Jütland, hoher Himmel, Dünen. Ein Mann steht dort im Dünengras. Er trägt einen Mantel über den Schultern und ruft in den Wind: Weh Euch, ihr Heuchler … Wenig später, beim unverhofften Antrittsbesuch des neuen Pastors auf dem Bauernhof Borgensgaard, erfahren wir: Es ist Jesus von Nazareth.
Sein Vater und seine Brüder rufen Ihn Johannes. Sie sind tief besorgt über seinen geistigen Gesundheitszustand1, darüber, dass er sich für Jesus Christus hält, in Bibelworten zu ihnen spricht: Ich bin das Licht der Welt, und dazu Kerzenleuchter ins Fenster stellt.
Befremdlich erscheinen seine umherirrenden Bewegungen im Raum, die nicht recht in die Einrichtung des Hauses passen wollen. „Dieser Christus ist nicht mehr die Hostie, nicht mehr das Opferlamm, sondern der Idiot oder der Vagabund; er lebt in einer entvölkerten Welt und lässt in seiner langsamen monotonen Rezitation ganz einfach das Wort der Zeit hören.“2
Er agiert auch nicht wie ein Schauspieler, der Christus spielt, vielmehr erscheint er wie ein Komparse (figurant)3, ein „Idiot vom Dienst“, der durch seine „rätselhafte oder peinliche Imitation Jesu“, aber doch ein wenig „Gnade eindringen lässt in diese harte, kleinkarierte, moralische Welt“4.
Seine „evangelische Verrücktheit“, bringt etwas „Licht und ein befremdliches Geheimnis“ in die Welt. Ihre „sinnliche und dramatische Wirkung“ ist ein Anhalten, ein „Aufheben (suspension) der Zeit“.5
„Ohne Zweifel ist Johannes Gott näher als die Christen, die ihn umgeben“6, sagt der dänische Regisseurs des Films Ordet (Das Wort), Carl Theodor Dreyer (1889-1968). Und so sagt es auch Johannes‘ Schwägerin, Inger, im Film.7
Und sie ist es, die den Plot des Films atemberaubend zum Kippen bringt. Sie stirbt bei der Geburt ihres dritten Kindes und stürzt das Haus in verzweifelte Trauer. Nach einem Zusammenbruch am Totenbett verschwindet Johannes, doch nicht ohne seine Nichte Maren beruhigt zu haben: Sie solle sich um den Tod ihrer Mutter nicht sorgen, er werde sie auferwecken, wenn man ihn ließe.
Während der Totenwache kehrt er plötzlich zurück und begrüßt seinen Vater. Als Johannes ihn als seinen Vater anspricht, versteht der sofort, dass er wieder bei Verstand ist und nicht mehr Jesus. Johannes bestätigt. Er steht vorm offenen Sarg seiner Schwägerin. Da ergreift Maren die Hand ihres Onkels und flüstert ihm zu, er solle sich beeilen.
Als Johannes ankündigt, er wolle Inger ins Leben zurückrufen, wenn ihm Gott das rechte Wort dazu gebe, hält der Arzt den zum Protest anhebenden Pfarrer zurück. Johannes ruft seine Schwägerin ganz schlicht im Namen Jesu Christi dazu auf, sich zu erheben. Worauf sich nach einer gespannten Weile ihre Hände regen und sie kurz darauf in den Armen ihres am Sarg stehenden Mannes liegt, ihn küsst und sagt: Leben!
Im zweiten Band seines Kinobuches beschreibt der französische Philosoph Gilles Deleuze, dass Carl Theodor Dreyer mit seinen letzten beiden Filmen, Ordet und Gertrud (1964), ein „neues Kino“ begründet hat, denn „je weniger die Welt menschlich ist, desto eher kommt es dem Künstler zu, an die Beziehung zwischen Mensch und Welt zu glauben und die anderen zu diesem Glauben zu veranlassen“. Das „kinematografische Bild“ zeigt „uns das Band zwischen Mensch und Welt“ auf, indem es das „Denken[] des Undenkbaren“ zeigt.8
Das Denken selbst ist in Ordet „zur toten und kataleptischen jungen Frau geworden: der Wahnsinnige der Familie gibt ihr Leben und Liebe zurück, gerade deswegen, weil er nicht mehr wahnsinnig ist, nämlich sich nicht mehr einbildet, von einer anderen Welt zu sein, und weil er nun weiß, was glauben bedeutet“9.
„[E]s ist das Unmögliche, das nicht anders als in einer Glaubenshaltung zurückkehren kann. Der Glaube richtet sich nicht an eine andere oder verwandelte Welt. Der Mensch ist in der Welt wie in einer rein optisch-akustischen Situation. Die dem Menschen verlorengegangene Reaktion kann einzig durch den Glauben ersetzt werden. Allein der Glaube vermag den Menschen an das zurückzubinden, was er sieht und hört. Von daher ist es notwendig, dass das Kino nicht die Welt filmt, sondern den Glauben an die Welt, unser einziges Band. Man hat sich vielfach über die Natur der kinematographischen Illusion ausgelassen. Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben – dies ist die Macht des modernen Kinos (wenn es kein schlechtes mehr ist). Ob wir Christen oder Atheisten sind: in unserer universellen Schizophrenie brauchen wir Gründe, um an diese Welt zu glauben. Das bedeutet eine regelrechte Konversion.“10
Im bildlichen Zentrum stehen wiederum die Körper: Als in Ordet Mikkel weinend vor der Unmöglichkeit steht, sich von seiner gestorbenen Frau Inger zu verabschieden und sein Vater ihn ermahnt, erwidert er, dass er doch auch ihren Körper liebe. Wieder ins Leben zurückgekehrt küsst sie ihn sogleich leidenschaftlich.
Im kinematographischen Bild kann es nicht um die Präsenz von Körpern gehen, wie z.B. im Theater. Vielmehr geht es wieder um einen Glauben, „der in der Lage ist, uns die Welt und den Körper von dem aus, was ihre Abwesenheit bezeichnet, zurückzugeben“. Dazu ist „die Erfindung von Kamerabewegungen und –positionen, die der Genese der Körper entsprechen und ihre ursprünglichen Stellungen miteinander verketten“, unerlässlich.11
Dreyers Kameramann, Henning Bendsten, berichtet in einer Dokumentation über die Dreharbeiten zu Ordet von speziellen Kamerafahrten, die um Personen und Personengruppen herum gebaut wurden, und von der besonderen Sorgfalt, die er der Beleuchtung der Gesichter der beteiligten Personen und Personengruppen angedeihen ließ. Er behandle Gesichter wie Landschaften.12
Diese Aufnahmen von Gesichtern spielen auch in der Analyse von Deleuze eine besonders markante Rolle und setzen sie in ein neues Verhältnis zum Raum. Denn Dreyer vermeidet „das Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das jedes Gesicht in einem realen Verhältnis zu einem anderen Gesicht erhalten würde. Er isoliert „jedes Gesicht in einer Großaufnahme, die nur teilweise gefüllt wird“, um auf diese Art und Weise „aus der Stellung auf der linken oder rechten Seite unmittelbar eine virtuelle Verbindung“ abzuleiten, „die nicht mehr über eine wirkliche Verknüpfung zwischen den Personen verlaufen muss“.13
Dreyer selbst nennt diese Technik „fließende Großaufnahme“. Dabei geht „die Kamera in einer kontinuierlichen Bewegung von der Großaufnahme über in die Halbnahe zur Totale“. Das Besondere besteht darin, „die Halbnaheinstellung und die Totale mittels fehlender Tiefe und aufgehobener Perspektive wie Großeinstellungen zu behandeln“. Auf diese Weise bekommt jede beliebige Einstellung den „Status einer Großeinstellung“ und die „vom Raum stammenden Unterscheidungen verschwinden tendenziell“.14
Dadurch beseitigt Dreyer die „‘atmosphärische‘ Perspektive“ und erfindet „eine im eigentlichen Sinne zeitliche oder sogar spirituelle Perspektive“.15
Die Pointe dieser Analyse ist folgende: „Durch die Vernichtung der dritten Dimension bringt er [Dreyer] einen zweidimensionalen Raum in unmittelbare Beziehung zum Affekt, zu einer vierten und fünften Dimension: Zeit und Geist.“16
Dieser „spirituelle Affekt“17 eröffnet in unserem Zusammenhang von Bildschirmpraxis und Glauben ein konkretes bildtechnisches Forschungsfeld, das auf seine Bearbeitung wartet.