Das Prinzip der Spiegelung der Artikel des Kleinen Katechismus Martin Luthers in seinen Katechismus- Liedern in umgekehrter Reihenfolge kommt hier an sein Ende. An diesem Ende gibt es kein im klassischen Sinne Katechismus-Lied, sondern als Beichtlied steht dem Text über die Zehn Gebote Luthers seine berühmte Nachdichtung und Vertonung des alttestamentlichen Psalms 130 „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ (1523/24) gegenüber.

Damit zieht in unsere Kommentarreihe zum Kleinen Katechismus am Schluss noch ein weiteres, anderes Register ein, das Psalmlied. Als solches öffnet es die alten Begriffe Schuld, Beichte und Buße. Sie sind in ihrer Tendenz zur moralischen Engführung heute oft schwer verständlich und in ihrer Schwere sicher Luthers augustinischem Pessimismus geschuldet. Doch der alttestamentarische Horizont stellt sie in die Weiten geballter Lebenserfahrung, der nichts fremd ist, und der einen heutigen Blick ermöglicht. Um es mit Franz Fühmann zu sagen: „So handelt der Mensch, und nun sieh du dich an!“[1].  

Bevor dieses Lied seinen liturgischen Ort in der allgemeinen Beichte und am Buß- und Bettag fand, wurde es als Begräbnislied im Angesicht einer oder eines Toten am Grab gesungen.  Damit wird die Gemeinsamkeit der drei genannten theologischen Begriffen herausgestellt: Es ist ihr Bezug zum Tod und zu Todeserfahrungen jeglicher Art. Diese werden in ihrer Komplexität von Luthers Lied direkt aufgenommen und zum Ausdruck gebracht.

Damit tritt seine eigentliche Funktion zu Tage, die vielleicht mit dem Sinn des Christentums überhaupt zusammenfällt:  Die Umwandlung von Schmerz. Luthers Psalmlied „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ ist eine Liturgie zur Umwandlung von Schmerz.

Aus der Tiefe, dich vergessen,

ruf ich dich.

Aus der Tiefe

aus dem gähnenden Abgrund

aus dem qualmenden Fetttopf, der riechenden Bettstatt

aus rosengeschmückten

lilienüberwucherten Fallgrube

aus dem betäubenden Tal der Vertuschung

wo an ihre silbernen Räder

gekettete Kinder –

mit zugenähten Lippen

murmeln

und gerade noch rufen und wüten

dann wieder Gemurmel:

Was hat uns verlassen oder wer

ich würde es nicht wissen.

Aus der Tiefe, dich vergessen,

ruf ich dich.

Aus der Tiefe lichtscheu

dicht geschrieben –

müde und hustend

weiß nicht, wie lang noch,

hört nicht den Flötenton

den Schrei der Möwen

ein Wort und noch eins

einen Trompetenstoß;

irgendwie unglücklich weint um seinen Vater

eine Mutter einen Hund einen Geliebten

einen Gott

würde gern rufen

aber ruft nicht.

Aus der Tiefe, dich vergessen,

ruf ich dich.

Aus ihren kupfernen Zinnen

Wassergold strömenden

aus dem Staubgold stiebenden Abgrund

aus ihrem gestohlenen Abgrund

aus ihrem zugeschütteten Haupt

aus ihren verloschenen Vulkanen

aus ihrer leer geraubten Landschaft

aus ihrem entleerten Bildersturm-Himmel

aus ihrem verbrannten Haus

hinter dem Sklavenlächeln

tödlich schweigend

hinter ihren Bettleraugen

schwarz unerreichbar

doch noch das Licht nicht vergessen

den Stern des Morgens

aus ihrer Scham, dem Wahnsinn, der Missgeburt

mit ihren Scherbengesichtern

Splittern von Mündern

Beinahe-Worten von Menschen

rufen sie –

und du wirst nie mehr fragen:

Wer hat mich gerufen.

Aus der Tiefe, gottverlassen,

ruf ich dich.

Aus Wörtern Worte windend

wie ein Wurm aus der Tiefe

und kein Mensch mehr

so die Stimme meines Rufens.

So wie eine vor Durst beinah Sterbende

kriecht durch das Feuer

so wie in der Hitze die ersten Tropfen

fallen vom Platzregen

so die Stimme meines Rufens

wo wie hinter den Bergen

aufglüht die Sonne

wo wie plötzlich über die Mauer der Nacht

das Morgenlicht springt

so die Stimme meines Rufens.

Aus der Tiefe, dich vergessen,

ruf ich dich.

(Huub Oosterhuis, Psalmen, 130A)