Kurz vor seinem Tod im Oktober 2022 führte der französische Soziologe Bruno Latour eine Serie von kurzen Gesprächen auf arte (2021). Er hatte sich über die Gelegenheit gefreut, sich noch einmal konzentriert und sehr persönlich zu den wichtigsten Themen seiner Arbeit zu äußern. In der siebenten Folge mit dem Thema „Über religiöse Rede“ kommt Latour im Gespräch mit Nicolas Truong auf die Enzyklika „Laudato si‘“ zurück und beschreibt, worin er ihre Bedeutung sieht. Sie eröffne nämlich der Kirche eine „enorme Chance“. Worin besteht sie?
„Die aktuelle Umweltfrage nimmt die Theologie, die sich über 300 Jahre auf die Welt des Spirituellen beschränkte, in die Pflicht, Stellung zu beziehen. Die Wissenschaft beanspruchte ihre eigene Hegemonie und versucht, die Hegemonie der Religion zu verdrängen. Den armen Religiösen blieb nur noch das Übernatürliche. Es ist extrem schwierig, Bischöfen und Priestern zu erklären, dass die Umweltfrage eine enorme Chance für die Kirche ist, um zu den ursprünglichen Themen der Kirche zurückzukehren. Man nennt das: Inkarnation. Das heißt, es geht um die Erde und nicht um den Himmel. Das ist ein altes Thema der Kirche, das aber verloren ging. Die Umweltfrage soll jetzt nicht zur neuen religiösen Ideologie werden, aber sie eröffnet neue Chancen. Die Umweltfrage bringt etwas ganz Neues mit sich. Nämlich diese außergewöhnliche Verbindung, die in einer laizistischen Welt undenkbar ist, die Verbindung des Schreies der Armen und des Schreis der Erde[1]. Das ist großartig und Sie [Nikolas Truong] taten gut daran, diesen Satz zu zitieren. Der Kosmologie der Modernen war dieser Ansatz fremd. Die Erde schreit nicht und die Armen werden nicht gehört. Wobei es hier um die sozial Benachteiligten geht, nicht um die „Armen“ im theologischen Sinne. Die Umweltfrage eröffnet also neue Möglichkeiten. Sie bringt eine Neuorientierung in den Wertvorstellungen und bietet somit neue Chancen. Ich sage den Theologen: ‚Sie haben großes Glück. Schauen Sie: Seit 150 Jahren fragen Sie sich, ob die Kirche modernisiert werden muss. Jetzt geht die Moderne vor Ihren Augen zu Ende.‘ Die Frage nach der Modernisierung wird also hinfällig, es gibt keine Moderne mehr. Wir alle sind uns einig, auch wenn nicht alle Christen sind, dass die Moderne endet. Wir versuchen die politischen Werte zu retten. Und die Kirche hat das Glück, wenn ich so sagen darf, die Moderne sterben zu sehen, die sie bekämpfte, mit der sie nicht umgehen konnte. Jetzt kann die Kirche ein völlig neues Gedankenumfeld schaffen. Sie kann zu ihrer Tradition zurückkehren, zu einem Gott, der Mensch wurde, der zur Erde, zur Schöpfung gehört. Er nimmt an der Schöpfung teil, er ist Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen. Jetzt kann die Theologie sich neu positionieren. Vielleicht auch beim Thema der Jungfrau Maria. Denn in der Theologie wurden Projektionsflächen angehäuft, die sicher aus guten Gründen entstanden sind. Doch diese Gründe sind mittlerweile einige Jahrhunderte alt. Der Papst erfand nun einen neuen Mythos. Doch viele Priester und Kardinäle sehen diese neue Sicht mit Argwohn. Die ‚Schwester Erde‘. Was soll ein Priester damit anfangen? Ein Papst, der von ‚Schwester Erde‘ spricht, das ist befremdlich. Doch es eröffnet eine neue Chance. Das ist eine sehr weit gefasste Version der Umweltfrage. Es ist eine Chance auf die Erneuerung der Zivilisation. Die Zivilisation der Moderne war schlecht, denn sie führte in diese Sackgasse. Die ökologische Frage bietet nun die Chance einer neuen Zivilisation.“[2]
In seiner anthropologischen Untersuchung der Moderne, also unserer westlichen Welt, die er wie ein Ethnologe erforschte, um ihr auf die Schliche zu kommen[3], stellte Bruno Latour fest, dass entgegen der Behauptung, Religion überwunden bzw. säkularisiert zu haben, sie doch in den „recht wirren Fragen nach dem Ende, den Zielen, der Endlichkeit, der Unendlichkeit, des Sinns, des Sinnlosen“[4] immer noch präsent ist.
Allerdings hatte sich die „gesamte Religion, oder jedenfalls das Christentum samt seinen vielfältigen Varianten“[5], in ihrem [seinem] absoluten Wahrheitsanspruch unter dem Druck konkurrierender Wahrheitsansprüche von Wissenschaft, Politik und Recht immer mehr dahingehend verfälscht, „die körperlosen Seelen der Menschen von ihren sündhaften Bindungen an die Erde zu erlösen“[6].
Mit anderen Worten: „Die Inkarnation wurde zu einer Flucht vor allem Fleischlichen in ein fernes, körperloses, rein geistiges Reich verfälscht. Als wäre das Natürliche nicht schon Plage genug, missbrauchten Generationen von Priestern, Pastoren, Predigern und Theologen die Heiligen Schriften, um über der Natur einen Bereich des Übernatürlichen zu errichten.“[7]
Darüber ist nun das Entscheidende, worin heute die „enorme Chance“ des Christentums bestehen könnte, in Vergessenheit geraten: „Während sie in diese übernatürliche Welt zu emigrieren suchten, bemerkten sie nicht, dass das, was sie ‚ablegten‘, nicht die Sünde war, sondern all das, um dessentwillen ihr eigener Gott nach ihrem eigenen Bericht seinen eigenen Sohn hatte sterben lassen, das heißt die von ihm geschaffene Erde. Sie mussten vergessen haben, dass eine andere Bedeutung des Wortes ‚Ökologie‘ – um die schöne fiktive Etymologie von Jürgen Moltmann aufzugreifen[8] – oikos logou lauten könnte, also Haus des Logos – eines Logos, von dem es im Johannesevangelium heißt, in ihm ‚sind viele Wohnungen‘ (Joh 14,2).“[9]
Und Latour konkretisiert das Bild der vielen Wohnungen dahingehend, „dass wir alle diese Wohnungen gleichzeitig bewohnen müssen, wenn wir die Erde besetzen, oder vielmehr: uns von der Erde besitzen lassen und uns um sie kümmern wollen. Der Kosmos hat es nicht nötig, dass man in ihm den Ruhm Gottes verbreitet, im Gegenteil: Was er braucht, ist eine Religion, die sich selbst Grenzen setzt und sich mit den Wissenschaften und der Politik zu verbinden lernt, um dem Begriff der Grenze wieder einen Sinn zu geben.“[10]
Und genau an diesem Punkt hatte Bruno Latour die Hoffnung fast aufgegeben, nämlich an der Lernfähigkeit der Kirchen, ihren absoluten Wahrheitsanspruch als einen Typus unter anderen zu erkennen, der es erst ermöglicht, mit anderen „Typen des Wahrsprechens“[11] Verbindungen einzugehen. Bei der Lektüre der Enzyklika „Laudato si‘“ schöpfte er Hoffnung als er feststellte, „dass hier das Hohelied der Kreaturen angestimmt und die Erde als ‚Mutter‘ und ‚Schwester‘ angesprochen wurde“[12].
Für die aktuellen von Verwaltung dominierten Theologien stellen die Überlegungen Bruno Latours eine enorme Herausforderung dar. Sie lässt das Christentum als ebenso fragil und verletzlich erscheinen, wie die Erde und die Menschen selbst. Es geht darum, das Christentum als „Geheimnis eines Gottes, der sich als wehrloser Säugling den Menschen anvertraut“[13] zu beschreiben und zu leben.