Die Spiegelung des Glaubensbekenntnis-Artikels aus dem Kleinen Katechismus und des Katechismus-Liedes Martin Luthers zum Abendmahl führt uns in einen Engpass. Der Glaube respektive das Abendmahl im Lied „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt“ (1524) bleiben gefangen in im Modus der Katechese, des Erklärens und richtigen Bedeutens. Diese Enge wird deutlich trotz lutherischer Sprachkraft und hymnischen bzw. melodischen Verbindungen, wie sie im Abendmahlslied zu finden sind.
In Zentrum steht die gestrenge Mahnung sich dem Abendmahl nicht anders als als reuiger Sünder zu nähern und sich im Empfang nicht selber helfen zu wollen: „Dieser Tisch auch dir nicht gilt, / so du selber dir helfen willt“.
Hierin kommt Luthers Furcht vor einem falschen Gebrauch des Abendmahles zum Ausdruck. Sie hat sich zu einer generellen Furcht vor jeglicher Praxis des Glaubens im Bereich des Protestantismus herausgebildet. Richtiges Erklären bzw. Überzeugung gehen vor Praxis oder Lebensform.
Luthers Furcht hat seinen Hintergrund sicher in der nicht nur für ihn schauerlichen Ausübung des Ablasshandels. Was uns heute befremdlich anmutet, war zu Luthers Zeiten weit verbreitet und kann kaum anders als eine Geißel der Kirche bezeichnet werden, mit der sie die Menschen traktierte. Auf perfide Weise kombiniert der Ablasshandel Erlösungsglauben bzw. Furcht vor dem Gotteszorn mit Geld und kirchlicher Repräsentation. Dieser Klassiker kirchlichen Marketings hat einen langen Schatten auf Fragen der Praxis bis in unsere Tage geworfen.
Dieser Schatten verdunkelt vor allem jene Zwischenräume von Praxis, die sich zwischen Theologie und Diakonie aufspannen und spirituelle, oder liturgische oder religiöse Praxis genannt werden und setzt sie dem Verdacht der Werkgerechtigkeit aus. In der zweiten Folge unserer Reihe der Kommentare zu Martin Luthers Kleinem Katechismus sind bereits Skizzen zu Begriffen wie Praxis, Werk, Entwerkung beschrieben, die diese dunklen Verdächtigungen aufklären.
Wie schnell sie dennoch diese Praxismöglichkeiten durch die Gewohnheit direktiver Repräsentation verfälschen sei an drei scheinbar nebensächlichen Beispielen aus dem gottesdienstlichen Bereich gezeigt.
In Fernsehgottesdiensten (und auch anderswo) kommen seit einiger Zeit gern einmal sogenannte Lebensexperten zu Wort. Sie sollen eben gelebtes Leben als eine Art Zeugenschaft für ihren Glauben zur Sprache bringen. Das ist oft sehr berührend. Dennoch fällt auf, wie wenig direkt sie gottesdienstlich eingebunden sind, wenn sie zum Beispiel im Zusammenhang des Kyrie erscheinen. Da ist also ein solches Statement aus dem wirklichen Leben und, damit dies Teil des Kyrie werden kann, wird es noch einmal von der liturgisch leitenden Person zusammengefasst, also gedoppelt.
Oder in einem Gottesdienstformat, das mit zeitgenössischer Kunst umgeht, soll das Glaubensbekenntnis vor einem Bild der Ausstellung eingeleitet werden, auf dem Buchstaben zu sehen sind, die in einer Reihenfolge das Wort Credo ergeben und in verschiedenen Fassungen und schließlich als dieses Wort aus dem Bild gelesen werden. Anstelle dessen, dass daraufhin die liturgisch leitende Person sich erhebt und das Glaubensbekenntnis direkt beginnt, folgt gewohnheitsmäßig repräsentativ der Satz „Wir bekennen unseren christlichen Glauben“.
Oder in einer Andacht im Zusammenhang von jüdisch-christlichen Dialog wird mit großer Freude angekündigt, dass der aaronitische Segen von einem jüdischen Kantor intoniert wird. Der tat seinen Dienst auf bewegende Art und Weise. Und als ob dieser Segen nicht gültig sein könne, spendet direkt im Anschluss daran die liturgisch leitende Person den Segen noch einmal: richtig.
Diese Beispiele beschreiben, wie durch kleine Unachtsamkeiten, (die nicht einmal mit Absicht geschehen), lebendige Praxis durch Richtigkeiten eingehegt und somit in ihr Gegenteil verkehrt wird. Denn was Leben, Kunst oder zwischenreligiöse Geschwisterlichkeit praktizieren soll, wird vorgeführt oder ausgestellt wie im Zoo.
Ein weiterer, anderer Aspekt der genannten Engführung, mit der wir konkreter auf das Thema Glauben und Abendmahl in unserem Zusammenhang zurückkommen, versteckt sich in Luthers Vers „Das wir nimmer des vergessen“. Der in Luthers Vers verborgene theologische Terminus ist Gedächtnis, anamnesis oder Memorial [1]. Es genügt, diesen Begriff zu nennen, um zu zeigen wie sehr richtige Lehre oder Überzeugung der gemeinsamen – in diesem Zusammenhang ökumenischen – Praxis im Wege steht.
Man könnte dies als ein innerchristliches Problem ansehen, was es auch ist. Dennoch weist das Auftreten des Wortes Memorial als Name einer „[h]istorisch-aufklärerische[n], gemeinnützige[n] und menschenrechtliche[n] Gesellschaft“, die 1989 in Moskau gegründet, im Frühjahr 2022 in Russland verbotenen wurde und als „Netzwerk unabhängiger Nicht-Regierungsorganisationen agiert“[2], auf eine politische Dimension von erschreckender Aktualität. Gesellschaft und Netzwerk dokumentieren die Zeugnisse harter politischer Repression und Verfolgung vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Wenngleich Memorial keine christliche Organisation ist, so ermöglicht es doch ihr Name, in den dokumentierten Leidenswegen das Leiden Christi zu entdecken. Das eröffnete Luthers Abendmahlslied noch eine andere Dimension:
„Jesus Christus, unser Heiland,
der von uns den Gotteszorn wandt,
durch das bitter Leiden sein
half er uns aus der Höllen Pein.“