Bei ihrer Wanderung durch den dritten Ring des siebten Höllenkreises gelangen Dante und Vergil an die Ufer des blutroten Stromes Phlegethon.
„Schweigend kamen wir dorthin, wo aus dem Wald ein kleiner Fluss kräftig heraus strömt, dessen blutrote Farbe mich jetzt noch erschaudern macht. […Er] ergoss sich abwärts durch den Sand. Sein Boden und die beiden Böschungen waren aus Stein, auch die Ränder daneben; daran erkannte ich, dass hier der Übergang war.“1 So schildert Dante die Situation.
Und sein Begleiter, Vergil, erläutert, was sie sehen: „Mitten im Meer liegt ein verwüstetes Land, das Kreta heißt, unter dessen König die Welt einst unschuldig war. Dort ist ein Berg, der damals überreich war an Wasser und Laub; er hieß Ida. Jetzt ist er verödet wie uraltes Zeug. […] Innen im Berg steht aufrecht ein riesiger Greis; die Schultern wendet er gegen Damiette in Ägypten, sein Blick geht nach Rom wie in seinen Spiegel. Sein Kopf ist aus feinem Gold gebildet, aus reinem Silber Arme und Brust. Dann bis zur Gabelung, ist er aus Kupfer. Von da an nach unten besteht er aus reinstem Eisen, nur sein rechter Fuß ist aus gebranntem Ton, und er steht aufrecht mehr auf diesem als auf dem anderen. Durch jeden Teil, außer durchs Gold, geht ein Riss. Aus diesem fließen Tränen, ihr Lauf stürzt von Fels zu Fels in dieses Tal. Sie bilden Acharon, Styx […]“2 und Phlegethon, den „Feuerfluss“, den „kochenden Blutstrom“3.
Was Vergil hier als Ursprung der drei Höllenflüsse beschreibt, ist die „symbolische Figur des Verlaufs der Menschheitsgeschichte“4. Diese am ganzen Körper weinende Statue eines riesigen Greises vereint zwei Traditionen allegorischer Geschichtsauffassung in sich.
Die eine steht bei Ovid in den Metamorphosen und beinhaltet die Lehre vom Goldenen Zeitalter, das in der Reihenfolge abgelöst wird durch das Silberne, das Kupferne und das Eiserne Zeitalter.5
Die andere findet sich im biblischen Buch Daniel und beinhaltet die Beschreibung und Deutung eines Traumes des Königs Nebukadnezar durch Daniel6. Hier ist auch vom tönernen Fuß7 die Rede.
Unter den 1826 beendeten Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie von William Blake (1757-1827) findet sich die „Von Vergil beschriebene symbolische Figur der Menschheitsgeschichte“ mit Stift, Feder und Aquarell ausgeführt, 52,7 x 37,2 cm groß und mit „HELL Canto 14“ bezeichnet. Das Original gehört in den Bestand der National Gallery of Victoria im australischen Melbourne.
„Vor der nur angedeuteten Silhouette des Berges steht in leichtem Kontrapost die riesenhalte Figur der Menschheitsgeschichte. In ihrer heroischen Nacktheit und dem von einem Strahlenkranz geschmückten Haupt gleicht sie einem antiken Götterbild oder der Statue eines vergöttlichten hellenistischen Herrschers. In der rechten Hand trägt sie die von einem Kreuz bekrönte Weltkugel, in der Linken einen Zepter. Beide Herrschaftszeichen sind im Text nicht erwähnt. Aus dem Körper fließen Tränen, die sich zu kräftigen Strömen verbinden und auf die Erde ergießen. Auf den Oberschenkeln verweisen einzelne tropfenförmige Tränen direkt auf die Formulierung des Textes.“8
Wenn William Blake der Beschreibung Dantes so auffällige Insignien wie die Krone, den Reichsapfel (globus cruciger) und das Zepter hinzufügt, dann zeigt er bildlich seine Sicht der Dinge an: „Der Verfall der Weltgeschichte ist das Resultat politischer Unterdrückung – Königtum und Tyrannei.“9
Weit entfernt vom Inneren des Berges auf Kreta sieht heute eine riesige Statue der Darstellung von William Blake überraschend ähnlich. Sie steht auf Liberty Island im Hafen von New York City. Die berühmte Statue of Liberty (1886 eingeweiht) trägt auch eine siebenstrahlige Krone, jedoch weder einen bekreuzten Globus noch ein Zepter. Dafür trägt sie eine erhobene Fackel und eine Inschriftentafel (tabula insata) mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Zu Füßen der Statue liegen zerbrochene Ketten. Tränen vergießt sie nicht. Die wurden nicht zuletzt auf der benachbarten Ellis Island, der „Insel der Tränen“ vergossen.