Verdacht der Täuschung, der Bilder seit jeher ausgesetzt sind“. Er fragt, woher die Bilder ihre Macht beziehen, die ihre Oberfläche ausstrahlt. Und macht sie im „Oszillieren des Bildes zwischen Oberfläche und Grund, zwischen Darstellung und Undarstellbarem“ aus.7
Exemplarisch dafür stehen für Nancy Porträts.8 „Ein Porträt berührt, sonst ist es nur ein Passfoto, ein Anzeichen, kein Bild. Was berührt, rührt aus einer Intimität, die an die Oberfläche kommt. Das Porträt ist hier jedoch nur ein Beispiel. Jedes Bild weist etwas vom ‚Porträt‘ auf, weniger, weil es die Züge einer Person reproduziert, sondern vielmehr, weil es zieht (das trait des Porträts leitet sich etymologisch von lateinisch trahere, ‚ziehen‘ ab), indem es etwas, eine Intimität, eine Kraft hervorzieht. Um hervorzuziehen, entzieht es diese Kraft der Homogenität, indem sie diese ablenkt, sie unterscheidet und sie nach vorne wirft. Sie projiziert sie vor uns und dieser Wurf, diese Projektion charakterisiert dessen Zeichen, dessen Zug und Stigma: die Pinselführung, die Linie, der Stil, der Einschnitt die Narbe, die Signatur – all dies zugleich.“9
Im Bereich des Fernsehens und der medialen Plattformen kommt diesem Entzug der Homogenität eine besondere Bedeutung zu, da sie als Medien an sich zur Homogenisierung nicht nur neigen, sondern darin ihre entscheidende Praxis liegt. Ihr gegenüber ist ein erhöhtes Maß an ästhetischer Wachsamkeit angebracht.10
Denn schließlich ist es dieser Kraftentzug an der Homogenität, der das Bild in seinen entscheidenden Zusammenhang stellt: „Das Bild – weder Welt noch Sprache – wäre eine ‚Realpräsenz‘, wenn man sich an den christlichen Wert11 dieses Ausdrucks erinnert: die ‚Realpräsenz‘ ist gerade keine alltägliche Gegenwart des Wirklichen: gerade kein in der Welt vorhandener, gegenwärtiger Gott. Diese Präsenz ist eine heilige Intimität, die als Fragment von Materie einnehmbar wird. Zur Realpräsenz wird sie als ansteckende, teilhabende und teilgehabte, in der Unterscheidung ihrer Intimität kommunizierende und kommunizierte Präsenz.“12
Von hier aus ließe sich für die genannten medialen Zusammenhänge eine Praxis des Betens in, mit oder durch Bilder entwerfen. Wie wäre es, wenn als Fürbittgebet eine der ältesten Bilderpraktiken des Christentums aufgegriffen würde, nämlich die vom deutschen Bildwissenschaftler Hans Belting13 in Erinnerung gebrachte Praxis des Totengedenkens bzw. der Erinnerung an die Toten durch ein Bild, ein Porträt der Toten?
Im Zusammenhang der aktuellen Pandemie könnte ein solches Gebet einfach darin bestehen, schweigend, ohne Worte oder Erklärungen Bilder von Toten zu zeigen. Eine solche betende, fürbittliche Praxis wäre auch vorstellbar für Lebende, zu Unrecht Inhaftierte, Dissidenten, Benachteiligte aller Art, aber auch Neugeborene, Verliebte, ja Landschaften, Tiere, Pflanzen…
Einfach Bilder zeigen, Porträts, und gelegentlich ein gesprochener oder gesungener Gebetsruf.
Denn es könnte sein, dass eine durchlässige, intime Sprache des Gebetes aus dem Visuellen wieder hervorkommt, wie oben in Tarkowskijs Film, dessen Gebetsszene „in dunkelbläuliches Licht getaucht“ begann:
Vom Blauen und vom Dunkel kommen Worte her. / Vom Dunkel und vom Blauen, und werden immer mehr. / Im Dunkel und im Blauen geht Lächeln aus und ein. / Im Blauen und im Dunkel wird wohl auch Weinen sein. / Ins Blaue und ins Dunkel geht alles Lächeln einst. / Ins Dunkel und ins Blaue, wenn Du heut Worte weinst. / Ins Blaue und ins Dunkel geht alles Lächeln einst. / Ins Dunkel und ins Blaue, wenn Du heut Worte weinst.14