In einem Vortrag aus dem Jahre 1975 erläutert der Schriftsteller Franz Fühmann anhand von drei sehr unterschiedlichen Beispielen das, was er „Das mythische Element in der Literatur“ nennt. Eines seiner Beispieltexte ist das „Abendlied“ von Matthias Claudius, das allseits bekannt ist als „Der Mond ist aufgegangen“.
Fühmanns Ausgangsfrage ist die Frage danach, woher die enorme Wirkung eines solchen Textes kommt. „Was ist es, dass einen da anrührt, bewegt, packt, fesselt, in Bann zwingt, ergreift, verwandelt, aufwühlt, verzaubert – was wirkt da […]?“1
Die naheliegende Antwort bringt die Aussage derartiger Texte ins Spiel. Das zieht die Frage nach sich, was denn da eigentlich ausgesagt wird. „Nehmen wir das Abendlied Zeile für Zeile, und wir werden zu unserem Erstaunen nichts finden, was wir nicht schon längst gewusst oder gekannt hätten. Da wird unter dem Titelhinweis, dass es sich um den Abend handelt, festgestellt, dass der Mond aufgegangen ist, dass die Sternlein hell und klar am Himmel prangen und dass die Sternlein golden sind, dass da, wo sich dieser Vorgang abspielt ein Wald steht, dass dieser Wald zu dieser Zeit schwarz ist und keine Laute mehr aus ihm dringen und dass aus Wiesen, die wir uns wohl diesem Wald vorgelagert zu denken haben, weißer Nebel steigt – ein Naturbild, wie es allabendlicher wohl nicht sein könnte und das auch heute noch für jeden bereit steht, der eine kleine Fahrt mit der S-Bahn nicht scheut.“2
Ein originales Erlebnis der im Gedicht geschilderten Szene derart nah gelegt zu bekommen wirkt ernüchternd. Und auch der folgende Gedankengang Fühmanns verbleibt in dieser Richtung. Er schlägt vor, diese Naturschilderung von Matthias Claudius als etwas zu nehmen, als etwas zu lesen, das etwas Geistiges vorbereitet, einen „poetischen Raum“ eröffnet, in dem Reflexionen stattfinden: „Die Welt sei stille geworden, vernehmen wir; sie sei in der Dämmerung auf das Maß einer Kammer geschrumpft; in einer solchen Kammer verspüre man anheimelnde Trautheit, weil man dort des Tages Jammer verschlafen und vergessen könne – das ist, bis hin zur Sorge um den kranken Nachbarn, wiederum durchaus Geläufiges; und wenn als einzige Ausnahme, die in ihrer Naivität heute, von den meisten nicht nachvollziehbare Claudiussche Herzensfrömmigkeit uns merkwürdig anmutet, so ist gerade sie das am wenigsten wirkende Element dieser Strophen, ja man ist sogar versucht, sie milde zu belächeln.“3
Doch die Frage bleibt: Wodurch wirkt also so ein Text? Fühmanns These zur Antwort auf diese Frage lautet: Durch „das mythische Element in der Literatur“4. Um diese These zu stützen, beginnt Fühmann zunächst, den Mythos von der Wirklichkeit zu unterscheiden: „Der Mythos ist offensichtlich das, was die Wirklichkeit nicht ist und erfahrbares Dasein mit seinen Gesetzen fängt dort an, wo der Mythos aufhört“5. Dennoch verweist der Mythos „nachdrücklich auf die Realität und berichtet doch fortwährend Irreales“6.
Eine der ältesten Belegstellen für das Wort ‚Mythos‘ findet sich bei Homer. Im 2. Gesang, Vers 413 seiner Odyssee steht es im Akkusativ: mía d’oíe mython akousen, eine allein hat den Mythos vernommen.
Als der Odysseus, der König von Ithaka, lange Zeit nicht von seinem Kriegszug nach Troja zurückkehrt und eine „Schar von Schmarotzern“ die Insel belagert, beschließt Odysseus‘ Sohn Telemach, den Vater zu suchen. Heimlich in der Nacht macht er sich auf den Weg mit wenigen Gefährten. Niemand weiß Bescheid, auch seine Mutter nicht. Außer einer Sklavin, die ihm das nötige Proviant vorbereitet, sie ist eingeweiht. „Nur eine weiß das Geheimnis“ – „nur eine hat das Wort vernommen“ – „nur eine weiß, wie sich die Sache verhält“ – so lauten berühmte Übersetzungen dieses Satzes und Franz Fühmann bevorzugt: Nur eine hat gehört, „was Sache ist“.7
Fragt man nach dem Ursprung bzw. der Urform so einer Sache, z.B. in Bezug auf das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“, so findet man zwar heraus, dass dieses 1774 geschriebene Gedicht „von einem gewissen Matthias Claudius aus Wandsbeck bei Hamburg“ stammt „und dass der kranke Nachbar, der darin vorkomm[t], Ignaz Huber geheißen und an Astma gelitten“ hat, aber man kommt der Sache damit kaum auf die Spur. Man erkennt lediglich, „dass sich ein konkret datierbares Gefühlserlebnis in einen Strom gleicher Empfindungen fügte“. Dieser Strom lässt sich im Zweifel nicht anders zuordnen als „entstanden im Urdunkel der Menschheit“.8
„Das, was man die Urform eines bestimmten Mythos nennen möchte, das ist weder zu entdecken noch zu rekonstruieren, man kann nur aus den verschiedenen Fassungen die übereinstimmenden Elemente herauspräparieren, die aber dann in ihrer Gesamtheit nicht mehr als eine formlose Bereitstellung bestimmter Gestalten, bestimmter Handlungen und bestimmter Attribute sind, eine Bündelung, die durchaus verschiedene Ausdeutungen zulässt, die erst durch die konkrete Gestaltung werthaltig werden.“9
„Ein Mythos ist also der Keim und all seine Entfaltung; gerade das Werden in stets neuer Gestaltung ist sein Leben; das Erstarren aber zu einem von nun ab als einzig gültig Bestimmten wäre sein Tod.“10
Die Frage nach dem Gegenstand des Mythos gestaltet sich für Fühmann ebenso schwierig, wie der nach seiner Urform bzw. seinem Ursprung. Fühmann verwendet das Bild einer Perle11 und lässt sie sich aus Erfahrungen bilden. Zum Beispiel: „Der Urmensch machte milliardenmal die Erfahrung, dass man mit einem Steinsplitter einen Tierbalg zertrennen kann und er hat sie milliardenmal mit jedem Steinsplitter immer wieder neu machen müssen, bis er zu der Erfahrungskonzentration gekommen ist: Mit einem Steinsplitter kann ich einen Tierbalg zertrennen; diese Dinger, die da herumliegen, sind Steinsplitter; also werde ich mit diesen Dingern da auch einen Tierbalg zertrennen können.“12
Von Alters her haben Menschen also Dinge ausprobiert mit Erfolg und auch ohne. Sie haben Erfahrungen gemacht, die in ihr Denken eingingen, es verändert haben. Diese Erfahrungen haben sich eingeschliffen, Ketten gebildet und sich so über Generationen erhalten. Das gilt für praktische Erfahrungen, wie die mit dem Stein und dem Tierbalg. Das gilt aber auch für den „Prozess des Kommens und Findens zu sich selbst“13, wenn gleich es sich dabei um anders gearteten Erfahrungen handelt. Diese sind Erfahrungen, „bei denen auf eine geheimnisvolle, nie ausschöpfbare und nie bis ins letzte darstellbare Weise das Subjekt des Erfahrenden als Innen wie Außen ebenso untrennbar mit dem Objekt der Erfahrung verschmilzt, wie das Was mit dem Wie des Erfahrens selbst“.
Zu diesen Erfahrungen tritt folgende Frage hinzu: „Empfinde ich so wie die anderen Menschen, bin ich wie sie, sind sie wie ich? Im Alltagsgeschehen gesellschaftlichen Umgangs, bei der Arbeit, auf dem Markt, im Ritus, beim Fest werden solche Fragen sofort durch gleich- oder ähnlich geartetes gemeinsames Reagieren beantwortet“.14
Bestimmte weitere Erfahrungen aber „rühren so heftig an das Menschsein, dass sie es erschüttert; ich kann danach nicht wie vordem mehr weiterleben, ich brauche, schon, damit ich sie überstehe, die Hilfe der Nachbarn, doch diese Erfahrungen sind eben von einer solchen Art, dass sie zu beschreiben schwer, ja unmöglich ist, und diese Kommunikationsqual gehört wesentlich mit zu ihrer Wucht. Ein jeder kennt solche Augenblicke, da man es nicht aushielte, allein zu bleiben, weil man im Ich wenn auch nicht das All, so eben doch die Menschheit erfährt.“15
In extremis meint Fühmann Erfahrungen, von denen Hiob schrie: „Wenn doch mein Gram, mein Leid gewogen würde auf einer Waage, ganz genau, so wäre es schwerer als aller Sand, der an den Küsten der Meere liegt“. Und gerade in der Gleichnishaftigkeit einer solchen Äußerung eröffnet sich die Möglichkeit des Mitteilens der Erfahrung: „Wie ich: Ich bin nicht mehr allein; das Gleichnis ist der dritte Ort, wo sich meine und seine Erfahrung als gemeinsame treffen.“16
„Der sein Gleichnis formt, um sein Leid zu bewältigen, stellt es zugleich zum Gebrauch für seine Brüder und Schwestern bereit, die der Gabe solchen Artikulierens nicht teilhaftig sind, und er hilft ihnen, in ebendem Maße, in dem er rückhaltlos sagt, ‚was ist‘“.17 Genauer gesagt: „Was Sache ist“18.
In der Literatur ist das mythische Element also „jenes Ingrediens, das bestimmte Worte und Handlungskompositionen so überwältigend wirken und zugleich das Was und Wie dieses Wirkens begrifflich unerklärbar macht“. Das Außen und das Innen der Erfahrung ist zu einem „So ist es“ verschmolzen. Wollte man es erklären, so könnte man es nur „wortwörtlich noch einmal“ aussprechen.19
Das Abendlied von Matthias Claudius, „Der Mond ist aufgegangen“ birgt nach Ansicht von Franz Fühmann die „[e]ntsetzliche Ahnung, dass eine Welt, die allen noch heil scheint, einen Riss hat, durch den Kälte strömt. – Es wird kalt in dieser trauten Welt, und die Seele beginnt zu frieren“20. Dies wird offenbar, wenn man, wie Fühmann, die Schlussstrophe von Claudius mit der des Abendliedes „Nun ruhen alle Wälder“ von Paul Gerhard vergleicht, die Claudius als Muster dient.
Auch euch, ihr meine Lieben,
Soll heute nicht betrüben
Kein Unfall noch Gefahr
Gott lass euch ruhig schlafen,
Stell euch die güldnen Waffen
Ums Bett und seiner Engel Schar!
„Das ist gedichtet im Dreißigjährigen Krieg, aber da ist die Welt noch heil, und die Seele fühlt sich geborgen in Gottes Hand.“21
So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns Gott mit Strafen,
Und lass uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!
„Sie merken den Unterschied; es sind zwei Welten. Gerhards Gedicht soll man nicht gering schätzen, es ist schön, hold, ein Juwel in der Schatzkammer unserer Dichtung, allein es fehlt ihm eben das, wodurch wir ein Stück Literatur unsterblich in der Gewissheit nennen, dass sein Wort auch in kommenden Zeiten die Leser überwältigen wird. Ich glaube, es fehlt ihm das mythische Element. Und nun beachten Sie bitte, wie dieses Element – die Ahnung eines Kälteeinbruchs – bei Claudius das ganze Gedicht durchdringt und nicht etwa nur in der viertletzten Zeile als Behauptung gesagt wird. Wäre es nur diese Feststellung, dann spürten wir nicht die Kälte, die so schauerlich – weil kaum wahrnehmbar und doch durchdringend – die Innigkeit dieses Gebildes durchzieht und die in jeder Strophe da ist, als Einheit eines Widerspruchs da ist […]“22
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Diese Strophe scheint Franz Fühmann Lügen zu strafen, es beginnt „innig und heil“. Doch ermuntert er dazu, dem Nebel zu zusehen, seinem Steigen und Heranwallen: „sehen Sie’s?“
„Der Nebel steigt, und nun geht es in die zweite Strophe und da steht die trauliche Kammer in einer Schwärze, durch die langsam ein Brodem herankriecht, und diese holde Kammer Welt ist wie die holde Kammer Seele voll von allem Jammer der Menschheit – draußen ist’s still, aber drinnen stöhnt es, in dieser Kammer, aus der man noch den Mond gesehen hat und die sich jetzt schließt, die dicht wird – und Sie mögen es nicht für ein Hirngespinst halten, wenn mir das Wort GASKAMMER da einfällt, natürlich hat Claudius das nicht gekannt und nicht gewollt und nicht geahnt, aber dass man Auschwitz in sein Gedicht einfügen kann, zwar mit Entsetzen, doch ohne ihm Gewalt anzutun, eben das ist die Quell- und Keimkraft eines mythischen Elements. Es wirkt wie ein Sauerteig, es macht das Gedicht weit auch für unsere Erfahrung; darin besteht die sonst unbegreifliche Wirkung der Kunst über Jahrhunderte[.]“23
Und Fühmann schlägt vor, das Abendlied wiederholt zu lesen, es mit anderen Gedichten zu vergleichen. Er erinnert an die Widersprüchlichkeit von Worten wie ‚der Wald steht schwarz und schweiget‘, Worte, in denen Jahrhunderte alte Erfahrung von „Anheimelung und Schrecken“ gespeichert ist, „beides zugleich“.24
Er macht aufmerksam auf Silben und Interpunktion. Er klopft das Gedicht ab, befragt es genau: „[W]ie zum Beispiel die Rufzeichen in der letzten Strophe auf Gott einhämmern – das sind Schreie, die der sanfte Sänger da ausstößt: ‚Verschon uns Gott – Rufzeichen – mit Strafen, und lass uns ruhig Schlafen – Rufzeichen – und unsern kranken Nachbar auch – Rufzeichen – und damit schließt das Abendlied, mit einem Schmerzensschrei, nicht mit einer Bitte, und ist doch geflüstert[.]“25