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Eine agnostische Lektüre

Denken gehört zu Predigt und Liturgie wie die Arbeit an Sprache und Manuskript und das Üben an Sprechen und Auftritt.
Lesend macht sich das Denken auf den Weg. Es gewährt damit zugleich einem Begriff Einlass in seinen denkerischen Vollzug, der einer schlichten aber auch einer komplex lehrhaften Wiederholung meist entgeht: die Differenz.

Jene kleinen Verschiebungen, Abweichungen, Unterwanderungen von dem, was man gewohnt ist – also immer nur erkennt, weil man es schon kennt – bilden den entscheidenden Unterschied zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.

Auf diese kleinen Unterschiede wird es ankommen!Unterwanderungen – ein Blog von Dietrich Sagert

Ausgehend von seinen Erfahrungen als Anthropologe, der die Kosmologien der Indigenen des Amazonas erforscht, beschreibt der Brasilianer Edouardo Viveros de Castro seine Lektüre der Schrift „Laudato si‘“ als eine agnostische Lektüre. Dabei will er agnostisch zugleich als anti-gnostisch verstanden wissen.

Der Amazonas ist nach der Arktis die zweite mineralhaltige Region der Welt. Mit 5 1/2 Millionen Quadratkilometern – und damit halb so groß wie Europa – ist er das größte tropische Gebiet der Welt. Er ist das gelobte Land der Bio- und Soziodiversität des Lebens in wildem, d.h. nicht gezähmten Zustand. Die dort lebenden menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner sind noch sehr wenig erforscht. 60 Prozent des Amazonas liegen in Brasilien und dort lebt die weltweit größte Anzahl von autochthonen Gemeinschaften, die als isoliert klassifiziert sind und somit nicht von einem souveränen Staat erobert oder unterworfen leben. Dieser Amazonas ist bedroht von einer ökologischen Katastrophe deren menschengemachten Anteile auf illegalen Holzabbau, verdecktes Goldschürfen, die Ansiedlung transnationaler Petrol- und Bergbauindustrie, großflächige Entwaldung, Wildjagd und monokulturelle Landwirtschaft zurückgehen. Das alles für den Export, d.h. für Europäer, Amerikaner und Chinesen am anderen Ende der Ausbeutungskette.

Die indigenen Völker im heutigen Brasilien sind bedroht von kultureller Auslöschung, nicht erst seit die letzte Regierung auch vor physischer Vernichtung nicht zurückschreckte. Der gigantische Ökozid ebenso wie der Ethnozid begann mit der sogenannten Entdeckung des südamerikanischen Kontinentes vor fünfhundert Jahren mit derartigen Folgen, dass die Ideologien verschiedener Regierungen soweit gingen, die Ureinwohner Brasiliens als Eroberer darzustellen, die die nationale Sicherheit bedrohten. Eine besondere Ironie besteht in der Tatsache, dass nicht erst die letzte rechtsextreme Regierung Brasiliens sich als christlich deklarierte und mit zweimal mehr evangelikalen Wählerstimmen (vor allen von Neo-Pfingstlern) als der Gegenkandidat gewählt wurde. Die katholischen Stimmen waren gleichmäßig zwischen beiden Kandidaten verteilt.

De Castro fasst die Einführung in den Rahmen seines Vortrages folgendermaßen zusammen: „Genozid, Ethnozid und Ökozid, alle drei im Gange und alle drei im Namen Gottes.“[1]

Nach dieser einleitenden Analyse spricht de Castro über seine Lektüre der Enzyklika „Laudato si‘“ und bemerkt, dass er sie für ein „revolutionäres Dokument“ hält, vergleichbar mit der Enzyklika „Pacem in Terris“ von Johannes XXIII. aus dem Jahr 1963. Man könne „Laudato si‘“ auch „Frieden mit der Erde“ nennen. Wie sich Johannes XXIII. sich einer nuklearen Bedrohung gegenübersah, so sieht sich Franziskus einer klimatischen Bedrohung gegenüber.

Zweifellos markiert die Enzyklika von Franziskus in der Lesart von de Castro eine entscheidende Wende in der katholischen Lehre vom Verhältnis der Menschen (humains) zu ihren materiellen Existenzbedingungen indem sie sowohl diese Bedingungen als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen einschreibt in die wechselseitigen Abhängigkeiten (interdépendance), die das Gewebe des irdischen Lebens (tissue de la vie terrestre) bilden.

Dennoch erfasst de Castro eine „geo-theologische Unruhe“ angesichts der Enzyklika. Sie führt ihn zu seiner theoretischen Hauptfrage: Ist die in der Enzyklika hergestellte Distanz zwischen dem christlichen Anthropozentrismus und dem in der Enzyklika angeprangerte modernen Anthropozentrismus überzeugend? „Laudato si‘“ schlägt einen Kompromiss vor zwischen Immanenz und Transzendenz, der im Verhältnis zur traditionellen christlichen Theologie insofern „impulsiver“ ist, als die Inkarnation Gottes sich nicht mit seiner Menschlichkeit zufriedengibt, sondern alles Leben heiligt. De Castro erinnert an eine Passage aus dem Alten Testament, die auf die erste große Klimakatastrophe, die Sintflut, folgt. Und er zitiert Genesis 9, 9: „‘Und Gott spricht zu Noah‘ – ich zitiere Gott – ‚Siehe, ich richte mit euch einen neuen Bund auf und mit euren Nachkommen und mit allem lebendigen Getier bei euch an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren auf Erden bei euch, von allem, was aus der Arche gegangen ist, was für Tiere es sind auf Erden.‘“

In dieser Spur sieht de Castro die Enzyklika arbeiten und vermutet, dass sie für konservative katholischen Theologie einen Schlag ins Häretische hat, indem sie mit den wirtschafts- und sozialkritischen Tendenzen der Theologie der Befreiung flirtet, wie auch mit pantheistischen und heidnischen Kompromissen. Dennoch konzentriert sich seine Lektüre auf zwei Punkte, die ihm strategisch wichtig und kosmopolitisch erscheinen.

Der erste Punkt besteht in der Frage, ob die Begriffe Transzendenz und Eschatologie, wie sie in der Enzyklika verwendet werden, stark genug sind, um dem „ökozidalen Apokalyptismus“ der evangelikalen Bewegung, die sich wie ein Tsunami über diese weite Gegend der Welt ergossen hat, entgegenzutreten. „Vergessen wir nicht, dass eine starke Theologie der Leugnung des Klimawandels (négationisme climatique) in der neo-pfingstlichen Bewegung (mouvance néo-pentecôtiste) gibt. Sie ist nicht nur eine Theologie der Leugnung des Klimawandels, sondern eine theologisch motivierte Opposition jeder Initiative, Bewegung, Altersgruppe oder Berufsgruppe gegenüber, die von der ökologischen Katastrophe als etwas spricht, das es zu bekämpfen gilt. Denn diese Theologie sehnt genau diese Katastrophe herbei und erwartet in ihr das Ende der Welt. Das will man nicht aufgehalten wissen von irgendeinem Katechon, wie z.B. indigene Stämme des Amazonas, deren Mitglieder daran glauben, dass ihre Schamanen den Fall des Himmels auf die Erde oder deren Aufstieg in den selbigen verhindern. 

Der andere Punkt betrifft in der Frage, ob der Begriff Immanenz und die ökologische Dimension, wie sie in der Enzyklika verwendet werden – sie predigt eine „Theologie der Nüchternheit“ (théologie de la sobriété) – genug Überzeugungskraft hat gegenüber einer „Theologie der Prosperität“, wie sie von den Vereinigten Staaten aus verbreitet wird. Ebenjener „evangelikal-kapitalistischen Resonanzmaschine“, von der der Philosoph William Connolly spricht, d.h. jener finsteren politischen Konvergenz zwischen den Massen, die das Armageddon herbeiwünschen und den Eliten, die sich bis an die Zähne bewaffnen, um ihre klimatisierten Bunker zu verteidigen oder sie sich darauf vorbereiten, die Erde [in den Weltraum] zu verlassen und sie ihrem Elend und Chaos zu überlassen.

Beide Punkte sind von konkreter politischer Bedeutung, weil ihre Träger danke ihrer “Fähigkeit zur Konversion“, ihre Mobilisierungskraft durch soziale, ökonomische und psychologische Kontinuität gegenüber der Katholischen Kirche bald die Mehrheit in Brasilien auch politisch bestimmen werden.

Nun findet sich aber in der Enzyklika „Laudato si‘“ (146, 169) eine besondere Beachtung der Werte der autochthonen Völker nicht nur, weil sie von der kapitalistischen Gier und Korruption bedroht sind, sondern weil ihre Traditionen Beispiele für Respekt und Liebe zur Erde sind, von denen sich die Christen inspirieren lassen sollen. Im Abschlussdokument (§ 9) der Amazonassynode wird diese Perspektive im Sinne einer „kulturelle Konversion“ (conversion culturelle) verstärkt in Richtung der „immanenten spirituellen Kräfte, die die indigenen Völker in der Schöpfung identifizieren“: „Die Suche der indigenen Völker des Amazonas nach einem erfüllten Leben konkretisiert sich in dem, was sie gutes Leben nennen (bienvivre) und ist vollständig in den Seligpreisungen realisiert. Dabei geht es um ein Leben in Harmonie mit sich selbst, mit der Natur, mit den Menschlichen Wesen und mit dem höchsten Sein (être suprême), denn es gibt eine Kommunikation (intercommunication) mit dem gesamten Kosmos, wo es weder Ausschluss (exclusion) noch Ausgeschlossene (exclus) gibt und wo wir ein erfülltes Leben für alle schaffen können. Ein solches Verständnis des Lebens ist charakterisiert von Verbindung (interconnexion) und Harmonie zwischen dem Menschen, dem Territorium und der Natur, dem gemeinsamen Leben und der Kultur, und zwischen Gott den verschiedenen spirituellen Kräften.“ Und de Castro schlussfolgert, dass im Abschlussdokument der Amazonassynode die aus Sicht des christlichen Gottes nichtgöttlichen spirituellen Kräfte mehr oder weniger legitimiert sind.    

Das komplexe Verhältnis der christlichen Theologie zur Immanenz oder eher das Verhältnis zwischen der Immanenz, der Transparenz und den verschiedenen Bedeutungen, die die Dimension des Übernatürlichen in der christlichen Theologie und in den vormodernen oder antimodernen Kosmologien spielt, lässt sich dann auf folgende Frage zuspitzen: „In welchem Maße ist die christliche Theologie bereit, das, was man in schlechter Gewohnheit Animismus nannte, zu reaktivieren?“

Was das bedeutet, lässt sich zunächst am Begriff Anthropozentrismus verdeutlichen.[2] In der traditionellen christlichen Theologie – und in dieser Hinsicht bleibt die Enzyklika „Laudato si‘“ auf dieser Linie – steht der Mensch hierarchisch an der Spitze der Schöpfung. Das enthebt ihn in der Perspektive der Erlösung seiner Animalität. Weiter noch ist im Reich Gottes, der christlichen Eschatologie, „die gesamte Biodiversität vernichtet, lediglich impassible, subtile und agile Körper der auferstandenen Menschen sitzen an der Seite der Engel vor dem Thron Gottes“.[3]

Eine Fortsetzung dieser „engelsförmigen Anthropologie“ findet sich nach de Castro in der „technopolitischen Religion“ des Silicon Valley. Sie verspricht, „den Menschen von seiner organischen und animalischen Plattform zu befreien und ihn in einer digitalen Wolke unsterblich zu machen“. Oder – in einer bescheideneren Version – verspricht sie, den Menschen „aus seinem planetarischen Gefängnis zu befreien und den unendlichen Weltraum zu kolonialisieren“. Vielleicht liegt hier „eine metaphysische Affinität zwischen Angelologie und Kolonialismus“ offen zu Tage – fragt sich de Castro.

Bei genauerem Hinsehen liegt also der christliche Anthropozentrismus dem modernen Anthropozentrismus, der in der Enzyklika als maßlos (démesuré) kritisiert wird, zugrunde und zur Seite. Indem die christliche Anthropologie eschatologisch jegliche Animalität des Menschen auslöscht und jeglichem nichtmenschlichen Leben (à tout vivant non-humain) kategorisch die Bedingungen personalen Seins (la condition d’etre personelle) verweigert, bietet sie weder metaphysisch noch politisch einen Ausweg aus der Situation, die man Anthropozän nennt.

Einen Ausweg sieht Edouardo Viveros de Castro in der „indigenen-antimodernen“ Ausweitung (extension) der Kategorie der Humanität auf alles, was existiert: Auf eine virtuelle Weise werden die nichtmenschlichen (non-humains) als menschlich (humains) angesehen und die entsprechenden Eigenschaften nicht exklusiv auf den Menschen beschränkt.

Entgegen der cartesianischen Devise „Ich denke, also bin ich“ würde das amerindianische[4] Cogito – das der „indigenen-antimodernen“ – vielmehr heißen: „Er ist, also denkt er“ (il est donc il pense)“. Niemand besitzt bzw. besetzt die Rolle eines universellen Substrates des Seins, auch der homo sapiens nicht. Seine Spezialität besteht darin, eine Person zu sein, die sie selbst wahrnimmt (la personne qui se perçoit elle-même). Im Gegensatz zum Anthropozentrismus ist hier das Gemeinsame, was Menschen und Tiere (animals) haben, nicht ihre Animalität, sondern Menschen (humains) und Tiere haben ihre Humanität gemeinsam. Das, was Pflanzen, Tiere, die anderen Arten und die Götter gemeinsam haben, ist Humanität.     


Referenzen

  • Eschatologisation de l'immanence ? L’Amazonie comme terre promise ; der Vortrag liegt nicht in deutscher Übersetzung vor, deshalb halte ich mich eng an den Wortlaut. Alle Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, aus der genannten Quelle, die auf youtube verfügbar ist.
  • Wir kommen auf den Begriff Animismus in diesem Zusammenhang und weitere Aspekte dieser Frage in weiteren Einträgen dieses Blogs zurück.
  • Darin sieht de Castro den gnostischen Affekt, dem er zu Anfang entgegentritt.
  • Vgl. Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalistische Metaphysiken, Berlin 2019, S.30.