Ein anonymer kolorierter Holzschnitt der grafischen Sammlung Albertina in Wien aus der Mitte des 15. Jahrhunderts heißt „Christi Himmelfahrt“. Man sieht darauf Maria und die zwölf Jünger in Gewändern am Boden kniend um einen plateauhaften Felsen herum angeordnet. Sie tragen einen Heiligenschein. Die Hände der im Vordergrund Abgebildeten zeigen Gebetshaltungen, ihr Blicke gehen nach oben. Die Spitze des Felsens ist abgeschnitten und flach, wie eine kleinen Bühne und nach vorne geneigt, so dass man zwei Fußspuren sehen kann. Am oberen Bildrand über der Felsbühne sieht man die zwei schwebenden Füße, die offenbar die Fußspuren hinterlassen haben. Sie tragen jeder ein Wundmal und sind von ihrer Mitte an von einem Gewand verdeckt, das in einer Ansammlung von Wolken verschwindet. Dies Ensemble aus Füßen, Gewand und Wolken ist von einem Strahlenkranz umgeben, als ob sie sich in der Mitte der Sonne befänden.
„Abgrund – am Rande des Verschwindens“ heißt ein Text des französischen Philosophen und Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman. Er beschäftigt sich mit diesem Holzschnitt und entwirft darin eine überraschende These:
„Vermutlich gibt es keinen Glauben ohne das Verschwinden eines Körpers. Und man könnte eine Religion, wie beispielsweise das Christentum, als eine immense kollektive Arbeit begreifen, die auf Dauerhaftigkeit, auf Wiederholung, auf ihre permanente obsessive Selbst-Erzeugung angelegt ist: als die immense symbolische Bewältigung dieses Verschwindens. So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er uns zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt: Beispielsweise wenn er in seinem demütigen Tod und seinem Begräbnis verschwindet, aber bald darauf in seiner glorreichen Auferstehung zurück erscheint. Seine Auferstehung bedeutet zugleich aber auch, in einer dialektischen Wendung, dass mit ihr die Zeit eines erneuten Verschwindens beginnt, die nun aber durch den Glauben ausgezeichnet ist: die menschliche Zeit, die Zeit der Gemeinschaft und der Liturgie, in der seine Abwesenheit zum Warten auf seine Wiederkehr, auf seine ‚ewige Herrschaft‘ wird.“1
Im Weiteren seines Textes untersucht Georges Didi-Huberman die „logischen und visuelle Zeichen dieses Verschwindens“ eben am Beispiel des kleinen Holzschnittes und charakterisiert sie als „subtile Formen des Spiels der Grenzen zwischen dem Offenen und dem Geschlossenen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Hier und dem Jenseits, der erfassten Sache und dem, was sie erfasst hat, dem Außen und dem Innen“. Das, was sich den „Blick[en] der Anwesenden entzieht“, wandelt das „Verschwinden in ein visuelles Ereignis“ um, „das in der Lage ist, die Abwesenheit zu einer Sache des Glaubens zu machen“. Auf diese Weise wird das „Unsichtbare als ein visuelles Zeichen der entzogenen Gegenwart“ konstituiert.2
Das besondere dieser Untersuchung für unseren Zusammenhang besteht nun darin, dass Abwesenheit keinen Zustand beschreibt, sondern eine Bewegung, die auf Dauerhaftigkeit angelegt ist, auf Wiederholung: Fortwährend kommt Christus und entzieht sich wieder, wie Hubermann schreibt. Eine solche Abwesenheit als entzogene Gegenwart hinterlässt einen Sog, setzt in Bewegung.
In unserem Holzschnitt wird diese Bewegung auf der kleinen Bühne, von der Christus gerade verschwindet, als Abdruck der Füße Christi dargestellt. Die Versammelten können ihn jedoch nicht sehen. Der Abdruck ist oberhalb ihres Einblickes. Für uns Betrachter des Bildes ist er sichtbar, weil die Bühne leicht nach vorn gekippt ist, also aus der Perspektive fällt – eine doppelte Spur von Bewegung.
Diese Analyse trifft auf die theologische Definition des Thomas von Aquin: ascensio est quidam motus.3 Die Himmelfahrt „ist eine Art von Bewegung“4 übersetzt Alex Stock. Er überdeckt damit freundlich die theologische Verlegenheit gegenüber allem, was mit Bewegung zu tun hat. Und Thomas‘ Analyse gleicht dann auch eher einer, zwar subtilen, aber in Bezug auf die Bewegung einer Beschreibung von etwas, was gewissermaßen eine Bewegung aber doch mindestens zielgerichtet im Sinne von Mechanik oder Architektur hätte gewesen sein können; genauer gesagt: eine Inthronisation; also, wenn es denn sein muss: irgendetwas wie Bewegung, eine gewisse Bewegung, dann eine im Sinne von Erhebung zur Macht, Verwaltung und Ordnung (höherer Ordnung selbstredend, was einer Erstarrung von Bewegung gleichkommt, schon deshalb, weil man immer Angst haben muss, von irgendwo herunter zu fallen).
Hier klafft ein Desiderat. Zu entwickeln wäre nichts geringeres als die Einführung der Bewegung ins theologische Denken und damit zugleich auch in die liturgische Praxis.
Alex Stock versammelt Spuren von Bewegung und macht darin das „Schreitmotiv“ als „die kinetische Basisformel“ der „westlichen Himmelfahrtsikonographie“ aus. „[I]hre eigentliche Entdeckungsleistung liegt aber darin, die Fahrt in der Mobilität des Körpers erfahrbar zu machen.“5 Diese erfahrbare Mobilität eines Körpers, „der große Schritt“, wird nun „vom irdischen Terrain in den Luftraum verlagert“. Dann ist es „[v]om Laufschritt“ nur ein „Geringes zum Sprung“.6
Verleiht man nun einem solche Sprung neben der unerlässlichen Bewegungsintensität, noch etwas ekstatische Energie, so gelangt man unversehens zum Flug.7
„Schritt – Sprung – Flug war der erst Typus, den die abendländische Himmelfahrtsikonographie entwickelt hat.“8 Hinzu kommt „die frontale Schwebe“9 (das klingt schon wieder mehr nach Thomas) und ein dritter Typus nimmt diese „Körperbewegungselemente in sich auf, transponiert sie aber in eine veränderte Raumerfahrung. „Maria und die Apostel blicken staunend mach oben, wo Christus in der Wolke verschwindet; nur die Füße (gehend, schwebend) und der untere Teil des Gewandes sind noch sichtbar.“10 Damit landet auch Alex Stock beim eingangs erwähnten Holzschnitt.
Die homiletische Pointe derartiger ascensischer Bewegung findet sich bei Gregor dem Großen: „Mit Recht wird der Herr Vogel genannt.“11
Was wie eine avantgardistische Metapher aus dem Munde eines Kirchenvaters anmutet, findet seinen Widerhall in der zeitgenössischen Philosophie und der dortigen Art, Begriffe in Bewegung zu bringen:
Wenn man davon ausgeht, dass jeder Begriff „nicht nur in seiner Geschichte, sondern auch in seinem Werden und in seinen gegenwärtigen Verbindungen“ auf andere Begriffe verweist, dann besitzt jeder Begriff „Komponenten, die ihrerseits als Begriffe aufgefasst werden können“.12
Wenn nun diese Komponenten in einem Begriff „unzertrennbar“ sind: „deutlich geschieden, heterogen und dennoch nicht voneinander trennbar“, es also „ eine partielle Überlappung, eine Nachbarschaftszone oder eine Ununterscheidbarkeitsschwelle“ einer Komponente mit einer anderen gibt, und zwar so, dass „etwas von der einen zur anderen“ Komponente übergeht, als „etwas, von dem man nicht weiß, zu welcher es gehört“. Dann kann „jeder Begriff als Koinzidenz-, Kondensation- oder Akkumulationspunkt seiner Komponenten angesehen werden“. Und dieser „Begriffspunkt durchläuft unaufhörlich seine Komponenten, steigt unaufhörlich in ihnen auf und ab“.13 Begriffe sind also in sich „prozessual und modulatorisch“.
So liegt der „Begriff eines Vogels“ beispielsweise „nicht in seiner Gattung oder seiner Art, sondern in der Zusammensetzung seiner Haltungen, seiner Farben und seines Gesangs“, also als „eine Anordnung seiner Komponenten durch Nachbarschaftszonen. Bezüglich seiner Komponenten „befindet sich der Begriff im Zustand des Überfliegens“, er ist „unmittelbar ohne Abstand ko-präsent in allen seinen Komponenten“, er durchquert sie immer von neuem.
Zu Himmelfahrt wird aber auch „eine menschliche Urszene“14 verhandelt. „Im Blick auf die Vögel sehen die Menschen am klarsten, was ihnen im Vergleich zur übrigen Kreatur wirklich abgeht, die Fähigkeit zu fliegen.“15 Die liturgisch Praxis dieses Menschheitstraumes bleibt eine Erfindungsaufgabe: Schritt, Sprung …