Worin besteht der Grund für die enorme Wirkung des Franz von Assisi bis heute? Warum wirkt ein Bezug auf ihn, der sich mit seinem sint minores et subditi omnibus [1] radikal auf die Nachfolge (imitatio) Christi konzentrierte, bis heute impulsiv?
Der Romanist und Literaturwissenschaftler Erich Auerbach ist dieser Frage nachgegangen und findet nach Prüfung der bekannten Einzelaspekte des Wirkens des Franz von Assisi folgendes entscheidende Argument: „[Er] hat die Phantasie des Volkes für Jahrhunderte befruchtet.“[2]
Um dieses Phänomen noch genauer zu verstehen, fragt Auerbach weiter: „Welche geheimen Kräfte verliehen ihm solche Gewalt über die Phantasie der Menschen, die damals lebten und handelten, dass sein Bild und sein Wesen ihr Leben und Handeln zu beunruhigen, zu durchkreuzen, zu verwandeln vermochten? Es gab, wie gesagt, damals Bußprediger genug, und, zudem muss man bedenken, dass es zu jener Zeit der Einbildungskraft an Nahrung nicht fehlte; die Kreuzzüge mit ihren gewaltigen Bewegungen, ihren abenteuerlichen Kriegstaten, ihrer phantastischen Anschwellung von Verkehr und Reichtum müssen die einfachen Menschen aufs leidenschaftlichste beschäftigt haben, und wenn die plötzliche Erweiterung des Gesichtskreises zu einer Kritik und Beunruhigung der heimischen Zustände führte, so musste das weit eher ketzerisch-revolutionären Strömungen zugutekommen als der unpolitischen und nur aufs Innerliche gerichteten franziskanischen Bewegung.“[3]
Schließlich fasst Auerbach zusammen, dass Franz von Assisi ganz im Sinne des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668-1744) ein „poetischer Charakter“ gewesen sei, „weil er ganz und gar bildlicher Ausdruck seiner selbst geworden ist. Den inneren Impuls trieb er mit einer überirdisch glühenden, mit einer seraphischen Entschlossenheit in die äußere Erscheinung; er wurde zum sinnlich-geistigen Erlebnis, unvergesslich und unverwechselbar ein sichtbares Zeichen geheimer Seelendinge.“[4]
Und die wenigen von Franz von Assisi genau überlieferten Worte „tragen noch seine drängende und bei vieler Einfalt leidenschaftlich bewegte Geste in sich“[5]. Das zeigt sich insbesondere beim sogenannten Sonnengesang, „dieser ersten, unbeschreiblichsten Blüte des Volgare[6], in der die einfachste, unschuldigste, vertraulichste Liebe zum Irdischen ausatmet in dem vertrauten Gruß an den Tod, als sei auch er Kreatur, ein irdisches Ding, von Gott geschaffen und würdig des Ruhmes“[7].
Dieser Sonnengesang Cantico di frate sole bildet den Referenztext und ist namensgebend für den enzyklischen Text des Bischofs von Rom, Papst Franziskus, der in seinem Anregungs- und Auseinandersetzungspotenzial in den folgenden Einträgen in diesem Blog untersucht werden soll: Laudato si‘.
Über Entstehung und Praxis des Sonnengesanges berichten franziskanische Legenden. Demnach soll Franz von Assisi, von einer „schweren Lichtallergie“ befallen, sich selbst mit diesem Gesang aus seiner Not herausgesungen haben. Unmittelbar lehrte er „seine Gefährten, wie sie ihn singen und sprechen sollten“, so dass er zum „volksmissionarischen Lied der Minderbrüder“ und auch bei konkreten Anlässen der „Singseelsorge“ um Strophen erweitert wird. Zum Beispiel hat die dem Frieden gewidmete 8. Strophe des Gesanges einen politischen Streit zwischen Bürgermeister und Bischof von Assisi zum Hintergrund und die 9., dem Tod gewidmete Strophe, das Sterben des Heiligen selbst. Wie ein Chanson wurde der Sonnengesang also aktuell erweitert und gehört somit weniger in den liturgischen als in den seelsorgerlichen, fast diakonischen Bereich der Praxis.[8] Ja man kann den Sonnengesang als eine Art „poetische Stammzelle“[9] der gesamten Lebensweise des Franz von Assisi verstehen.
Trotzdem bzw. zugleich ist der Sonnengesang eben die „erste, unbeschreiblichste Blüte“ einer dichterischen Entwicklung der Volks- bzw. Nationalsprachen. „Assonanzen und Alliterationen, der ganze Rhythmus des italienischen Textes“[10] lassen den Klang eines Liedes erkennen. Im Vergleich mit biblischen Vorbildern des Sonnengesanges wie „Psalm 148“ und dem septuagintischen „Gesang der Jünglinge in Feuerofen“ aus dem Buch Daniel[11] wird deutlich, dass der Sonnengesang dem „enzyklopädischen Hang zur Vollständigkeit“[12] nicht folgt. Das aus Antike und Mittelalter bekannte „Vier-Elemente-Schema“ wird in den Strophen 4-7 erkennbar. „Aber es spielt hier nicht die Rolle einer naturphilosophischen Theorie, die alle Dinge aus der Trennung und Mischung der vier Elemente zu erklären versucht. Naturphilosophischen Untersuchungen dieser Art liegen dem Heiligen ebenso fern, wie die pythagoreische Mathematik bei der heilsamen Wirkung der Musik. Die vier Elemente erweisen sich nur als einleuchtendes Schema die Phänomene der sublunaren Welt anschaulich zu erfassen.“
Neu ist der „persönliche Ton“, der sich in „geschwisterlichem Wechsel durch den Gesang“ zieht: „frate sole, sora luna, frate vento, sor aqua, frate focu und schließlich sora nostra matre terra“.[13] Doch im Unterschied zu antiken Vorstellungen von mit den Elementen verbundenen Naturgottheiten, die in mythologischer Abstammung und konfliktreichen Auseinandersetzungen aneinander gebunden sind, sind sie bei Franz von Assisi allesamt „Kreaturen, Geschöpfe des ‚einen höchsten, allmächtigen, guten Herrn‘“, und als solche „Brüder und Schwestern des Menschen“. „Die Geschwisterlichkeit wird nicht von der gemeinsamen leiblichen Abstammung her gedacht – Franziskus‘ Bruch mit dem leiblichen Vater hat prototypischen Charakter –, sondern wie unter den minderen Brüdern und Schwestern, als freundliche Zuneigung und demütiger Dienst, als sozialisierter Animismus sozusagen.“[14]
Die Untersuchungen des Sonnengesanges durch den katholischen Theologen Alex Stock beschreiben genauer, was damit gemeint ist: „Der Schöpfer wird gelobt, dass die von ihm geschaffenen Dinge dem Menschen so schön und hilfsbereit zugeneigt sind. Er wird – das ist die Doppeldeutigkeit des italienischen per – der Geschöpfe wegen ebenso gelobt wie durch sie, durch ihre Selbstbeteiligung. Das Lob ist nicht die schlichte Umsetzung des Glaubensartikels, dass alles von Gott geschaffen ist, es geht vielmehr aus einer lebendigen Empfindung der Natur hervor, einer einzigartigen Sensibilität für die Freundlichkeit der Dinge.“[15]
In diesem quellliturgischen Zusammenklang fällt allerdings eine Fehlstelle deutlich auf. Im Sonnengsang hat die Liebe zu den Tieren keinen Platz gefunden. Und das obwohl zahlreiche Episoden aus dem Leben des Franz von Assisi belegen, „dass sie aus den laudes creaturarum mitnichten ausgeschlossen werden sollten. Hasen, Wölfe, Lämmer, Vögel, Fische werden selbstverständlich als Brüder und Schwestern angesehen, angeredet und behandelt“. Im Verhältnis zu den Tieren ist die „kreatürliche Empfindungsnähe“ am größten, zugleich aber mit „Jagd, Fang und Raubtierlichkeit die Gewalt am spürbarsten“ und bringt den elementaren franziskanischen „Wunsch nach Frieden und Freiheit der Geschöpfe“ zum Ausdruck.[16] Er ist von einer „spezifisch christliche[n] Färbung der Compassio“ geprägt, wenn Franziskus bei den kleinen Lämmern oder den Würmern am Boden an den Herrn Jesus Christus denkt, der so versinnbildlicht wurde (Jes 53, 7; Joh 1, 29; Ps 21, 7).“ Damit kehrt Franziskus „das theologische Verfahren, die Natur symbolisch zu nutzen, um, indem er den christologischen Sinngewinn den Geschöpfen, die dazu beigetragen hatten, zurückerstattet, indem er sie behandelt, als wären sie der Leib Christi selbst. Es ist eine Soteriologie die naiv und utopisch zugleich erscheint“.[17]
Nicht zuletzt dadurch bleibt der Sonnengesang des Franz von Assisi in von Verwaltung dominierten Kirchen und Theologien „nicht recht domestizierbar“[18]. In seiner „Heterotopie“ verursacht er wie die Bergpredigt ein hoffnungsvolles Wetterleuchten „am Horizont des kirchlichen Christentums“.[19]