Der Film „Bildbuch“ des schweizer-französischen Filmregisseurs Jean-Luc Godard aus dem vergangenen Jahr hat eine gerade für seine deutschen Zuschauer auffällige Besonderheit. Godard spricht selbst Texte, was er seit Jahren tut, aber hier spricht er sie zum ersten Mal selbst auf Deutsch!
Und so beginnt der Film, wie auch der Trailer, (dem noch vorgeschaltet ist, dass er ein Versuch auf Deutsch sei,) mit einem grundlegenden Satz: „Da sind die fünf Finger, die fünf Seher, die fünf Erdenteile, ja, die fünf Feenfinger. Aber alle zusammen formen die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“1
Dazu sehen wir eine Filmsequenz, auf der zwei Hände an einem Schneidetisch Filmmaterial bearbeiten. Dann sehen wir zwei Hände schreiben. Im nächsten Bild sehen wir die Hand einer Skulptur von Alberto Giacometti aus Metall als stehendes Bild. Dann sehen wir ein stehendes Filmbild, auf dem eine Hand etwas vom Boden aufhebt. Schließlich sehen wir ein weiteres stehendes Bild, auf dem eine dunklere Hand direkt am Armansatz einer hellen Hand der dazu gehörigen Person den Puls fühlt.
In Godards Filmen spielen Hände eine auffällige Rolle. Godard filmt Hände. Hände von Männern und Frauen, erkennbar unterschiedlich. Hände, die sich vor blauem Himmel suchen. Hände, die sich berühren. Hände, die um Hilfe greifen. Hände, die einen anderen Körper ertasten. Gelegentlich sind es Godards eigene Hände, die lesen, mit einem Stift oder auf einer Schreibmaschine schreiben. Manchmal filmt Godard auch gemalte Hände, wie die nach oben weisende Hand Johannes des Täufers von Leonardo da Vinci.
Im Unterschied zum Trailer beginnt der Film „Bildbuch“ mit diesem Bild. Dem folgt die Bildsequenz des Trailers auch am Beginn des Films selbst, doch etwas versetzt und verändert. Zu Beginn ohne Ton das Bild von Leonardo in Schwarzweiß. Dann in zwei Teile geteilt folgender Text in weißer Schrift auf schwarzem Grund (auch in der deutschen Fassung in französischer Sprache mit Untertiteln): „Die Herrscher der Welt sollten Bécassine2 fürchten, denn sie ist verschwiegen.“ Darauf folgen einige Sekunden Schwarz und erst darauf die farbigen Hände über dem Schneidetisch. Der gesprochene Text wird hier bis auf den letzten Satz zu dieser Filmszene gesprochen. Der letzte Satz folgt zur Bildsequenz der schreibenden Hände. Es folgen einige Sekunden schwarz. Dann erscheint die Hand der Skulptur, dazu erscheint in Großbuchstaben das Wort: l’image (das Bild), es beginnt Klaviermusik mit Streichern. Das Bild wechselt auf das stehende Bild der Hand, die etwas vom Boden aufhebt, und hinzu kommt ebenfalls in Großbuchstaben das Wort: viendra (wird kommen). Die Musik läuft weiter. Das Bild wechselt auf das stehende Bild der Pulsfühlung. Dazu erscheint in anderer Typografie aber ebenfalls in Großbuchstaben: Oh! Temps (Oh! Zeit). Das Bild steht einige Sekunden, dann geht die Schrift weg, die Musik geht langsam aus.
Im Vergleich zum Trailer der deutschen Fassung, der sich ganz auf die Sätze über die Hand konzentriert, ändert sich zu Beginn des Films nicht nur der rhythmische Zusammenhang zwischen gezeigtem Bild und gesprochenen Wort, es kommen Musik und weitere eingeblendete Worte hinzu. Da ist zuerst der über die Verschwiegenheit der Bécassine, die die Herrscher fürchten sollten. Und dann ein weiterer Text: Das Bild wir kommen, oh! Zeit.
Dieser Satz ist eine gekürzte und leicht veränderte Variation eines anderen Satzes, der bei Godard vor allem in den Histoire(s) du cinéma (1989-1998)3 vorkommt und den er direkt auf Paulus bezieht: L’image viendra au temps de la résurrection. Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen. ‚Zur Zeit der Auferstehung‘ wird hier ersetzt durch den Anruf, Aufruf, Klage (?): ‚Oh! Zeit‘.
In einem Gespräch kommt Godard auf diesen Satz zurück: „Warum die Kirche? Das kommt vom Kino: Das Kino (cinéma) ist westlich, die Idee der Kunst ist westlich, die Idee des Bildes auch. Und das ist hauptsächlich über (à travers) die Kirche gekommen. Lange Zeit habe ich versucht zu verstehen, was dieser Satz des heiligen Paulus sagen will: ‚L’image viendra au temps de la résurrection‘ (Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen). Also wirklich, das, was der heilige Paulus unter Bild versteht, ist nicht dasselbe wie das, was Anne Sinclair4 darunter versteht, wenn sie 7/75 macht.“6
Auf diese kulturkritische Bemerkung kommt Godard in „Bildbuch“ direkt zurück, wenn er dem geschilderten letzten stehenden Bild der Pulsfühlung in anderer Typografie aber ebenfalls in Großbuchstaben: Oh! Temps (Oh! Zeit) hinzufügt. Dieses Bild steht einige Sekunden, dann geht die Schrift weg, die Musik langsam aus – scharf, ohne Übergang wird auf das Gesicht einer Frau geschnitten, deren, vom Zuschauenden aus gesehen rechtes Auge von einer Hand aufgehalten wird und ein Seziermesser auf das Auge zugeführt wird. Erneut Schnitt.
Diese bei Godard mehrfach zitierte Szene aus dem surrealistischen Film „Ein andalusischer Hund“ von Luis Bunuel und Salvador Dali (1929) wird kurz angedeutet und entfaltet bei größter optischer Zurückhaltung dennoch ihren körperlichen Schrecken. Dem wird lediglich eine Richtung gegeben durch den zuletzt eingeblendeten Schriftzug: Archive und Moral. Erst jetzt ist die Eingangssequenz des Films abgeschlossen und „Bildbuch“ beginnt. Man wird anders sehen lernen müssen, wenn das Bild kommen wird, Oh! Zeit.
Auf diese bildlich wie textlich scharfe kulturkritische Bemerkung Godards werden wir zurückkommen, wenn es um das Verhältnis von Hand und Auf(er)stehung geht. Die verbindende Spur zwischen beiden – Hand und Auferstehung – führt uns zunächst auf einen anderen Weg.
In seinem Buch „Noli me tangere“ schreibt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy Händen im Zusammenhang der Auferstehung und ihrer Praxis eine besondere Bedeutung zu und widmet ihr ein Kapitel.
„Auf den meisten seiner Darstellungen in der Malerei gibt Noli me tangere einem bemerkenswerten Spiel der Hände statt: Nähe und Bezeichnung des anderen, eine Arabeske langer, schmaler Finger, Gebet und Segen, Skizzierung einer leichten Berührung, eines flüchtigen Streifens, Anzeichen von Vorsicht oder Warnung. Stets zeichnen diese Hände ein Versprechen nach oder ein Begehren, sich zu halten oder sich festzuhalten, sich gegenseitig zu fassen.“7
Und natürlich gehören die Hände zu Körpern, zu Personen. In der Szene des Noli me tangere sind sie „Zeichen und Anzeichen der Intrige einer Ankunft (von Maria Magdalena) und eines Fortgangs (von Jesus); Hände, die bereit sind, sich zu verbinden, die jedoch bereits getrennt und entfernt sind, ebenso wie der Schatten und das Licht. Hände, die mit Begehren vermischte Grüße austauschen, Hände, die auf Körper zeigen und gen Himmel weisen.“8
Nancy beschreibt die verschiedenen Konstellationen der Hände, ihre möglichen und unmöglichen Berührungen vor der konkreten Szene des Noli me tangere und auch danach. Die malerische Phantasie ist vieldeutig in ihren Andeutungen. In ihnen wird die Praxis der Hände zu einer Praxis der Körper in der Perspektive der Auferstehung und lässt sich „als singuläre Kombination von Distanzierung und Zärtlichkeit, von Segen und Liebkosung verstehen“9. Hierbei verleiht die lateinischen Fassung des nolo als „verneinte Form“ von volo10 eine eigenartigen twist:
„Möchte nicht, denk nicht daran. Tue es nicht nur nicht, sondern, auch wenn du es tust (und vielleicht tut es Maria Magdalena, vielleicht liegt ihre Hand bereits auf der Hand dessen, den sie liebt, oder auf seiner Kleidung, oder auf der Haut seines nackten Körpers), vergiss es sofort. Du hältst nichts, du kannst nichts halten noch festhalten, und dies ist, was du lieben und wissen musst. Eben dies ist ein Wissen aus Liebe. Liebe, was dir entkommt, liebe den, der fortgeht. Liebe, dass er fortgeht.“11
In einem Gespräch12 über seinen Film „Bildbuch“ kommt Godard auch auf die Hände der Eingangsszene zu sprechen. In Bezug auf die erhobene nach oben weisende Hand Leonardos ganz zu Beginn des Films sagt er, dass es sich dabei auch um die Hand handle, die erspürt, aus welcher Richtung der Wind kommt.
Mit der erhobenen Hand konkretisiert sich der kulturkritische Aspekt der denkerischen Praxis der Hände, die das „Bildbuch“ durchzieht: Hände als Zeichen des Auf(er)stehens, als Geste des Aufstandes.
Der französische Kunstwissenschaftler und Philosoph hat ihnen eine ganze Ausstellung gewidmet. Noch vor jeder konkreten Aktion ist das Erheben der Arme und Hände eine aus der Tiefe des Körpers kommende Geste. Sie wirft zunächst einfach eine Last von sich, die nicht mehr ertragen werden will. Diese einfache Geste bricht mit der Gegenwart. Zugleich streckt sie „die Arme einer Zukunft entgegen, die sich öffnet“13. Erhobene Hände erspüren das Kommende.