Wenn ein Bildschirmbild und die zu seiner Aufnahme hergestellte Realität ihre Verbindung verlieren, erstirbt die Realität. Sie wird durch eine simulierte Scheinrealität ersetzt.
So bei unserem Beispiel1 des Segens in Zoom-Gottesdiensten – ein beliebtes Zeichen der Verbundenheit als Segnung, bei der die Handflächen an den rechten und linken Bildschirmrand so gehalten werden, als würden sie die entsprechend gehaltenen Hände eines anderen berühren, nämlich dessen, der zufällig auf dem benachbarten Bild abgebildet ist – für den, damit auf dem Bildschirm ein gewünschtes Bild entsteht, in der Realität eine völlig absurde Pose eingenommen werden muss.
Genauer betrachtet verdoppelt der Abbruch dieser Verbindung zwischen Bild und Körper jedoch medial einen weiteren, nämlich den Abbruch der Verbindung zwischen liturgischer Geste und Alltagsgeste.
Alle Gesten und Handlungen, die sich im Laufe der Zeit zu liturgischen Gesten und Handlungen verdichtet haben, sind im einfachen alltäglichen Leben begründet: grüßen, zu essen geben, über den Kopf streichen … Das kann man im Neuen Testament nachlesen.
Beide Ebenen sind nicht deckungsgleich. Reißt aber die Verbindung zwischen ihnen ab, höhlt die liturgische Geste aus und erstirbt allmählich. Sie verliert ihre Energiezufuhr aus dem alltäglichen Leben.
Vor diesem Hintergrund wäre eine geeignete Geste des Segens über Zoom z.B. die zum Gruß oder zum Abschied erhobene Hand mit der Handfläche in die Kamera gehalten.
Die Verbindung zwischen Bild und körperlicher Geste wäre hergestellt und diese reale sowie abgebildete Geste wären verbunden mit einer Alltagsgeste, wie man sie im Leben auf der Straße praktiziert.
Rhetorisch-homiletisch entspricht diese Verbindung der zwischen dem privaten und dem öffentlich redenden Menschen. Auch sie sind nicht deckungsgleich. Ist aber die Verbindung unterbrochen, fallen sie auseinander. Der privat sprechende Mensch ist im öffentlichen sprechenden Menschen nicht mehr erkennbar.
Wir sind an diese rhetorische Entfremdung in der Öffentlichkeit und in den Medien gewöhnt, seit öffentliche Rede allein einer sogenannten Medienkompetenz zugerechnet wird. Sie hat verschiedene Stereotypen ausgebildet.
Da ist zum Beispiel der/die Sprechpuppe. Eine öffentlich auf Medien trainierte sprechende Person tritt auf wie eine Kleiderpuppe mit Wink-Elementen: Gelegentliche abgehackte Hand- bzw. Armbewegungen begleiten eine Sprechweise, die ihrerseits von grammatisch sinnlosen, aber Bedeutung und Wichtigkeit suggerierenden Pausen im Sprachfluss ständig unterbrochen wird.
Oder die/der Sprechautomat: Mnemotechnisch hochgerüstet werden immer gleiche Sprachhülsen mit minimalen Verschiebungen in verschiedenen Kombinationen aneinandergeklebt, so dass man nicht dazwischenkommt. Dabei ist der Redefluss in Stimme, Emotion, Mimik und Gestik gleichmäßig auf ein niedriges Temperaturniveau gedimmt bzw. in einer Pose erstarrt.
Derartig Redenden will man nicht recht Glauben schenken. Hinter ihnen ist der Mensch als Referenz, als Zeugin verschwunden. Sie bzw. er ist nicht mehr erkennbar. Die Verbindung zum Menschen ist unterbrochen.
Übrig bleiben medial getrimmte Sprechmaschinen. Der Protodadaist Alfred Jarry wusste, dass, wenn zwei elektrodynamische Maschinen miteinander in Kontakt sind, die mit der höheren Spannung die andere auflädt; wenn nun eine Maschine wirklich Liebe produzieren könnte, dann würde sich die Maschine in den Menschen verlieben2 …
Wer bin ich also, wenn ich auf dem Bildschirm bin? Agiere ich so, wie es die jeweilige sogenannte Professionalität am Bildschirm über seine erfolgreichsten presenter, influencer verlangt? Unterwerfe ich mich ästhetisch dem Diktat der Klickzahlen? Womit bin ich dann verbunden?
Mit dem verwendeten Medium bzw. seiner Plattform. Mit ihnen bin ich umso mehr verbunden, je weniger ich Übersetzungen für entsprechende analoge Verbindungen erfinde. Denn nur auf diese Weise kann versucht werden, die tendenzielle Geschlossenheit dieser Medien und ihrer Plattformen offen zu halten.3
Diese Fragen erhalten ihren eigentlichen Horizont vor der Geschichte und Funktionsweise von medialen Plattformen. Was wir heute – etwas „ratlos“, wie der Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in seiner kurzen Theorie der Gegenwart4 beschreibt – was wir also im allgemeinen Sprachgebrach „Digitalisierung“ nennen, „ist nicht einfach durch die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate und die Diffusion solcher Technologien in alle möglichen sozialen, politischen und ökonomischen Bereiche charakterisiert“.5
Digitalisierung basiert auf „einer wechselseitigen Verschränkung bzw. Verstärkung von Finanz- und Informationsökonomie“. „Informatisierung der Finanzbranche und Finanzialisierung der Informationsökonomie“ bilden schließlich „die Voraussetzung für die Einrichtung und Durchsetzung von Geschäftsmodellen“, die seit einiger Zeit unter dem „Titel einer ‚Internet-‘ oder ‚Plattformökonomie‘“ zusammengefasst werden.6
In seiner Genealogie geht das Internet also nicht nur auf „eine militärisch-industrielle Einrichtung im Zeichen des Kalten Krieg zurück“.7 Zu dieser Vorgeschichte kommen Entwicklungen hinzu, „die von Finanzmärkten und Börsengeschäften über shadow banking und over-the-counter-Handel, über elektronische und computergestützte Handelssysteme bis zur Privatisierung informationstechnischer Infrastrukturen reich[en]“.8
Diese hier nur skizzierten Verbindungen funktionieren qua Benutzung dieser Plattformen sowieso und zwar einschließlich ihrer „Kontrollmacht“9, ihrer „Spiele der Wahrheit“10, ihren „Fabel[n]“11 und der „List [ihr]er ressentimentalen Vernunft“12.
Dabei reklamiert „der kapitalistische Geschäftsverkehr die Rechte des Irrationalen“ für sich. An der Verwendung von Vokabeln die trust – Treu und Glauben – z.B. als Titel für „monopolartige Konzernstrukturen“ wird exemplarisch deutlich, wie „die Rede von Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Überzeugung und Gewissheit von einer Macht des Falschen heimgesucht [wird], die die messianischen und diabolischen Aspekte des Geschehens verwechselbar macht“.13
Nicht, dass man bei Benutzung der Plattformen und ihrer Möglichkeiten nicht in sie verstrickt wäre, das ist unausweichlich. Aber man muss ihnen als Nutzerin und Nutzer nicht vollkommen ausgeliefert sein. Das geschieht dadurch, dass man seine ureigentlichen Verbindungen nicht aufgibt, sondern sie auf den sozialen Plattformen rekonstruiert oder um sie herum erfindet.14
Geeignete Gesten erfinden, wie beispielsweise oben die Segensgeste als einer wie zum Gruß bzw. zum Abschied erhobenen Hand15 , stellt sich also als eine zentrale Herausforderung für die liturgisch-homiletische Arbeit auf online Plattformen heraus. Doch wie macht man das, ohne sich Gesten irgendwie auszudenken? Wie entstehen sie?
Der isländische Tenor Benedikt Kristiánsson hat unter dem Eindruck der ersten pandemiebedingten Schließungen am Karfreitag 2020 in der leeren Leipziger Thomaskirche die Johannespassion aufgeführt und dabei alle Rollen allein gesungen. Die Aufführung wurde live übertragen, die Chöre live über andere Plattformen dazu geschaltet.16
Neben allem anderen, was man dazu sagen kann, stellt diese Aufführung eine außergewöhnliche Laborsituation dar. Man kann Benedik Kristiánsson bei der Erfindung von Gesten zusehen. Von sich selbst sagt er: „Genetisch gesehen bin ich der geborene Evangelist. Meine Mutter war Sängerin, mein Vater Theologe. Deshalb ist diese Partie mir ganz natürlich zugewachsen.“ Auf die Frage danach, ob ihm die Sprache der Lutherbibel in Bachs Werk fremd sei, antwortet er: „Nein, darüber denke ich gar nicht viel nach. Ich finde diese Sprache auch in ihrem Klang sehr schön. Irgendwie romantisch sogar.“17
Für unseren Zusammenhang kommt hinzu: Benedikt Kristiánsson sang auswendig! Er hat sich also automatisch von einer Auftrittskonvention herkömmlicher Evangelisten-Sänger befreit und die Noten weggelegt. So hatte er die Hände frei. Man kann dabei zusehen, wie die Hände beginnen, mitzusingen. Und dies nicht im Sinne einer pathetischen Doppelung des Gesungen, wie man es aus der Oper vielfach kennt, sondern in kleinen Bewegungen, behutsam, diskret und frei.
Man kann Benedikt Kristiánsson bei der Erfindung einer gestischen Praxis zusehen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass er alle Rollen der Passion selbst singt. Und es gelingt ihm, die verschiedenen Rollen unprätentiös und einfach, nicht illustrierend gestisch agierend zu singen. So entstehen Gesten, die aus Sprache und Musik geboren sind. Das ist nicht nur atemberaubend zu verfolgen, es lässt sich als ein Gestenarchiv ansehen und zitieren.
Sehen wir als Beispiel die (eigentlich Sopran-) Arie Nr. 35 „Zerfließe mein Herze“ aus der Johannespassion in einer Einzelaufnahme im Rahmen des Podium Festival Esslingen 2019 genauer an.18
Benedikt Kristiánsson nimmt seine Haltung während des Vorspiels der Arie langsam ein und verharrt den gesamten ersten Teil der Arie in ihr: Die Augen geschlossen, die Arme vorn um den Oberkörper gelegt, sogar leicht nach vorn geneigt, also ganz nach innen gekehrt: „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren dem Höchste zu Ehren.“19
Erst zu den Worten: „Erzähle der Welt und dem Himmel die Not. Dein Jesus ist tot.“20 öffnet er die Augen und mit ihnen die Arme und Hände behutsam zu einer Art kleinen Orantenhaltung, die Hände vorm Oberkörper belassend. Sie erstarrt niemals zur Pose und changiert atmend vom willkommen heißen der Welt zu Beginn bis hin zu erzählenden, fast rhetorischen und schließlich fast betenden leichten Akzentuierungen.
Könnte die erste Haltung des Sängers eine angemessene Haltung für Beten vor der Kamera sein, etwa bei Zoom Übertragungen: Die Augen geschlossen, die Arme vorn um den Oberkörper gelegt, die eine Hand unter dem gegenüberliegenden Oberarm, die andere auf dem anderen ruhend?