Death Valley, Kalifornien. Im Mai 1975 unternahmen der französische Philosoph Michel Foucault und zwei seiner Freunde einen Ausflug. Während eines zweitägigen Aufenthaltes am Zabriskie Point1 und in Höhlen, die an den Roden Crater2 erinnern, setzten sie sich einem Experiment aus. In dieser überwältigenden Wüstenlandschaft nahmen sie eine genau bemessene Dosis von klinischem LSD zu sich, hörten Musik von Charles Yves, Karl-Heinz Stockhausen, aber auch die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss und Stücke von Chopin. Sie waren tagsüber in gleißender Sonne unterwegs, sahen die Venus und den gesamten Sternenhimmel aufgehen bei Nacht.
In einem Interview vom Mai vergangenen Jahres3 erinnert sich der in Harvard promovierte Historiker Simeon Wade an diese schon damals hochumstrittene Erfahrung. Er sei besonders gespannt darauf gewesen, ob und wie sich Foucaults Denken verändern und erweitern würde. Konkret bezog er dies auf seinen Endpunkt, an dem Foucault den Menschen verschwinden sah „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“4.
Hatten nicht zuletzt derartige Erfahrungen gezeigt, dass es „andere Formen des Wissens gibt als die der Wissenschaft“, andere Herangehensweisen an Tod und Endlichkeit als die von Foucault formulierte? Es gäbe sogar Vermutungen, dass Erfahrungen in einer Höhle auf der griechischen Insel Patmos, wie sie sich im neutestamentlichen Buch der Apokalypse niederschlagen, vom „Fliegenpilz amanita muscaria inspiriert“ worden seien. „LSD ist das synthetische chemische Äquivalent zur halluzinogenen Kraft der Fliegenpilze.“5
Foucault jedenfalls hatte damals eine transzendentale Erfahrung gemacht, die ihm viel bedeutete. Er hatte dies vielfach nicht nur brieflich kommuniziert. In seinem Werk sei eine Veränderung der Perspektive wahrzunehmen. Foucault habe in der Folge seiner Erfahrung im Death Valley die Konzeption des zweiten Teiles seiner „Geschichte der Sexualität“ komplett umgearbeitet…6
Wie immer abwegig einem Experimente, Vermutungen, Gedankengänge und –umbrüche dieser Art vorkommen: Endzeitvisionen sind ohne Rauschzustände kaum denkbar. Für die Geschichte des Christentums jedoch war der rauschhafte Bilderreichtum der Apokalypse weniger wirkungsvoll als der darin dargestellte kalte Wahn des Gerichts.
Mit der Vision des Gerichtes als „letzte Instanz“ hat das Christentum eine „neue Form von Macht als Urteilsmacht erfunden: Die Bestimmung des Menschen ist zwar ‚aufgeschoben‘, gleichzeitig aber wird das Gericht eine letzte Instanz“.7
Diese Erfindung kann als eine umfängliche Verschiebung des Christentums wahrgenommen werden: „ Es konnte nicht ein und derselbe Menschtyp sein, der das Evangelium und die Apokalypse schrieb. Es spielt keine Rolle, dass jeder der beiden Texte seinerseits komplex und zusammengesetzt ist und eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge in sich vereinigt. Es geht nicht um zwei Individuen oder Autoren, sondern um die Frage zweier Menschentypen oder zweier Seelenregionen, um zwei völlig verschiedene Gesamtheiten (ensembles)8. Das Evangelium ist aristokratisch, individuell, sanft, voller Liebe, dekadent, noch ziemlich kultiviert. Die Apokalypse ist kollektiv, volkstümlich, unkultiviert voller Hass und wild. Man müsste jedes dieser Worte erklären, um Widersprüche zu vermeiden. Aber schon der Evangelist und der Schreiber der Apokalypse können nicht dieselben sein. Johannes von Patmos zieht nicht einmal die Maske des Evangelisten über und auch nicht die Maske Christi, er findet eine andere, fertigt sich ein andere an, die unserer Meinung nach Christus demaskiert oder sich vor die Maske Christi schiebt. Johannes von Patmos arbeitet mit kosmischem Terror und Tod, während das Evangelium und Christus die menschliche und geistige Liebe bearbeitet. Christus erfand eine Liebesreligion (eine Praxis, eine Lebensweise und kein Glaubenssystem), die Apokalypse liefert eine Religion der Macht – ein Glaubenssystem, eine schrecklich Urteilsweise. Anstelle der Gabe Christi eine unendliche Schuld.“9
Das Ende als Gericht wird hier zum Programm einer Zeitverschiebung als einem Aufschub. „Man sieht sich also vor der Aufgabe, eine monströse, gedehnte Zeit zwischen Tod und Ende, Tod und Ewigkeit auszufüllen. Man kann sie nur mit Visionen ausfüllen: ‚ich schaute, und da…‘, ‚und ich sehe…‘ Die apokalyptische Vision ersetzt die prophetische Rede, die Programmierung ersetzt das Projekt und das Handeln, ein ganzes phantasmatisches Theater folgt auf das Handeln der Propheten wie auf das Leiden Christi.“10
Auf Golgatha11 hat eine Serie von kleineren und größeren Endzeiten begonnen. Noch vor der großen Zeitdehnung hatte Paulus in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher über das Ende geschrieben. Er hatte den „Tag des Herrn“ als „nahe“ empfunden und muss, wenn nicht gewusst, so doch geahnt haben, dass sich in der Frist von Nähe Aufschübe verbergen würden. Das oder den Aufschiebenden nannte er geheimnisvoll katechon12.
Der afrikanische Theologe Tertullian wusste anscheinend noch, was Paulus gemeint hatte. Er identifizierte den bzw. das Katechon mit dem Römischen Reich.13 Und wir Heutigen ahnen die Komplikation dieses Wissens spätestens von dem Moment an, an dem das Römische Reich und eine Römische Kirche ineinander fallen.
In einer Frühjahrsnacht des Jahres 312 hatte ein Römischer Feldherr einen Traum. In ihm fallen persönliche Vision und endzeitliche Erwartung zusammen. Wiederum verschiebt sich das Christentum. Nach der harten Zeit der Verfolgungen von Christinnen und Christen, die sowohl von innen als auch von außen auf der Folie des Gerichtes gelesen werden können, beruhigt sich die Lage vor allem durch die Bekehrung eines Mannes zum Christentum: Konstantin I. Die Geschichte ist bekannt14 und es ist nur konsequent diese Verschiebung als konstantinische Wende zu bezeichnen. Das Christentum wird zunächst zur tolerierten, dann zur privilegierten Religion, schließlich zur ausübenden realen Herrschaftsform. Der Römische Kaiser Konstantin I. war ihr „Vorsitzender“15, der „Kirchenpräsident“16.
Dem Afrikaner Augustinus verdanken wir die Unterscheidung von civitas terrena und civitas dei. Damit löst sich das Ineinander von Kirche und Reich zumindest gedanklich. Im XX. Kapitel seines Buches über den Gottesstaat ist Augustin jedoch nicht mehr klar, wer oder was ein Katechon sei. Er kennt wohl die unterschiedlichen Theorien stellt aber deutlich fest: Ergo prorsus quid dixerit me fateor ignorare / Ich gestehe, dass ich mir ganz unklar bin, was er sagen wollte.17 Die Situation des Reiches hatte sich dramatisch geändert.
Wer oder was auch immer Aufschübe bewirkt hat und bewirkt, sowohl die Idee von Reichen (imperii), die weitergegeben (translatio) werden, wie auch die von dazugehörigen Kirchen hält sich in unterschiedlichen, seriell endzeitlichen Ausformungen bis auf den heutigen Tag. Beide können sich in unterschiedlicher Gegenseitigkeit aufeinander beziehen. Ob in Form eines Imperiums, eines Nationalstaates oder eines Landesfürstentums, so ist ihnen doch eines gleich: sie sind konstantinisch geprägte Modelle von Christentum als Herrschaft.
In der Reformation tritt die Predigt explizit als Herrschaftsinstrument in diesen Zusammenhang.18 In seiner Lesart des Zweiten Briefes an die Thessalonicher des Paulus identifiziert Johannes Calvin den Aufhalter als die Predigt.19 Es müssten erst alle Menschen die Botschaft vernommen haben können, ehe sie dem Gericht überführt werden.
Heute, im Zeitalter des Verkaufs-Geredes hat sich diese Lesart gegen seinen Leser gewendet und/oder ihr eigentliches Ziel gefunden: Reden auf Teufel komm raus. Die Auswirkungen von Calvins Lektüre werden nicht nur als Gezwitscher erschreckend deutlich am präsidialen Realapostel des großsektenförmigen Kommerzchristentums in der brave new world.
Eine andere Tonlage bringt Dietrich Bonhoeffer in die Debatte. In seinen zwischen 1940 und 1943 niedergeschriebenen Manuskripten zur Ethik, kommt Dietrich Bonhoeffer auf das Katechon zurück20. Dies geschieht nicht in den Manuskriptteilen, die sich mit den letzten Dingen beschäftigen, wie es bei Augustin der Fall war, sondern in dem Abschnitt, in dem es um „Erbe und Verfall“ geht. Dieser Abschnitt wurde im Herbst 1940 zu schreiben begonnen und in der Zeit zwischen April und Ende des Jahres 1941 überarbeitet, ergänzt und abgeschlossen. Historische Ereignisse wie der Beginn von Hitlers Vernichtungskrieg, die Deportation der Juden und Bonhoeffers zunehmende Aktivitäten in der Widerstandsgruppe der Abwehr mit Umsturzplänen und ökumenischen Reisen werden diskret aber erkennbar21 im Text verhandelt. Sie bilden den Hintergrund der Schrift bzw. haben ihre Spuren in Randnotizen auf den Manuskriptseiten hinterlassen.22
Bevor Bonhoeffer auf das Katechon kommt, analysiert er seine Zeit und beschreibt sie in vielerlei Hinsicht als Verfallszeit.23 „Losgelassene Gewalten“ tobten sich aneinander aus, alles sei von Vernichtung bedroht. Die abendländische Welt würfe sich „dem Nichts in die Arme“, so dass Christen „untereinander vom nahen jüngsten Tag“ sprechen. Das Nichts auf das das Abendland zutreibe, sei ein „aufrührerisches, gewalttätiges, gott- und menschenfeindliches Nichts“.24 „Der Verlust von Vergangenheit und Zukunft lässt das Leben schwanken zwischen dem brutalsten Genuss des Augenblicks und abenteuerlichem Hasardspiel.“25 Man verwechsle „in verhängnisvoller Weise Stärke mit Schwäche, geschichtliche Bedeutung mit Dekadenz“26. An die Stellt der Wahrheit trete „die sophistische Propaganda“. Alles, „was nutzt“, würde „als recht erklärt“. Angesichts des Nichts würde alles preisgegeben, „das eigene Urteil, das Menschsein, der Nächste“.27
Bonhoeffer kommt zu der Schlussfolgerung, dass „vor dem letzten Sturz in den Abgrund“ nur zweierlei bewahren könne: „das Wunder einer neuen Glaubenserweckung“ oder „die Macht, die die Bibel als ‚den Aufhaltenden‘ […] bezeichnet“28. Dieses/r Aufhaltende ist eine „mit starker physischer Kraft ausgerüstete Ordnungsmacht, die sich den in den Abgrund Stürzenden erfolgreich in den Weg stellt“29. Es setzt dem Bösen seine Grenze, ist nicht Gott und nicht ohne Schuld, aber „Gott bedient sich seiner, um die Welt vor dem Zerfall zu bewahren“, es ist „staatliche Ordnungsmacht“.30 Diese Ordnungsmacht „sieht in der Kirche den Bundesgenossen, und alles was an Elementen der Ordnung noch vorhanden ist“, sucht ihre Nähe. „Dabei erweist sich die Kirche je wirksamer, je zentraler ihre Botschaft31 ist, und ihr Leiden ist dem Geist der Zerstörung unendlich viel gefährlicher als die ihr etwa noch verbliebene politische Macht. […] Sie zwingt die Ordnungsmächte zum Hören, zur Umkehr.“32
In seiner Lesart, unterscheidet Bonhoeffer nicht nur zwischen der Ordnungsmacht und der Kirche, sondern auch zwischen der Ordnungsmacht und dem Reich (s.o.). Der/das Aufhaltende wird zu einer Chiffre des Widerstandes gegen den NS-Staat.33
Mit dem Stichwort, vor allem jedoch mit seiner Praxis des Widerstandes (acte de résistance) hat Bonhoeffer nicht nur eine politische Verschiebung des Christentums eingeleitet. Von hier aus lässt sich eine andere Theorie des Endes bzw. der Endzeiten herstellen. Sie geht ebenfalls auf Paulus zurück und ermöglicht es, „Schluss mit dem Gericht“34 als letzter Instanz oder als Herrschaftsform der Urteilsmacht zu machen.
In seinem Zweiten Brief an die Korinther schreibt Paulus von der „neuen Kreatur“35 , wie Luther übersetzt, der kainè ktisis, der neuen Schöpfung. Und Widerstand (résistance) ist genau das, was den Schöpfungsakt (acte de création) ausmacht.36 Der schöpferische Akt in Kunst, Denken und Wissenschaften leistet Widerstand auf unterschiedlichen Ebenen: gegen herrschende Meinungen, gegen normative Fragestellungen, gegen Rhythmen allgemeiner Gewohnheit, gegen gängige Vorurteile und Klischees. Der schöpferische Akt, insbesondere im künstlerischen Sinne, befreit das Leben aus seinen Gefangenschaften, widersteht der Dummheit. Nicht zuletzt ist der Schöpfungsakt ein Akt des Widerstandes gegen den Tod.37 „Allein der Akt der Widerstand widersteht dem Tod, sei es in der Form eines Kunstwerks oder in der Form eines Kampfes der Menschen.“38
Nun erschöpft sich ein Schöpfungsakt nicht in seinem Widerstand gegen äußere Gewalt, sondern birgt in sich einen Akt des Widerstandes.39 Aristoteles hatte den Schöpfungsakt mit den beiden Begriffen Potenz und Akt erklärt, so dass, man zu dem Schluss kommt: „Wer über eine Potenz verfügt, kann sie aktualisieren oder nicht aktualisieren.“40
Das Eigentümliche dieser Formel besteht darin, dass sie die Potenz über die Nichtausübung des Aktes definiert. Die Potenz existiert nicht nur im Akt, sondern auch in der Nichtausübung des Aktes. Ein Architekt ist auch Architekt, wenn er nicht baut. Aristoteles geht so weit, dass er schreibt: „Die Impotenz (adynamia) ist eine der Potenz (dynamis) entgegengesetzte Privation. Jede Potenz ist Impotenz desselben und in Bezug auf das Selbe (dessen Potenz sie ist)“.41 Impotenz ist also nicht die Abwesenheit von Potenz, sondern „Potenz-nicht-zu (nicht zum Akt überzugehen), dynamis me energein.“42
Demnach ist der Schöpfungsakt also nicht ein „Übergang der Potenz in den Akt“, sondern in jedem Schöpfungsakt selbst gibt es etwas, was sich dem Übergang widersetzt.43 Ein Schöpfungsakt ist also immer der Übergang einer Potenz-zu in einen Akt und zugleich der Widerstand gegen diesen Akt, also von derselben Potenz-nicht-zu. Diese „Doppeltstruktur“ kennzeichnet jeden authentischen Schöpfungsakt. Er ist immer „Begeisterung und Widerstand“, Inspiration und Kritik“. Keines kann das andere beherrschen, weder das Nicht-zu das Zu, noch umgekehrt. 44
Vielleicht besteht darin der Sinn der Äußerung von Gilles Deleuze, (dessen Gedanken wir hier folgen,) Bartleby sei der „neue Christus oder unser aller Bruder“? 45 Bartlebys berühmte Formel ist die wiederkehrende, ja erschöpfende Antwort auf Fragen seines Arbeit gebenden Anwalts – I would prefer not to – ich würde es vorziehen nicht zu…
Christentum ist nicht Gericht, sondern neue Schöpfung!