Wie „auf Taubenfüßen“ kommen die wichtigsten Fragen ganz leise und oft ganz zum Schluss. So ist es für unseren Zusammenhang auch in der zweiten Folge der legendären Histoire(s) du cinéma, Geschichte(n) des Kinos, von Jean-Luc Godard. Die Folge ist überschrieben mit dem Titel Une histoire seul, Eine Geschichte allein.
Godards Historie(s) du cinéma lassen sich nicht auf einen linearen Diskurs reduzieren. Sie erzählen mehrstimmig, fragmentieren, überblenden, zitieren, montieren. Das geschieht auf mehreren Ebenen zugleich, sich wiederholend, Differenzen schaffend, in Bild und Ton, Kunst, Musik, Dokument und Dichtung, schwarz und weiß, und in Farbe unter Benutzung moderner Videotechnik. Der Rhythmus ist schnell wie bei Videoclips, wenn es auch Dehnungen gibt. Lesen heißt hier Spuren lesen wie man Ähren liest, suchen, sammeln, auch auswählen, wieder verlieren.
Dennoch kann man behaupten, dass in der Folge 1b1 Une histoire seul eines von mehreren Zentren von einem paraphrasierten Paulus-Zitat markiert ist. Es erscheint als Schriftbild in verschiedenen Zusammenhängen: l’image viendra au temps de la résurrection, das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen.
Natürlich muss man diesen Satz nicht nur sehend lesen, sondern auch hörend lesen: L’image viendra oh! temps de la résurrection, das Bild wird, oh! Zeit, [zur] Auferstehung kommen. So ist der Satz zum ersten Mal als Schrift eingeblendet, die Worte langsam zusammengesetzt über dem berühmten Duell des eigenwilligen Liebespaares in der nordamerikanischen Wüste, gespielt von Jennifer Jones und Gregory Peck, das schließlich sterbend einander in den Armen liegt.2
Mit weniger Mehrdeutigkeit, also als Diskurs, ist dieser Satz bei Godard nicht zu haben. Stets ist er verwoben mit Bildern und Klängen. Hier sind es neben Schüssen und Schreien aus dem Originalton der unterliegenden Filmszene, u.a. Ausschnitte aus dem „Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky, Leonard Cohen singt: There ist nothing to follow, there is nowhere to go…
Wenn Godard auf sein Pauluszitat angesprochen wird, reagiert er betont beiläufig: „Wenn ich beim Heiligen Paulus lese, dass das Bild im Moment der Auferstehung kommen würde, sage ich mir: ‚Da ist mal eine Sache, die ich als Cineast zu verstehen beginnen kann‘.“3
Oder etwas ausführlicher: „Ich bin kein Christ, aber wenn ich beim Heiligen Paulus lese, dass das Bild zur Zeit der Auferstehung kommen wird…, ja gut, nach dreißig Jahren der Montage beginne ich zu verstehen. Für mich ist die Montage die Auferstehung des Lebens. Das Drehen ist nicht diese Periode der Auferstehung, denn für eine Wiedergeburt muss es Opfer und Tod geben… Glücklicherweise vollzieht sich das Drehen eines Films in einer bestimmten großen Heiterkeit, die der von Gauklern gleicht. Bei der Montage finde ich eher das Gefühl von Utopie, einer möglichen Auferstehung, die es allerdings mit sich bringt, dass ich allein bin. Das ist zwar schade, aber erträglich.“4
Oder unter einem anderen Blickwinkel: „Der Heilige Paulus hat gesagt: Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen. Man darf das Wort ‚Auferstehung‘ nicht in dem Sinne verstehen, dass der gute Mann Christus in den Himmel aufgestiegen ist. Es geht vielmehr um die Auferstehung von etwas, das vergangen ist. Ein Bild eines toten Bruders kann erst kommen, nachdem man die Trauerarbeit geleistet hat, also in dem Moment, wenn das Bild nicht mehr das Bild des Schmerzes ist…“5
Oder: „Nur das Christentum hat sich derartig mit den Bildern beschäftigt. Der Heilige Paulus hat das ungefähr so gesagt: ‚Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen‘.“6
Wenn Godard an das Christentum erinnert, dann als Geschichte, als bildlicher Ausgangspunkt, denn es kommt bei allen Malern vor. „Wenn ich vom Christentum spreche, dann geschieht das nicht aus Gläubigkeit (croyance), sondern als historisches Phänomen, als Gedankenbewegung (mouvement de pensée).“7
In der Lektüre der französischen Bildwissenschaftlerin Marie-José Mondzain bringt uns Godard hier dazu, den christlichen Grundton der Bildtheorie des Westens neu zu überdenken. In ihrem Zentrum steht die Passion wie auch in Godards Filmschaffen.
„Die Passion wurde zu der Erzählung, die davon erzählt, wie das unsichtbare Bild sichtbar wurde, wie das gefallene Bild gerettet wurde, wie das Opfer eines Körpers zur Ankunft des neugestalteten Fleisches beigetragen hat, das uns in der Form der Verheißung die Hoffnung auf die Wiederkehr zu unserem verlorenen Bild anbieten würde. […] Das anthropologische Fundament dieses Verhältnisses von Passion und Bild ist allerdings nicht religiös, sondern existentiell.“8
Die Geschichte dieses christlichen Denkens erzählt nicht nur den Zusammenhang zwischen dem Bild der Passion und der Leidenschaft der Bilder. Sie erzählt auch – und über lange Zeit vor allem – von der Kontrolle der Bilder und über die Bilder von der Kontrolle der Leidenschaften. In nachchristlicher Zeit lässt sich in der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte ein Instrumentarium zur Kritik bestimmter zeitgenössischer Fragen der Praxis und Kontrolle von Sichtbarkeiten entdecken.9
Godard widmet diesen Fragen, die heute von der Filmindustrie und kommerziellen Fernsehanstalten dominiert werden, ein ganzes Kapitel seiner Histoire(s) du cinéma: Die Kontrolle über das Universum (4a). Dennoch geriet Godard mit seinem Bezug auf Paulus und dessen zeittheologische Implikationen von Auferstehung und Jüngstem Gericht in eine heftige Auseinandersetzung um die Theologisierung der Bilder des Kinos.10
Und als ob es ihm doch um Glauben (croyance) ginge, kommt Godard im Teil 1b seiner Histoire(s) du cinéma mit eigener Stimme (in der französischen Fassung) auf das Christentum zu sprechen: „Das Kino wie das Christentum / ist nicht auf einer historischen Wahrheit gegründet / es liefert uns eine Erzählung / eine Geschichte / und sagt uns jetzt: glaube / miss dieser Erzählung, dieser Geschichte / nicht die Glaubwürdigkeit zu / die der Geschichte zukommt / sondern glaube was auch geschieht / und dies kann nur das Ergebnis eines ganzen Lebens sein / du hast hier eine Erzählung / verhalte dich zu ihr nicht / wie zu einer anderen historischen Nachricht / lass sie eine ganz andere Stelle / in deinem Leben einnehmen.“11
Unmittelbar nach dieser Passage, ungefähr in der Mitte des Filmkapitels, erscheinen die Paulus-Worte erneut als Schrift eingeblendet. Nun sind als Bilder verschiedene Hände zu sehen, dann Filmbilder aus dem Film „Ordet“ (Das Wort) von Carl Theodor Dreyer aus dem Jahre 1955. Schließlich wird der Satz in seiner vollständigen Form l’image viendra au temps de la résurrection eingeblendet, unterbrochen von der Szene, in der das Auge einer Frau mit einem Rasiermesser durchschnitten wird aus dem Film „Ein andalusischer Hund“ von Luis Bunuel und Salvador Dali von 1929. Dazu erklingt eine dramatische Passage aus dem dritten Satz – Die Versuchung des Heiligen Antonius – der Symphonie „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith…
Gegen Ende dieses Kapitels der „Geschichte(n) des Kinos“ ist die Rede davon, dass die Götter geflohen sind und die Dichter singend ihre Spuren verfolgen.12 Dazu erklingt ein Orgelvorspiel von Johann Sebastian Bach, verschiedenste Bilder von Liebespaaren aus Film und Malerei erscheinen und verschwinden wieder, ein Saxophon brüllt dazwischen, ein Engel von Giotto blinkt mehrfach auf, Leonard Cohen singt: if it be your will, when I speak no more, and my voice is still, as it was before…, jemand schreit …
Wir folgen hier nur einigen Spuren im polyphonen Geflecht der Histoire(s) du cinéma und auch das nur unvollständig; doch gerade aufmerksam genug, um zum Ende des Kapitels, im Abspann, kurz von dem obligatorischen „Fortsetzung folgt“, à suivre, unter einem Bild-Klangteppich fast unhörbar, einige Sätze zu erhaschen.
Diese Fragesätze des Philosophen und Filmtheoretikers Jean-Louis Schefer lassen sich wie eine verborgene Botschaft an die real existierende westliche Christenheit hören, die heute mehr denn je mit gefilmten Bildern umzugehen versucht:
„Ist Christus ein Mensch, oder das Bild eines Menschen?
Ist Christus in der Eucharistie real oder symbolisch?
Ist ein gefilmter Mensch ein realer Mensch oder schon die Fiktion eines Menschen?“