Wenn sich das Vaterunser in Luthers Tauf-Lied „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ spiegelt, stehen sich in der Form zwei Praktiken gegenüber: das Beten eines Gebetes und das Singen eines Liedes. Dabei hat das Beten im Falles des Vaterunsers auch die Ebene des Rezitierens eines Bibeltextes und das Singen von Luthers Tauf-Lied die Ebene des Nacherzählens biblisch-dogmatischer Überlieferung.

Diese Konstellation kann als eine Homiletische – also auf die sogenannte Verkündigung bezogene – identifiziert werden, allerdings als eine Homiletik jenseits der Predigt. Interessanter erscheint es jedoch, diese Konstellation als eine Öffnung des Denkens zu verstehen.

In einem Interview macht sich Jean-Luc Nancy „Für ein gemeinsames Denken“ (Pour une commune pensée)[1] stark und beginnt beim alten Gegensatz zwischen Gedanke bzw. Denken und Aktion. Bei einer Betonung und auch Notwendigkeit von Aktion könne man jedoch nicht übersehen, dass jede Aktion ein Denken voraussetzt. Und das insbesondere heute, wo wir keine mögliche, wahrscheinliche, vernünftige oder gar rationale Zukunft vorstellen können.

Unsere Gesellschaften sind in einem schlechten Zustand. Nancy geht so weit zu sagen, dass wir bereits dabei sind, die Zivilisation zu wechseln. Und das verlangt eine größere Anstrengung des Denkens, als sie von allen, die uns vorausgegangen sind, gefordert war. Von Vielen wird diese Forderung an die Institutionen gestellt, die traditionell für das Denken zuständig sind. Davon haben wir heute im Wesentlichen drei.

Das sind die Akademien, die Universitäten und die Think Tanks. Die Akademien sind vielleicht die ältesten Institutionen der westlichen Geschichte von Plato’s Akademie angefangen, über die Akademien der Renaissance bis hin zu den Akademien der Wissenschaften heute. Sie haben an entscheidenden Stellen der Geschichte bedeutende Rollen gespielt. Heute bleibt von ihnen nicht viel mehr als das, was man Akademismus nennt. Universitäten sind seit ihrer Gründung im Mittelalter und ihrer deutschen Erneuerung zu Beginn des 19. Jahrhundert ebenfalls ein bedeutender Ort des Denkens. Heute allerdings sind sie zu Orten beruflicher Ausbildung gerade noch höheren Grades geworden. Die Think Tanks, die das Denken (think) in ihrem Namen tragen und etwas (tank), was eher an schwere Gerätschaften der Industrie und des Kommerzes oder der Rüstung denken lässt, kommt aus dem Lobbying und praktiziert eine Art permanenter Wiederverwertung (recyclage permanente) von bereits aus unserer Kultur Bekanntem.     

Es braucht also etwas Anderes. Ob öffentliche oder private Ausformungen von Institutionen, die sich unter den drei genannten subsummieren lassen sind aus dem Spiel. Sie bezeichnen den „Geist einer Welt ohne Geist“. In diesem Zusammenhang rufen Einige die Religion auf. Aber die Religionen, selbst wenn sie aus einem tiefen Anspruch (exigence) des Denkens und starken Veränderungswillen der Welt geboren sind, bieten doch als Religion nicht zu denken an, sondern zu glauben. Das ist nicht nur verschieden, sondern eher entgegengesetzt.

Dieser Analyse folgende schlägt Jean-Luc Nancy weder eine Institution noch eine Religion vor, ja nicht einmal eine Philosophie, die immer missverstanden werden kann als eine Quasi-Religion, als eine Art Wissens- oder Anschauungssystem.

Das, was Nancy vorschlägt, ist tatsächlich etwas Anderes, nämlich ein gemeinsames Denken (commune pensée): Diesen Ausdruck möchte er in zweierlei Weise verstanden wissen: Zuerst als das gemeinsame Denken (pensée commune) und dies nicht im Sinne eines banalen Denkens (pensée banale), sondern im Sinnes dessen, was ein/e jede/r anerkennen könnte als allen zugehörig, was also jede/r denkt bzw. denken kann und somit einen Sinn öffnen und diesen  einer/m anderen anbieten, teilen und in Umlauf (circuler) bringen kann.

Für die zweite Weise des Verstehens von gemeinsames Denken werden die Rollen zwischen Substantiv und Adjektiv umgedreht: (der, die) das gedachte Gemeinsame (la commune pensée). Das Gemeinsame – la commune – nicht nur im Sinne der Pariser Kommune von 1789, also zuerst als bürgerliches Gemeinsames im zivilen Sinne der Befreiung aus der Feudalität, sondern auch im weiteren Schritt von 1871 also im Sinne einer Befreiung von dem, was im Second Empire daraus geworden ist; in beiden Fällen ist durch diese Daten ein Impuls markiert in Richtung von etwas, das sowohl über das Private als auch über das Kollektive, ebenso wie über das Isolierte und das Angeworbene hinausgeht.

Dies lässt sich am ehesten beschreiben als Teilen des Gemeinsamen durch jede/n einzelnen und durch alle. Man könnte sich also die Aufgabe stellen, zu denken, was dieses Wort gemeinsam (commune) nicht nur heute, sondern morgen oder übermorgen bedeuten könnte. Und dabei an etwas denken, was weder eine Gesellschaft, noch ein Staat, noch ein Eigentum oder alles, was man mit Recht beschreiben könnten, ist; also auch keine Bruderschaft oder Gemeinschaft.

Vielleicht am ehesten das Gemeinsame, das gerade nicht Gemeinschaft (communauté) ist – oder jedenfalls nicht das, was man heute kommunitaristisch nennt…

Das Gemeinsame denken bzw. das gemeinsame Denken, das ist die Aktion des Denkens, der wir uns heute stellen müssen.