In dem kleinen toskanischen Städtchen Bagno Vignoni befindet sich, wie der Name schon sagt, ein altes Bad, ein Thermalbad. Es ist der Heiligen Katharina von Siena gewidmet und steht im Zentrum des Filmes „Nostalghia“ von Andrej Tarkowskij. In Tarkowskijs Film wohnen in einem an das Bad angrenzenden Hotel die Kurgäste. Unter ihnen ein russischer Dichter. Er erscheint als lustloser Typ, bis er den merkwürdigen ehemaligen Mathematikprofessor Domenico trifft, der seinerseits vom Ende der Welt besessen ist, mehr noch davon, die Welt zu retten. Zwischen beiden entwickelt sich eine doppelgängerhafte Komplizenschaft. Bei einer Begegnung in seinem Haus bittet Domenico den Russen um einen Gefallen. Er solle eine brennende Kerze von einem Ende des Heilbeckens zum anderen tragen, sie dürfe dabei nicht verlöschen. Er selbst habe es immer wieder versucht, doch die Badegäste hätten ihn immer wieder daran gehindert, aus Angst, er wolle sich ertränken.
Während nun später, gegen Ende des Films, Domenico auf einer Verrücktenkundgebung in Rom am Fuße der Reiterstatue Marc Aurels eine Rede an die Menschheit hält und sich selbst den Flammen übergibt, wird der russische Dichter an seine Bitte erinnert. Er fährt zurück nach Bagno Vignoni. Dort ist das Wasser des Beckens abgelassen, Reinigungsarbeiten haben begonnen. Wie abgemacht entzündet der Russe eine Kerze und versucht, sie durch das Becken zu tragen. Er beschützt die Flamme mit der Hand, doch zweimal bläst der Wind sie aus. Jedes Mal von Neuem beginnend, gelingt es ihm beim dritten Mal, die Kerze brennend durch das Becken zu bringen. Ist die Welt gerettet? Er bricht vor Erschöpfung zusammen. Ende des Films. Die Zuschauer müssen selbst entscheiden.
Tarkowskij war überzeugt, dass immer wieder ausgeführte, ans Absurde grenzende Rituale die Welt retten. Hier nutzt er die alte Tradition nicht nur russischer Christen, die in der Osternacht versuchen, eine kleine Kerze mit dem Osterlicht brennend nach Hause zu tragen, und gestaltet sie gleichzeitig um, nimmt sie aus dem gottesdienstlichen Zusammenhang heraus und versetzt sie in dieses alte Heilbad, aus dem das Wasser bereits abgelassen wurde und auf dessen Grund buchstäblich der Schrott des Lebens herumliegt.
Sieht man mit Dantes Dichtung über dieses Leben hinaus, so wird die erlöste Welt von einem großen Leuchten, einer Überfülle paradiesischen Lichtes (luce) erleuchtet sein. Selbst das Kreuz Christi ist Licht: „Von einem Kreuzarm zum anderen und zwischen oben und unten bewegten sich Lichter. Wenn sie sich begegneten oder überholten, blitzten sie stark auf. Das sah aus wie bei uns die winzigen Staubteilchen, die gerade oder gekrümmt, schnell oder langsam, lang oder kurz bei ständig wechselndem Anblick in einem Lichtstrahl schweben, wie er manchmal in den Schatten fällt, den die Leute, um sich zu schützen, mit Einfallsreichtum und Technik schaffen. Und wie Geige und Harfe in harmonischer Abstimmung vieler Saiten einen harmonischen Ton erklingen lassen, der auch dem süß klingt, der die Tonfolge nicht erfasst, so vernahm man von den Lichtern, die mir dort erschienen, von dem Kreuz her eine Melodie, die mich hinriss, auch wenn ich den Hymnus nicht verstand. Wohl verstand ich dass es ein hohes Loblied war, denn so etwas wie ‚auferstehst‘ und ‚siegst‘ drang an mein Ohr wie zu einem, der hört, aber nicht versteht. Ich verliebte mich so sehr darein, wie bis dahin mich noch nie etwas mit süßen Banden gefesselt hatte.“1
Die kleinen Lichter (lucciola) in diesem Universum finden sich jedoch an anderer Stelle, nämlich im achten Höllenkreis. Das ist der politische Bezirk, „denn man erkennt einige Honoratioren aus Florenz wieder, die sich dort gemeinsam mit anderen als ’trügerische Ratgeber‘ in der Verdammnis versammelt finden. Der ganze Raum ist mit Flämmchen übersät – bestirnt, befallen –, die Glühwürmchen [lucciole] ähneln, wie man sie in schönen Sommernächten auf dem Lande hie und da umherfliegen sieht, in der Willkür ihres sprunghaften, diskreten, flüchtigen Leuchtens.“2
Im Vergleich zu den Dante‘schen Beleuchtungsverhältnissen kommt es zu Beginn der vierziger Jahre des 20. Jahrhundert zu einer kompletten Umkehrung. Der europäische Kontinent, Nordafrika, mehr und mehr die ganze Welt, befinden sich im Krieg. „Auf der einen Seite: die Scheinwerfer der Propaganda, die den faschistischen Diktator mit einem Nimbus von blendendem Licht umgeben; aber auch die starken Scheinwerfer der Flugabwehr, die am dunklen Himmel den Feind verfolgen, die ‚Spotlights‘ – wie man beim Theater sagt – der Suchscheinwerfer, die von den Wachtürmen der Lager aus dem Feind nachstellen. Es ist eine Zeit, in der sich die ‚trügerischen Ratgeber‘ in ihrem Ruhmesglanz sonnen, während sich die Widerständigen aller Art, ob sie nun aktiven oder ‚passiven‘ Widerstand leisten, in flüchtige Glühwürmchen verwandeln, um sich so diskret wie möglich zu geben, während sie unentwegt ihre Signale senden.“3
In dieser historischen Situation, in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 1941, beschreibt der Dantekenner Pier Paolo Pasolini in einem Brief folgende Begebenheit: Im jugendlichen Ungestüm einer mondlosen Nacht in Bologna zogen Pasolini und eine Gruppe von Freunden nach dem Essen „nach Pieve del Pino“ hinauf und haben dort „eine Unmenge von Glühwürmchen“ gesehen. Sie bildeten „Feuerwäldchen in den Sträucherwäldchen“, und „wir beneideten sie, weil sie sich liebten , weil sie einander mit Licht und Liebesflügen suchten, während wir teilnahmslos und lauter Männer auf unfruchtbarer Irrfahrt waren.“4 Auf dem Gipfel dieses Hügels angekommen, schlug die Situation plötzlich um: „Von dort sah man deutlich zwei sehr ferne und wilde Scheinwerfer, mechanische Augen, vor denen es kein Entrinnen gab, und da erfasste uns schreckliche Angst, entdeckt zu werden, während Hunde bellten, und es kam uns vor, als seien wir schuldig, und wir flohen auf dem Bergrücken, dem Hügelkamm.“5 Schließlich ruhten die jungen Leute in Decken gehüllt auf einer Lichtung. Bei Sonnenaufgang tanzte Pasolini allein im Licht, nackt „wie ein leuchtender Wurm“6, ein Glühwürmchen.
Der „Tanz der Glühwürmchen“ ist jener „Moment der Grazie und der Gnade [grâce], der der Welt des Schreckens widersteht“, er ist zugleich „das Flüchtigste und das Fragilste, was es gibt“.7
In seinem eigenen Glühwürmchen-Werden entdeckte Pasolini eine Verkörperung des Widerstandes. Überraschender Weise verbindet Pasolini seinen eigenen Protest mit dem Luthers. Eine Sammlung von Veröffentlichungen, meistens hochpolitische Artikel für italienische Tageszeitungen, betitelt er mit: Lutherbriefe, lettere lutherane.
Auf die Nacht genau vierunddreißig Jahre später, am 1. Februar 1975, veröffentlicht Pasolini einen Artikel in einer großen italienischen Tageszeitung über die politische Situation seiner Zeit. Darin analysiert Pasolini, inwiefern der Faschismus der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhundert in Italien fortgelebt hatte und schleichend zu einem „Verschwinden des Menschlichen“8 führe, das parallel zum „Verschwinden der Glühwürmchen“9 durch Umweltverschmutzung stattfinde. Pasolini geht so weit, diesen „kulturellen Niedergang“ als „kulturellen Völkermord“10 zu bezeichnen.
Menschen wie „Glühwürmchen aber sind verschwunden in dieser Epoche der industriellen und konsumistischen Diktatur, in der sich letztlich jeder wie eine Ware im Schaufenster zur Schau stellt […]. Auf diese Weise wird die staatsbürgerliche Würde gegen ein Spektakel getauscht, das endlos in Geld umgesetzt werden kann. Die Scheinwerfer haben den gesamten gesellschaftlichen Raum besetzt, niemand entgeht mehr ihren ‚wilden mechanischen Augen‘. Und das Schlimmste ist, dass alle Welt damit zufrieden zu sein scheint, da man glaubt, sich wieder schön heraus putzen zu können, indem man von dieser triumphalen Industrie der politischen Zurschaustellung profitiert.“11
Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es von erregender Aktualität und Hellsichtigkeit, wenn der Berliner Theaterregisseur Frank Castorf in seiner Inszenierung der „Brüder Karamasow“ von Dostojewskij, die berühmte Legende vom Großinquisitor von einem Schauspieler auf dem Dach der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, umgeben von den nächtlichen Reklamelichtern Berlins im Zentrum der Konsum- und Warenwelt spielen lässt. Der Schauspieler mit einer glühenden Zigarette in der Hand…
Der französische Philosoph Georges Didi-Hubermann, der den Gedanken Pasolinis und auf ihn Bezug nehmenden Denkern nachgeht, fragt sich allerdings, ob die grelle Beleuchtung der Selbstdarstellung tatsächlich den Menschen zum Verschwinden gebracht hat und die (Licht-) Verschmutzung die Glühwürmchen. Didi-Huberman suchte in Italien auf den Spuren Pasolinis nach Glühwürmchen und findet sie. Kurz darauf waren sie wiederum verschwunden und Huberman entdeckte, dass sie überlebten, indem sie flüchteten und umherzogen. Um sie zu sehen, müsse man mit ihnen in Bewegung bleiben, man müsse sie „in der Gegenwart ihres Überlebens sehen: Man muss sie inmitten der Nacht lebendig tanzen sehen, mag das Dunkel dieser Nacht auch von irgendwelchen wilden Scheinwerfern bestrichen werden. Und sei es auch nur für kurze Zeit. Und mag es auch wenig zu sehen geben: Es braucht an die fünftausend Glühwürmchen, um ein Licht zu erzeugen, das dem einer einzige Kerze entspricht.“12
Im zweiundzwanzigsten Buch seines Gottesstaates, De Civitate Dei, in dem es um die Lage der Engel und Menschen, die Auferstehung und die Seligkeit geht, schreibt Augustinus im 24. Kapitel einen Abschnitt über die Fortpflanzung. Nachdem er ausführlich das angestammte Übel, was zweierlei in sich schließt, nämlich die Sünde und die Strafe, behandelt hat, will er nun (am Ende doch), zum angestammten Gut kommen, das ebenfalls zweierlei in sich schließt, nämlich Fortpflanzung und Arterhaltung. Der Mensch zeuge zwar, nachdem er gefehlt hatte und den Tieren gleichgestellt wurde, nach der Art der Tiere, „nur dass in ihm immer noch der Gottesfunke glimmt in der Vernunft, worin er nach Gottes Bild erschaffen ist“, quaedam uelut scintilla rationis, in qua [homo] factus est ad imaginem Dei.13
Mit seinen Gedanken zu den Glühwürmchen als kleine Lichter öffnet Pasolini, an den rebellischen Impuls lutherane anknüpfend, einen Weg in die Gedankenwelt des Augustinus, der für Luther selbst im Dunklen blieb. In der Verschattung des Menschen durch die Erbsünde glüht ein kleines Licht, eine scintilla. Wohl wissend, dass zur Fortpflanzung ein Begehren gehört, wie beim Leuchten der Glühwürmchen auch.
In einer Predigt über das große Abendmahl bei Lukas14 kommt Meister Eckhart auf die scintilla bei Augustin zurück und nennt sie daz vünkelîn, das Fünklein – unmissverständlich ein kleines Licht. Eckhart sieht darin nicht nur das von der Schöpfung über den Sündenfall hinaus fortdauernde Glimmen der Ebenbildlichkeit, sondern das aktuelle Wirken Gottes in der Seele. Das vünkelîn der sêle ist „eine Kraft in der Seele, die spaltet das Gröbste ab“, es verwandelt, was ihm [Gott] nicht gleicht, „und wird mit Gott vereint“.15 Und Eckhart beschreibt dies Eins-werden der Seele mit Gott als „mehr als die Speise mit meinem Leib“.16 Dann fügt er einen überraschenden Gedanken hinzu: Ein Mensch, der „unausgesagt bleibt“,17 „sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist schon bereit!“18 Dieser Knecht, so sage es Gregor der Große, das sind die Prediger (daz sint prediger), ein anderer sagt, es seien die Engel (die engel). Eckhart scheint, dass dirre kneht daz vünkelîn der sêle, „jener Knecht das Fünklein der Seele [ist], das da von Gott geschaffen ist, und es ist ein Licht, oben eingeprägt, und ist ein Abbild der göttlichen Natur, das immerzu alledem, was nicht göttlich ist, widerstrebt; und es ist eine Kraft der Seele […] und ist unter allen Umständen zum Guten geneigt“, geneiget zu guote.19 Schließlich kommt Eckhart direkt auf Augustinus zurück und erklärt, ihn weiterführend: Augustinus spricht, „dass das Fünklein näher an der Wahrheit ist als alles, was der Mensch lernen kann. Ein Licht aber brennt“, ein lieht daz brinnet.20
Wird es also am Ende darauf ankommen, kleine brennende Lichter – Osterkerzen – von einem Ort zum anderen zu tragen wie in Bagno Vignoni und darauf zu achten, dass sie nicht verlöschen? Glühwürmchen leuchten, um sich gegenseitig zu rufen, ihr Begehren zu signalisieren. So versammeln sie sich. Das vünkelîn in Eckharts Deutung geht schließlich als Knecht auf die Straßen und an die (Grenz-) Zäune hinaus und lädt zu einem großen gemeinsamen Essen. „Wir müssen also – Im Rückzug von Herrschaft und Herrlichkeit, in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft – selbst zu Glühwürmchen werden und dadurch von neuem eine Gemeinschaft bilden, eine Gemeinschaft des Begehrens, der gegenseitig zugesandten Schimmer, des Tanzes trotz allem, der Weitergabe des Denkens. Es gilt also, in der von Schimmern durchzogenen Nacht von neuem Ja zu sagen und sich nicht damit zu begnügen, das Nein des uns blendenden Lichts zu beschreiben.“21
Trotz allem.